Befreiungstheologische Impulse

Utopisch denken ist sinnvoll und vernünftig!

von Norbert Arntz
Schwerpunkt
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1. Die Utopie läßt sehen, was nicht ist

Wer den Himmel auf Erden erträumen kann, wird die Hölle auf Erden für überwindbar halten. Von dieser Utopie läßt sich die Befreiungstheologie inspi­rieren.

Der Traum des alten Juden Jesaja, daß Speere zu Winzermessern und Schwerter zu Pflugscharen umge­schmiedet werden (Jes. 2,5ff.), ist nicht überholt. Wir haben mit dem gleichen Traum zu tun. Jesaja sagt eine Wahrheit, an der auch wir Anteil haben wollen. Wir binden uns zurück an die unabge­goltenen Hoffnungen der Kinder Abra­hams. Wir erinnern uns der Utopie "Schwerter zu Pflugscharen" mit allen abrahamitischen Minderheiten heute. Wie sie sehnen wir uns in Tat und Wahrheit nach einer Welt, in der alle le­ben können. Biblischer Glaube ist es, der uns glauben macht, daß es für un­sere Welt ein Heilmittel gibt. Wer aber das Heilmittel in eine jenseitige Welt verlegt, der glaubt nicht mehr daran, daß unsere Welt geheilt werden kann.

Die Botschaft des Propheten ist klar: Gottesdienst, Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen. Die Arbeit für Ge­rechtigkeit und Friede, das ist bereits Gottesdienst. Niemals kann der Kult als Ersatz für Gerechtigkeit dienen. "Unrecht und Gottesdienst ertrage ich nicht. Eure Feiertage sind mir in der Seele verhasst." heißt es wenige Ab­schnitte zuvor (vgl. Jes. 1,12ff.). Doch wo das Haus Gottes zum Lehrhaus des Gewissens wird, da ereignet sich Gottes Dienst an unserer Befreiung.

Gottes Reich fällt ja nicht vom Him­mel. Gottes Reich kommt durch uns, die Gott braucht. Darum stimmen Christin­nen und Christen stets wieder das Reich-Gottes-Gebet Jesu an, das "Vater-unser": Dein Reich komme, Dein Wille geschehe - durch uns, die du brauchst.

Die Vision des Juden Jesaja und das Reich-Gottes-Gebet des Juden Jesus träumen von der Neuen Erde: Die Neue Erde ist "diese Erde ohne den Tod". Alle Leidenden werden getröstet; ein großes Festessen gegeben.

Jesu und Jesajas Traum zielt nicht dar­auf, daß der Hunger ganz verschwindet. Wo es keinen Hunger mehr gibt, da ist auch kein Essen mehr nötig. Jesu und Jesajas Traum malt sich vielmehr aus, wie aller Hunger gestillt und alle Trä­nen getrocknet werden. Deshalb stellt er das sinnenfrohe, völkerverbindende Fest und das reichhaltige Gastmahl dem Hunger und dem Leiden entgegen.

Die Waffen werden in lebenschaffende Arbeitsinstrumente umgeschmiedet. Daran können wir das Kommen des Gottesreiches erkennen. Tötungsinstru­mente werden umgeschmiedet zu Le­bens-Mitteln, um Nahrungsmittel zu schaffen und den Hunger zu sättigen. So sinnlich, so materialistisch ist Gottes Reich zu verstehen. Das heißt umge­kehrt: Wo die Schwerter nicht zu Pflug­scharen umgeschmiedet werden, kommt Gottes Reich nicht, wird das Kommen des Gottesreiches zumindest hinausge­schoben!

Wahrhaftig, schlecht an der Armut ist nicht der Hunger. Der Hunger hat seinen Sinn. Schlecht ist, wenn der Hunger nicht mehr gestillt werden kann. Hunger und Befriedigung der Sinne sind die zwei Seiten der einen Münze des Le­bens. Die Freude in Fülle bedarf des Hungers. Der Hunger gehört zur Freude. Hunger zu haben, ist gut, wenn ein gutes Essen ihn stillt. Ohne vorherigen Hun­ger nützt das beste Essen nichts. Die Armut im Sinn des verzweifelten Hun­gers entsteht, weil man nicht satt werden kann. Weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Hitze sind schlechte Erfah­rungen. Aber wenn es auf den Hunger nichts zu essen gibt, auf den Durst nichts zu trinken, auf die Kälte keine angenehme Wärme folgt und die Hitze keine erfrischende Brise findet, dann zeigt sich das elende Gesicht der Armut. Wo man den Hunger von der Sättigung trennt, entsteht das Unheil. Armut und alle Art von Ausbeutung oder Krieg ge­gen die Armen kann man daran erken­nen, daß Hunger und Sättigung vonein­ander getrennt werden. Die Unterbre­chung der Versorgungsflüge nach Sara­jevo ist dafür ein beredtes Beispiel. Daß der sinnliche Hunger von der sinnlichen Sättigung nicht mehr getrennt werde, das ist für Jesaja wie für Jesus das men­schliche Leben in Fülle.

