Ein Krieg, der mehrere Präzedenzfälle und Weichenstellungen geschaffen hat

Verdrängte Wirklichkeit im Kosovo

von Thomas Handrich
Schwerpunkt
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Der Kriegseinsatz der NATO im Kosovo war in mehrfacher Hinsicht ein Präzedenzfall. Erstmals beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 1999 an einem Kampfeinsatz - und brach damit den im September 1990 geschlossenen 2+4 Vertrag. (1) Angeführt von den USA entschied sich die NATO ohne UNO-Mandat für einen Angriffskrieg aus der Luft gegen das von Milosevic regierte Rest-Jugoslawien. Das verletzte nicht nur das Völkerrecht: Kein militärisches Eingreifen in souveräne Staaten ohne UNO-Mandat. Es widersprach auch dem NATO-Statut, das militärische Aktionen nur vorsieht, wenn ein Mitgliedsland angegriffen wird. Begründet wurde der Kriegseinsatz in Deutschland und den USA als notwendige humanitäre Intervention, weil Kosovo-Albaner*innen von serbischen Einheiten systematisch vertrieben und ermordet würden. Der Genozid von Srebrenica (2) dürfe sich nicht wiederholen.

Bereits in der ersten Kriegsnacht wurden Ziele in ganz Jugoslawien angeflogen. Das machte die Maxime obsolet, die Kanzler Helmut Kohl Anfang der 1990er Jahre ausgegeben hatte: Deutsche Soldaten sollten niemals in Gebieten zum Einsatz kommen, die Deutschland in der NS-Zeit besetzt hatte. Seit dem Kosovokrieg war die Bundeswehr in zahlreichen Konfliktgebieten im Einsatz. Auch die USA entscheiden seither selbst, wo sie militärisch eingreifen – mal mit und mal ohne Mandat der UNO. So geriet Multilateralismus in den internationalen Beziehungen immer stärker in die Defensive. Die Macht des Rechts wurde durch das Recht des Stärkeren ersetzt. (3)

Dieses Prinzip fand Nachahmer. Israel führte 2006 Krieg im Libanon, Russland besetzte 2014 die Krim und befeuert seither auch den militärischen Konflikt im Osten der Ukraine. Die aktuellen Angriffe der Türkei auf Nordsyrien und ihre Beteiligung am Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Nagorny-Karabach passen ebenfalls in dieses Muster.

Die „Humanistische Intervention“ fand ebenfalls Nachahmer: Das neue Konzept der Schutzverantwortung weichte das Gewaltverbot auf. So nutzten z. B. Frankreich und Großbritannien im Libyen-Krieg die Chance, über ihr UN-Mandat zum Schutz der Bevölkerung hinaus militärisch einen Regimewechsel zu erzwingen. (4)

Während die NATO-Intervention in Serbien die Macht des Regimes von Milosevic 1999 kurzfristig stärkte und sich in der Politik dauerhaft nationalistische Opfererzählungen des serbischen Volkes verfestigten, begrüßte die große Mehrheit der Kosovo-Albaner*innen die militärische Intervention und tut das bis heute. Seit 1998 hatte sich die Region in einem Krieg zwischen der kosovarischen Befreiungsarmee UCK und serbischen Sicherheitskräften befunden.

Der Konflikt hatte freilich eine viel längere Vorgeschichte: Im Jahr 1989 hatte Milosevic den Autonomiestatus des Kosovo aufgehoben und Kosovo-Albaner*innen wurden aus dem öffentlichen Leben ausgesperrt. Sie organisierten sich - zunächst friedlich - in einer Parallelgesellschaft im Untergrund. Mit dem Ende des Krieges am 5. Juni 1999 endete ihre Unterdrückung endlich. Der Kosovo wurde unter UNO-Schutz gestellt, internationale Polizeikräfte und die NATO sollten die Sicherheit garantieren und helfen, ein neues Kosovo in Demokratie und Wohlstand zu errichten. Mit Unterstützung der USA erklärte das Kosovo im Jahre 2008 seine Unabhängigkeit, die von vielen Staaten bis heute nicht anerkannt wird.  

