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Befreiungstheologische Impulse
Utopisch denken ist sinnvoll und vernünftig!
von
1. Die Utopie läßt sehen, was nicht ist
Wer den Himmel auf Erden erträumen kann, wird die Hölle auf Erden für überwindbar halten. Von dieser Utopie läßt sich die Befreiungstheologie inspirieren.
Der Traum des alten Juden Jesaja, daß Speere zu Winzermessern und Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden (Jes. 2,5ff.), ist nicht überholt. Wir haben mit dem gleichen Traum zu tun. Jesaja sagt eine Wahrheit, an der auch wir Anteil haben wollen. Wir binden uns zurück an die unabgegoltenen Hoffnungen der Kinder Abrahams. Wir erinnern uns der Utopie "Schwerter zu Pflugscharen" mit allen abrahamitischen Minderheiten heute. Wie sie sehnen wir uns in Tat und Wahrheit nach einer Welt, in der alle leben können. Biblischer Glaube ist es, der uns glauben macht, daß es für unsere Welt ein Heilmittel gibt. Wer aber das Heilmittel in eine jenseitige Welt verlegt, der glaubt nicht mehr daran, daß unsere Welt geheilt werden kann.
Die Botschaft des Propheten ist klar: Gottesdienst, Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen. Die Arbeit für Gerechtigkeit und Friede, das ist bereits Gottesdienst. Niemals kann der Kult als Ersatz für Gerechtigkeit dienen. "Unrecht und Gottesdienst ertrage ich nicht. Eure Feiertage sind mir in der Seele verhasst." heißt es wenige Abschnitte zuvor (vgl. Jes. 1,12ff.). Doch wo das Haus Gottes zum Lehrhaus des Gewissens wird, da ereignet sich Gottes Dienst an unserer Befreiung.
Gottes Reich fällt ja nicht vom Himmel. Gottes Reich kommt durch uns, die Gott braucht. Darum stimmen Christinnen und Christen stets wieder das Reich-Gottes-Gebet Jesu an, das "Vater-unser": Dein Reich komme, Dein Wille geschehe - durch uns, die du brauchst.
Die Vision des Juden Jesaja und das Reich-Gottes-Gebet des Juden Jesus träumen von der Neuen Erde: Die Neue Erde ist "diese Erde ohne den Tod". Alle Leidenden werden getröstet; ein großes Festessen gegeben.
Jesu und Jesajas Traum zielt nicht darauf, daß der Hunger ganz verschwindet. Wo es keinen Hunger mehr gibt, da ist auch kein Essen mehr nötig. Jesu und Jesajas Traum malt sich vielmehr aus, wie aller Hunger gestillt und alle Tränen getrocknet werden. Deshalb stellt er das sinnenfrohe, völkerverbindende Fest und das reichhaltige Gastmahl dem Hunger und dem Leiden entgegen.
Die Waffen werden in lebenschaffende Arbeitsinstrumente umgeschmiedet. Daran können wir das Kommen des Gottesreiches erkennen. Tötungsinstrumente werden umgeschmiedet zu Lebens-Mitteln, um Nahrungsmittel zu schaffen und den Hunger zu sättigen. So sinnlich, so materialistisch ist Gottes Reich zu verstehen. Das heißt umgekehrt: Wo die Schwerter nicht zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, kommt Gottes Reich nicht, wird das Kommen des Gottesreiches zumindest hinausgeschoben!
Wahrhaftig, schlecht an der Armut ist nicht der Hunger. Der Hunger hat seinen Sinn. Schlecht ist, wenn der Hunger nicht mehr gestillt werden kann. Hunger und Befriedigung der Sinne sind die zwei Seiten der einen Münze des Lebens. Die Freude in Fülle bedarf des Hungers. Der Hunger gehört zur Freude. Hunger zu haben, ist gut, wenn ein gutes Essen ihn stillt. Ohne vorherigen Hunger nützt das beste Essen nichts. Die Armut im Sinn des verzweifelten Hungers entsteht, weil man nicht satt werden kann. Weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Hitze sind schlechte Erfahrungen. Aber wenn es auf den Hunger nichts zu essen gibt, auf den Durst nichts zu trinken, auf die Kälte keine angenehme Wärme folgt und die Hitze keine erfrischende Brise findet, dann zeigt sich das elende Gesicht der Armut. Wo man den Hunger von der Sättigung trennt, entsteht das Unheil. Armut und alle Art von Ausbeutung oder Krieg gegen die Armen kann man daran erkennen, daß Hunger und Sättigung voneinander getrennt werden. Die Unterbrechung der Versorgungsflüge nach Sarajevo ist dafür ein beredtes Beispiel. Daß der sinnliche Hunger von der sinnlichen Sättigung nicht mehr getrennt werde, das ist für Jesaja wie für Jesus das menschliche Leben in Fülle.