Die Utopie denkt sich das menschliche Leben in Fülle so, daß die Trennung des sinnlichen Hungers von der sinnlichen Sättigung aufhört. Weil sie spürt, daß diese Trennung den Tod ins Leben holt, denkt sie das menschliche Leben und unsere Erde ohne den Tod. Die Utopie träumt von der Spontaneität gegensei­tiger Anerkennung aller Menschen in einer lebendigen Natur, die Freundin des Menschen ist. Deshalb beschreibt die Utopie auch die Natur ohne den Tod, wo die Natur den Wünschen der Men­schen entspricht und ihnen ein Zuhause bietet, wo die Härte der Arbeit ver­schwindet und sich in ein Spiel von physischen und geistigen Kräfte ver­wandelt, wo die Arbeit zur reinen Krea­tivität, der Rhythmus von Anstrengung und Entspannung zur Harmonie gewor­den ist.

2. Die Utopie ermutigt zu ändern, was ist

Wer solchen Himmel auf Erden nicht erträumen kann, wird die Hölle auf Er­den für unvermeidlich halten. Wer aber den Himmel auf Erden träumt, wird die Hölle auf Erden für überwindbar halten. Der Traum der Juden Jesus und Jesaja gerät zur gefährlichen Erinnerung. Diese sprengt die Mauern des Selbstver­ständlichen. Der Traum der Juden Je­saja und Jesus führt uns vor Augen, was nicht ist, um das, was ist, zu verändern.

Immer wieder regt diese Utopie Men­schen tagtäglich zu einem grundlegen­den Wandel an: Sie verändern sich von passiven Objekten zu Subjekten und Mitgestaltern der Zukunft. Weil das Sy­stem so viel Entfremdung hervorge­bracht und Menschen so schamlos als bloße Objekte behandelt hat, provoziert es eine entschlossene Reaktion auf Seiten derer, die bisher von solcher Ver­drehung nicht profitieren. Sie rebellie­ren, behaupten ihre Menschenwürde und werden zu entschiedenen Subjekten ih­rer eigenen Geschichte und ihres eige­nen Geschicks. Dies passiert - trotz der dreijährigen Schreckensherrschaft nach dem Putsch - gegenwärtig in Haiti; dies geschieht - trotz des Elends - gegen­wärtig in Peru; dies geschieht - trotz 500jähriger Unterdrückung - unüber­sehbar in Mexico.

Die Frauen, die in Peru Volksküchen organisieren und zugleich auf der Plaza de Armas demonstrieren; die Armen Haitis, die sich als "lavalas" zusammen­schließen und auf der Straße tanzend ih­ren Präsidenten Jean-Bertrand Aristide empfangen; die IndŔgenas von Chiapas, die seit dem 1. Januar 1994 ein laut ver­nehmliches "Basta" rufen - sie alle zei­gen, daß sie die Geschichte selber ma­chen wollen. Der Präsident in Haiti gaukelt seinen Landsleuten nicht die Vi­sion vor, den reichen Norden zu kopie­ren; er verspricht dem Volk, es aus dem Elend in eine menschenwürdige Armut zu führen. Die Campesinos von Peru haben nicht den Traum, Reichtümer aufzuhäufen. Sie haben aber den Traum, das Lebensnotwendige mitein­ander teilen zu können. Die Zapatisten in Mexico wollen keine Macht, nicht einmal die einer Stadtverwaltung: "Wir hoffen nicht auf den Nutzen einiger we­niger. Wir hoffen vielmehr auf Gerech­tigkeit, Würde, Demokratie und Frei­heit. Das einzige, was wir verlangen: daß man uns nicht umbringt, daß wir le­ben können wie die anderen in diesem Land."

Nur wer an Wunder glaubt, ist Realist. Wer in der organisierten Friedlosigkeit an das Wunder des Friedens glaubt, ist zu politischem Realismus fähig. Das Unmögliche nicht zu denken, ist un­möglich. Das haben wir in Deutschland doch vor fünf Jahren erlebt! Was wir im Sommer 1989 noch für unmöglich hiel­ten, wurde im Herbst 1989 in Deutsch­land und Osteuropa Wirklichkeit. Ohne die weltbewegende Kraft der Utopie, ohne den Glauben daran, daß Menschen Wunder wirken können, ist politischer Realismus nicht zu haben. Der Fall der Berliner Mauer überführt alle jene der Kurzsichtigkeit, die vom "Ende der Utopie" schwätzen.

3. Die Utopie macht politischen Re­alismus vernünftig

Politischer Realismus muß heute an eine Welt glauben, in der jeder einzelne Mensch seine Lebensmöglichkeit inner­halb eines Rahmens sichern kann, der die ökologischen Grundlagen des Le­bens - die Natur - zugleich mit sichert. Der Kernsatz solcher Weitsicht lautet: "So leben wollen, daß alle leben kön­nen". Alle, die nach dieser Alternative suchen, müssen sich darüber im Klaren sein, daß sie letztlich eine Neugestal­tung der westlichen Welt einklagen und damit deren Überwindung. Die Neuge­staltung hat von der Natur und vom Le­ben derer auszugehen, die von der west­lichen Zivilisation ausgeschlossen wer­den.