Kosovo heute – keine Erfolgsgeschichte
Kosovo ist heute ein Armenhaus in Europa - obwohl in den vergangenen 20 Jahren immense Geldströme zum Wiederaufbau geflossen sind. Insbesondere junge Menschen finden keine Arbeit, ohne Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland wäre die Lage noch schlimmer. Das Land ist aufgeteilt in kosovarische und serbische Nationalist*innen. Produziert wird fast nichts. Die korrupte Elite hat sich nach dem Krieg das Volkseigentum einverleibt und verdient kräftig mit bei allen Infrastrukturprojekten - manchmal in Kooperation mit den internationalen Statthalter*innen, wie der Autobahnbau zeigt. (5) Während Belgrad die serbische Minderheit unterstützt, sind die meisten Roma, Ashkali und Ägypter*innen sehr arm, wenn sie nicht das Land verlassen haben. (6) Sie leben zum Beispiel neben Kraftwerken, sind extremer Umweltverschmutzung ausgesetzt und ohne Chance, in den wenigen Fabriken Arbeit zu finden. Sehr viele Menschen hegen den Wunsch, auszuwandern. Doch die äußerst magere Bilanz des internationalen Engagements liegt im toten Winkel – erzählt wird eine Erfolgsgeschichte, die keine ist. Auch die Statusfrage des Kosovo ist bis heute ungelöst.

Was aus dem Kosovo-Konflikt gelernt werden könnte?
Durch ein gutes Frühwarnsystem und den Willen zu raschem Handeln internationaler Akteure können Gewaltausbrüche verhindert werden. Es gibt hierfür auch Instrumente: So kann die intensive Förderung zivilgesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen in der Konfliktregion in noch nicht eskalierten Phasen des Konfliktes Friedensallianzen stärken. In einem fortgeschrittenen Stadium können robuste Blauhelmeinsätze zu einem Stopp der Gewaltspirale beitragen. (7)

Zustande kommen diese nur, wenn der Wille zum Multilateralismus, d.h. zu einem gemeinsamen Vorgehen unter dem Dach der UNO, gesucht wird. Das hätte damals die Einbeziehung Russlands, der Schutzmacht Restjugoslawiens, in die Verhandlungen bedeutet. Auf diese wurde verzichtet. „Wer aber auf das Recht des Stärkeren setzt, darf sich nicht wundern, wenn bestehende Rechtsordnungen aus den Fugen geraten. Als moralischer Wohltäter und Idealist, der die Welt uneigennützig mit der Waffe in der Hand verbessern will, sollte er sich besser nicht gerieren. Er ist es nicht. Er ist vielmehr ein Kriegstreiber, den das übergehängte Mäntelchen des moralisch agierenden Gutmenschen nur notdürftig kaschiert. Ganz gleich, welches Selbstbild er von sich hat.“ (8)

Anmerkungen
1 „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären im September 1990, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ (Art.2 Satz 3)
2 Im Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten die Stadt Srebrenica ein, und unter den Augen von UN-Blauhelmsoldaten wurden Zehntausende bosnische Muslim*innen zusammengepfercht, die Jungen und Männer selektiert und ermordet. Über 8000 Menschen starben.
3 Vgl. Ottfried Nassauer: Von der Stärke des Rechts zurück zum Recht der Stärke, BITS, 8.12.2014, http://www.bits.de/public/articles/blaettchen25-2014.htm
4 Vgl. Ottfried Nassauer, s.o.
5 Bosnien und Kosovo - die vergessenen Protektorate, ARTE-Dokumentation, 2016, http://www.ruediger-rossig.de/index.php/de/medien3/24-andere-ueber-mich/...
6 Bis 1999 lebten ca. 150.000 Roma und Aschkali im Kosovo, heute sind es ca. 70.000. (Vgl. Stefan Müller, in: Civil Right defenders, Seite 5 (https://crd.org/wp-content/uploads/2018/03/The-Wall-of-Anti-Gypsyism-Rom...)
7 Beispiel hierfür ist die UNPREDEP-Mission an der serbisch-mazedonischen Grenze zwischen 1992-1999.
8 Vgl. Ottfried Nassauer, s.o.; siehe auch: Thomas Handrich: „Vierzehn Lektionen für zivile wie militärische Interventionen – nicht nur für die Balkanregion“, Dokumentation einer Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung, 2004 (vergriffen, beziehbar über den Autor: thomashandrich1 [at] aol [dot] com).

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Thomas Handrich ist pädagogoischer Mitarbeiter der Internationalen Begegnungsstätte Jagdschloß Glienicke (IBJG).