Einleitung

Vergessene Konflikte

von Martina Fischer

In Libyen kam es ab Februar 2011 zu Aufständen gegen das Gaddafi-Regime. Die Unterdrückung der Proteste veranlasste Frankreich, Großbritannien und die USA zum militärischen Eingreifen. Das Regime wurde gestürzt, doch für die Zeit danach hatten die Interventionsmächte keinen Plan. Fünf Jahre später versinkt das Land im Chaos. Es ist politisch gespalten, der IS, Tuareg-Milizen und weitere Warlords, die von arabischen Traditionalisten unterstützt werden, haben an Terrain gewonnen. Die Bevölkerung ist unzureichend versorgt, Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt und ohne Zukunftsperspektiven. (1)

Im Jemen bombardiert die saudische Luftwaffe seit März 2015 militärische und zivile Ziele. Auslöser des Konflikts waren Kämpfe zwischen schiitischen Huthi-Rebellen und Gruppen der sunnitischen Bevölkerung um die Macht im Land. Die Friedenspläne der Vereinten Nationen (VN) wurden von den Konfliktbeteiligten bislang nicht akzeptiert. Die saudisch geführte Militärkoalition flog von März 2015 bis September 2016 mehr als 8.600 Angriffe (2). Ein Drittel traf zivile Einrichtungen (z.B. Schulen, Krankenhäuser und Gefängnisse). Mehr als 10.000 Menschen wurden nach VN-Angaben bisher getötet, in der Mehrzahl ZivilistInnen. US-Tankflugzeuge haben in mehr als 1.000 Einsätzen die saudische Luftwaffe versorgt. Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall steht unter Verdacht, über Tochterfirmen Munition an Saudi-Arabien zu liefern (3). 21 (von 25,5) Millionen Menschen sind auf Hilfslieferungen angewiesen.

Nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Afrika spielen sich jenseits der medialen Aufmerksamkeit unfassbare Tragödien ab. In Burundi haben mehr als 250.000 Menschen das Land Richtung Ruanda, Tansania oder DR Kongo verlassen, weil die Gewalt in ihrer Heimat eskaliert und viele einen Bürgerkrieg befürchten. Der Konflikt entzündete sich im April 2015 an der (verfassungswidrigen) Entscheidung des Präsidenten, sich zur Wiederwahl zu stellen. Friedliche Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen. Nach seiner Bestätigung im Amt lässt der Präsident Oppositionelle verfolgen. Die VN sprechen von 470 Todesopfern, Folter, Entführungen und willkürlichen Verhaftungen. Der Konflikt und die Fluchtbewegungen bleiben in der medialen Berichterstattung weitgehend unerwähnt.

Ähnliches gilt für die Zentralafrikanische Republik, wo sich ein Drittel der Bevölkerung auf der Flucht befindet, und für den Krieg in Darfur. Sofern diese Konflikte Beachtung finden, werden sie meist als ethnisch oder religiös motiviert beschrieben. Tatsächlich aber bilden ethnische oder religiöse Unterschiede meist nur zusätzliche Faktoren, die die Konfliktdynamik anheizen oder für die Legitimierung von Gewalt instrumentalisiert werden. Während der Konflikt in Darfur als ökologische Krise begann und auch vom Klimawandel mit begünstigt wurde, spielen in der zentralafrikanischen Republik Konflikte um Rohstoffe und deren Ausbeutung eine zentrale Rolle.

In der Westsahara wartet das Volk der Sahraouis auf das zu Beginn der 1990er Jahre vereinbarte Referendum. 165.000 Menschen befinden sich in Flüchtlingslagern im südlichen Algerien und sind von Hilfslieferungen abhängig, während Marokko das Gebiet, das sie bewohnten, landwirtschaftlich nutzt. Es umfasst einen langen Küstenstreifen und verfügt über große Phosphatvorkommen; zudem wurde dort mit Ölbohrungen begonnen. Die Westsahara ist seit 40 Jahren von Marokko besetzt. Nach einem 16 Jahre dauernden bewaffneten Konflikt zwischen der Befreiungsbewegung Polisario und der marokkanischen Regierung handelten die VN 1991 einen Waffenstillstand aus. Seither wartet die sahraouische Bevölkerung auf die Möglichkeit, über ihre Zugehörigkeit zu Marokko oder die Errichtung eines unabhängigen Staates zu entscheiden. Proteste werden niedergeschlagen, zahlreiche Aktivisten befinden sich in Haft und Menschenrechts-NGOs berichten von Misshandlungen. International wird der Konflikt kaum mehr beachtet; die Bekenntnisse der VN werden von den Betroffenen als halbherzig empfunden, weil niemand ernsthaft Druck auf die marokkanische Regierung ausübt.