Darauf hat bereits der Indianerhäupt­ling Seattle in seiner berühmten Rede aufmerksam gemacht. Zwar versucht man heute den Text durch die Bemer­kung zu diskreditieren, sie sei nie ge­halten, sondern später dem Häuptling in den Mund gelegt worden. Ein solcher Versuch, schriftlose Traditionen abzu­werten, bestätigt nur einmal mehr, wie sich die okzidentale Welt ihrer funda­mentalen Kritiker zu entledigen sucht. Das gilt für die Juden Jesus und Jesaja ebenso wie für den Häuptling Seattle. "Wir wissen: Die Erde gehört nicht dem Menschen, vielmehr gehört der Mensch zur Erde. Wir wissen: alles ist mit allem verbunden, wie das Blut eine Familie eint [...] Alles, was man der Erde zufügt, fügt man auch den Kindern der Erde zu. Der Mensch hat das Gewebe des Lebens nicht gefügt; er ist nur dessen Kind. Was der Mensch dem Gewebe des Le­bens zufügt, das tut er sich selber an."

Der Häuptling fordert, es endlich zu unterlassen, die Natur und die anderen Menschen dem Kalkül von Kauf und Verkauf zu unterwerfen, und gibt damit zu verstehen, daß die okzidentale Kultur weder vernünftig oder realistisch noch pragmatisch vorgeht, obwohl sie stets genau dies behauptet. Die Forderung des Häuptlings ist heute das Gebot der Stunde.

Dieses Gebot impliziert nicht, eine aus­gearbeitete Alternative aus dem Ärmel zu schütteln. Kann etwa die Zerstörung des Amazonas oder des Himalaya einfach weitergehen, wenn wir noch keine aus­gearbeitete Alternative zur Hand haben? Je runder die Erde wird und je mehr deshalb alle aufeinander angewiesen sind, umso mehr führt der Ausschluss anderer Menschen zu einer Logik des Selbstmords. Ist diese kollektive Logik zu rechtfertigen, solange niemand über eine entwickelte Alternative verfügt? Wollen wir keine Selbstmörder sein, müssen wir aufhören, Mörder zu sein.

Eine Alternative ist nötig, und es ist das Problem aller, nach einer Alternative zu suchen. Solidarität heute besteht darin aufzuzeigen, daß es für die Menschheit kein Überleben gibt, wenn sie sich nicht darum bemüht, Alternativen zum herr­schenden System zu suchen. Niemals wird es eine Alternative nach Art eines fertigen Rezeptes geben. Alternativen produziert man nicht wie Würstchen, um sie dann auf dem Markt anzubieten. Alternativen gibt es nur, wenn die ganze Menschheit danach schreit, weil ihr klar ist, daß sie sie braucht. Es muß zunächst das Bewußtsein entstehen, daß wir ohne Alternative verloren sind. Dann werden wir auch Alternativen fin­den.

Solidarität muß - gegen ihre grund­sätzlichen Verächter - zeigen, daß sie auf der Menschenwürde jedes Men­schen besteht, und dazu beitragen will, daß die Menschenwürde wiederherge­stellt wird. Solidarität hat zu erklären, daß die Menschenwürde bestreitet, wer die Suche nach Alternativen leugnet. Umkehr vollzieht sich jedoch nur, wenn wir das Leben aller Ausgeschlossenen und "Überflüssigen" sichern. Das ist keine ethische Forderung, sondern die Grundlage aller Ethik.

Menschenwürde hat ihre Grundlage darin, als Mensch würdig leben zu kön­nen. Menschenwürde anzuerkennen, heißt also das Recht auf menschenwür­diges Leben anzuerkennen. Menschen­würdig leben heißt: Lebensmittel besit­zen, ein Haus haben, auf ärztliche Ver­sorgung rechnen, sich ausbilden können etc. Arbeit, die außerhalb der Markt­konkurrenz produziert, ist immer noch menschliche Arbeit; ein Produkt, das nicht unter den Bedingungen des wett­bewerbsbestimmten Marktes hergestellt wird, hat immer noch einen Gebrauchs­wert. Der Weizen, der außerhalb des Marktes wächst, ernährt auch, und der Mantel, der außerhalb des Marktes pro­duziert wird, wärmt. Wenn die Konkur­renz der Marktbedingungen nicht in der Lage ist, alle zu versorgen, muß man eben außerhalb der Konkurrenzbedin­gungen produzieren. Will man nach Alternativen suchen, sind sie hier zu finden. Nur wer den Himmel auf Erden erträumen kann, wird Alternativen zu den herrschenden Zuständen finden.

 

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Norbert Arntz ist Pfarrer der Diözese Münster, hat sechs Jahre in Peru gelebt und arbeitet heute in der Solidaritäts­bewegung.