Die Utopie denkt sich das menschliche Leben in Fülle so, daß die Trennung des sinnlichen Hungers von der sinnlichen Sättigung aufhört. Weil sie spürt, daß diese Trennung den Tod ins Leben holt, denkt sie das menschliche Leben und unsere Erde ohne den Tod. Die Utopie träumt von der Spontaneität gegenseitiger Anerkennung aller Menschen in einer lebendigen Natur, die Freundin des Menschen ist. Deshalb beschreibt die Utopie auch die Natur ohne den Tod, wo die Natur den Wünschen der Menschen entspricht und ihnen ein Zuhause bietet, wo die Härte der Arbeit verschwindet und sich in ein Spiel von physischen und geistigen Kräfte verwandelt, wo die Arbeit zur reinen Kreativität, der Rhythmus von Anstrengung und Entspannung zur Harmonie geworden ist.
2. Die Utopie ermutigt zu ändern, was ist
Wer solchen Himmel auf Erden nicht erträumen kann, wird die Hölle auf Erden für unvermeidlich halten. Wer aber den Himmel auf Erden träumt, wird die Hölle auf Erden für überwindbar halten. Der Traum der Juden Jesus und Jesaja gerät zur gefährlichen Erinnerung. Diese sprengt die Mauern des Selbstverständlichen. Der Traum der Juden Jesaja und Jesus führt uns vor Augen, was nicht ist, um das, was ist, zu verändern.
Immer wieder regt diese Utopie Menschen tagtäglich zu einem grundlegenden Wandel an: Sie verändern sich von passiven Objekten zu Subjekten und Mitgestaltern der Zukunft. Weil das System so viel Entfremdung hervorgebracht und Menschen so schamlos als bloße Objekte behandelt hat, provoziert es eine entschlossene Reaktion auf Seiten derer, die bisher von solcher Verdrehung nicht profitieren. Sie rebellieren, behaupten ihre Menschenwürde und werden zu entschiedenen Subjekten ihrer eigenen Geschichte und ihres eigenen Geschicks. Dies passiert - trotz der dreijährigen Schreckensherrschaft nach dem Putsch - gegenwärtig in Haiti; dies geschieht - trotz des Elends - gegenwärtig in Peru; dies geschieht - trotz 500jähriger Unterdrückung - unübersehbar in Mexico.
Die Frauen, die in Peru Volksküchen organisieren und zugleich auf der Plaza de Armas demonstrieren; die Armen Haitis, die sich als "lavalas" zusammenschließen und auf der Straße tanzend ihren Präsidenten Jean-Bertrand Aristide empfangen; die IndŔgenas von Chiapas, die seit dem 1. Januar 1994 ein laut vernehmliches "Basta" rufen - sie alle zeigen, daß sie die Geschichte selber machen wollen. Der Präsident in Haiti gaukelt seinen Landsleuten nicht die Vision vor, den reichen Norden zu kopieren; er verspricht dem Volk, es aus dem Elend in eine menschenwürdige Armut zu führen. Die Campesinos von Peru haben nicht den Traum, Reichtümer aufzuhäufen. Sie haben aber den Traum, das Lebensnotwendige miteinander teilen zu können. Die Zapatisten in Mexico wollen keine Macht, nicht einmal die einer Stadtverwaltung: "Wir hoffen nicht auf den Nutzen einiger weniger. Wir hoffen vielmehr auf Gerechtigkeit, Würde, Demokratie und Freiheit. Das einzige, was wir verlangen: daß man uns nicht umbringt, daß wir leben können wie die anderen in diesem Land."
Nur wer an Wunder glaubt, ist Realist. Wer in der organisierten Friedlosigkeit an das Wunder des Friedens glaubt, ist zu politischem Realismus fähig. Das Unmögliche nicht zu denken, ist unmöglich. Das haben wir in Deutschland doch vor fünf Jahren erlebt! Was wir im Sommer 1989 noch für unmöglich hielten, wurde im Herbst 1989 in Deutschland und Osteuropa Wirklichkeit. Ohne die weltbewegende Kraft der Utopie, ohne den Glauben daran, daß Menschen Wunder wirken können, ist politischer Realismus nicht zu haben. Der Fall der Berliner Mauer überführt alle jene der Kurzsichtigkeit, die vom "Ende der Utopie" schwätzen.
3. Die Utopie macht politischen Realismus vernünftig
Politischer Realismus muß heute an eine Welt glauben, in der jeder einzelne Mensch seine Lebensmöglichkeit innerhalb eines Rahmens sichern kann, der die ökologischen Grundlagen des Lebens - die Natur - zugleich mit sichert. Der Kernsatz solcher Weitsicht lautet: "So leben wollen, daß alle leben können". Alle, die nach dieser Alternative suchen, müssen sich darüber im Klaren sein, daß sie letztlich eine Neugestaltung der westlichen Welt einklagen und damit deren Überwindung. Die Neugestaltung hat von der Natur und vom Leben derer auszugehen, die von der westlichen Zivilisation ausgeschlossen werden.