Andernorts gerieten Konflikte in Vergessenheit, weil nach gewaltsamen Auseinandersetzungen eine relative Stabilisierung erfolgte, zum Beispiel in der Balkanregion. Da sich die EU-Mitgliedstaaten und Großmächte in den Sezessionskriegen im Jugoslawien der 1990er Jahre nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten, kam es zu blutigen Kriegen in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und später auch im Kosovo, mit insgesamt mehr als 120.000 Toten. Immerhin gelang es der EU, in Mazedonien ein Abkommen zu vermitteln und einem Krieg vorzubeugen. In Bosnien und Kosovo hat sie im Rahmen von Protektoraten zur Einhegung von Gewalt beigetragen. Von einem stabilen Frieden und von Aussöhnung aber kann trotzdem nicht gesprochen werden, denn in Bosnien, Kosovo und Mazedonien wurden die Konflikte regelrecht eingefroren. Ähnliche Beispiele findet man im Kaukasus.

Konflikte in den Medien
Die Berichterstattung im TV und den Printmedien wird weitgehend von Nachrichten zur Ukraine-Krise oder zum Bürgerkrieg in Syrien beherrscht, während über die oben genannten Regionen allenfalls am Rande (von den öffentlich-rechtlichen Sendern zu später Stunde, und von renommierten Tageszeitungen gelegentlich) berichtet wird. Die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachen­forschung zählte 2015 weltweit 32 Kriege und bewaffnete Konflikte (4) Besonders stark betroffen waren der Vordere und Mittlere Orient mit 11 Kriegen und bewaffneten Konflikten. Es folgten Afrika und Asien mit zehn bzw. neun kriegerischen Konflikten. In Lateinamerika und in Europa war jeweils ein Krieg zu verzeichnen. Die meisten Gewaltkonflikte wurden und werden nicht zwischen Staaten, sondern zwischen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb von Staaten ausgetragen. Zahlreiche politische Konflikte, die nicht als Kriege deklariert sind, bergen ebenfalls Gewaltpotenziale, die in großem Ausmaß Menschenleben gefährden. Viele erscheinen so gut wie nicht in den Medien. Der Nachrichtenwert der Berichte über Konflikte bemisst sich an der damit für die EmpfängerInnen verbundenen strategischen Bedeutung, oder auch an der Bedeutung für das eigene Sicherheitsinteresse. Konfliktländer in Afrika rangieren ganz unten in der Aufmerksamkeitshierarchie. Das Projekt „365 Tage – vergessene Konflikte“ hat sich zum Ziel gesetzt, auf vergessene Konflikte aufmerksam zu machen (5). Ein ähnliches Vorhaben wurde von einer journalistischen Akademie in Österreich gestartet (6).

Wiederkehrende Muster
Die beschriebenen Beispiele, so unterschiedlich sie sein mögen, weisen einige wiederkehrende Muster auf: die gewaltsame Eskalation vollzieht sich langsam und unter dem Wegschauen der Weltöffentlichkeit. Dort, wo wirtschaftliche, politische oder strategische Interessen von Großmächten berührt werden, kommt es zu einem Eingreifen, das planlos und/oder interessengeleitet erfolgt und die Situation für viele Menschen eher verschlimmert als verbessert. Die Folgen von Militärinterventionen (z.B. die Verlagerung von Gewalt in benachbarte Gebiete) werden nicht ehrlich bilanziert, Tod und Vertreibung von Zivilist/innen als „Kollateralschäden“ heruntergespielt. Obgleich in den vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich wurde, welche Risiken und destabilisierende Wirkungen damit verbunden sind, wird immer noch viel zu wenig in Präventionsmaßnahmen investiert.

Seit den 1990er Jahren haben die Vereinten Nationen und ihre Regionalorganisationen zusätzliche Kapazitäten für die Frühwarnung und Konfliktanalyse aufgebaut. Auch die EU hat einige Mechanismen dafür geschaffen. Von einem Mangel an Information kann kaum gesprochen werden. Wie kann es trotzdem immer wieder passieren, dass Konflikte regelrecht „vergessen“ werden, dass Hilfeleistung ausbleibt und Rechte von Menschen über Jahrzehnte ignoriert werden, wie das Beispiel Westsahara illustriert?

Trotz aller Fortschritte in der Frühwarnung sind vorbeugender Politik faktisch enge Grenzen gesetzt. So sind die VN – obwohl sie 193 Staaten repräsentieren und völkerrechtlich für globale Prävention und Friedenssicherung mandatiert sind - nur so handlungsfähig, wie die Mitgliedstaaten sie haben wollen. Die VN-Institutionen müssen bei den Mitgliedern für jede einzelne Maßnahme regelrecht betteln gehen. So haben sie vom Herbst 2014 bis Ende 2015 vergebens dafür geworben, das Welternährungsprogramm so aufzustocken, dass die aus Syrien geflüchteten Menschen in den Anrainerstaaten versorgt werden könnten. Die Weigerung der Mitgliedstaaten und die massive Verknappung der Nahrung waren mitverantwortlich für die dann einsetzende Wanderung nach Europa.

Gegenwärtig zeichnet sich eine weitere Katastrophe ab. Seit Dezember 2015 informiert das „Famine Early Warning Systems Network“ über die drohende Hungersnot in Ostafrika, insbesondere in Äthiopien und Eritrea. Beide Länder sind von einer massiven Dürre betroffen. Die äthiopische Regierung bat im Januar 2016 um internationale Unterstützung. Es wird geschätzt, dass die aktuelle Notlage die historische Hungersnot von 1984/85 (mit damals 500.000 Toten) noch bei weitem übertreffen könnte. Schätzungsweise 15 Millionen Menschen sind in dort auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Aus Eritrea wird ähnlich Dramatisches berichtet, dort ist die Datenlage allerdings unklarer. Schon jetzt stammt ein Drittel derjenigen, die sich über das Mittelmeer nach Europa aufmachen, aus Eritrea.

Eine weitere Begrenzung der Prävention resultiert aus dem Wandel der politischen Diskurse. Hierzulande und auf europäischer Ebene orientiert sich die politische Logik immer stärker an Abschottung, und das normative Ziel des Friedens rückt zusehends in den Hintergrund. Das zeigt sich in den Strategiepapieren der EU und einigen Mitgliedstaaten. Viele gehen davon aus, dass man mit dem Ausbau militärischer Fähigkeiten Staatszerfall Einhalt gebieten könne. Für die Abwehr von terroristischen Gefahren und für das „Management“ von Migration sollen vorwiegend polizeiliche und militärische Akteure „ertüchtigt“ werden. Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung und entwicklungspolitische Initiativen werden den (europäisch definierten) Sicherheitsinteressen untergeordnet. Es gibt wenig überzeugende Analysen der Konflikt- und Fluchtursachen. Folglich gibt es auch keine effektiven Vorschläge für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, die Menschen im globalen Süden wirtschaftliche Perspektiven und ein Leben in Würde ermöglichen könnte.

Fazit
Erfolgreiche Prävention und Bearbeitung der geschilderten Konflikte benötigt vor allem eine Stärkung der VN und ihrer Regionalorganisationen. Sie sollten durch die EU und ihre Mitgliedstaaten systematisch unterstützt werden. Benötigt wird ferner eine Politik, die sich auf die Bearbeitung der Ursachen von Gewaltkonflikten richtet und dabei auch die eigenen Anteile kritisch in den Blick nimmt, denn einige der o.g. Beispiele zeigen, dass das Verhalten der Industriestaaten durchaus zu den Katastrophen im globalen Süden beiträgt. Krisenprävention muss als ressortübergreifende Aufgabe verstanden werden, der auch die Handels-, Umwelt-, Klima- und Sicherheitspolitik, und vor allem die Außenwirtschafts- und Rüstungsexportpolitik angepasst werden müssen. Last but not least benötigt erfolgreiche Prävention auch eine gute Kooperation mit der Zivilgesellschaft, deren Engagement für die Aussöhnung und die Tragfähigkeit von Friedensprozessen zentrale Bedeutung zukommt.

 

Anmerkungen
1 Euronews 20.10.16

2 Die Zeit 17.9.16

3 Frankfurter Rundschau 30.10.16

4 https://www3.wiso.uni-hamburg.de/fileadmin/sowi/akuf/Text_2010/AKUF_Pres...

5 http://www.vergessene-konflikte.de

6 http://mokant/at

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