Darauf hat bereits der Indianerhäuptling Seattle in seiner berühmten Rede aufmerksam gemacht. Zwar versucht man heute den Text durch die Bemerkung zu diskreditieren, sie sei nie gehalten, sondern später dem Häuptling in den Mund gelegt worden. Ein solcher Versuch, schriftlose Traditionen abzuwerten, bestätigt nur einmal mehr, wie sich die okzidentale Welt ihrer fundamentalen Kritiker zu entledigen sucht. Das gilt für die Juden Jesus und Jesaja ebenso wie für den Häuptling Seattle. "Wir wissen: Die Erde gehört nicht dem Menschen, vielmehr gehört der Mensch zur Erde. Wir wissen: alles ist mit allem verbunden, wie das Blut eine Familie eint [...] Alles, was man der Erde zufügt, fügt man auch den Kindern der Erde zu. Der Mensch hat das Gewebe des Lebens nicht gefügt; er ist nur dessen Kind. Was der Mensch dem Gewebe des Lebens zufügt, das tut er sich selber an."
Der Häuptling fordert, es endlich zu unterlassen, die Natur und die anderen Menschen dem Kalkül von Kauf und Verkauf zu unterwerfen, und gibt damit zu verstehen, daß die okzidentale Kultur weder vernünftig oder realistisch noch pragmatisch vorgeht, obwohl sie stets genau dies behauptet. Die Forderung des Häuptlings ist heute das Gebot der Stunde.
Dieses Gebot impliziert nicht, eine ausgearbeitete Alternative aus dem Ärmel zu schütteln. Kann etwa die Zerstörung des Amazonas oder des Himalaya einfach weitergehen, wenn wir noch keine ausgearbeitete Alternative zur Hand haben? Je runder die Erde wird und je mehr deshalb alle aufeinander angewiesen sind, umso mehr führt der Ausschluss anderer Menschen zu einer Logik des Selbstmords. Ist diese kollektive Logik zu rechtfertigen, solange niemand über eine entwickelte Alternative verfügt? Wollen wir keine Selbstmörder sein, müssen wir aufhören, Mörder zu sein.
Eine Alternative ist nötig, und es ist das Problem aller, nach einer Alternative zu suchen. Solidarität heute besteht darin aufzuzeigen, daß es für die Menschheit kein Überleben gibt, wenn sie sich nicht darum bemüht, Alternativen zum herrschenden System zu suchen. Niemals wird es eine Alternative nach Art eines fertigen Rezeptes geben. Alternativen produziert man nicht wie Würstchen, um sie dann auf dem Markt anzubieten. Alternativen gibt es nur, wenn die ganze Menschheit danach schreit, weil ihr klar ist, daß sie sie braucht. Es muß zunächst das Bewußtsein entstehen, daß wir ohne Alternative verloren sind. Dann werden wir auch Alternativen finden.
Solidarität muß - gegen ihre grundsätzlichen Verächter - zeigen, daß sie auf der Menschenwürde jedes Menschen besteht, und dazu beitragen will, daß die Menschenwürde wiederhergestellt wird. Solidarität hat zu erklären, daß die Menschenwürde bestreitet, wer die Suche nach Alternativen leugnet. Umkehr vollzieht sich jedoch nur, wenn wir das Leben aller Ausgeschlossenen und "Überflüssigen" sichern. Das ist keine ethische Forderung, sondern die Grundlage aller Ethik.
Menschenwürde hat ihre Grundlage darin, als Mensch würdig leben zu können. Menschenwürde anzuerkennen, heißt also das Recht auf menschenwürdiges Leben anzuerkennen. Menschenwürdig leben heißt: Lebensmittel besitzen, ein Haus haben, auf ärztliche Versorgung rechnen, sich ausbilden können etc. Arbeit, die außerhalb der Marktkonkurrenz produziert, ist immer noch menschliche Arbeit; ein Produkt, das nicht unter den Bedingungen des wettbewerbsbestimmten Marktes hergestellt wird, hat immer noch einen Gebrauchswert. Der Weizen, der außerhalb des Marktes wächst, ernährt auch, und der Mantel, der außerhalb des Marktes produziert wird, wärmt. Wenn die Konkurrenz der Marktbedingungen nicht in der Lage ist, alle zu versorgen, muß man eben außerhalb der Konkurrenzbedingungen produzieren. Will man nach Alternativen suchen, sind sie hier zu finden. Nur wer den Himmel auf Erden erträumen kann, wird Alternativen zu den herrschenden Zuständen finden.