Vergessene Kriege

von Christine Schweitzer

Wenn heute von Kriegen die Rede ist, dann fallen einem zunächst vermutlich die Kriege in Afghanistan und Irak, Israel-Palästina und die militärischen Interventionen in Kosovo/Jugoslawien ein. Diese Feststellung dürfte für die Massenmedien, die Friedensbewegung und für den nicht speziell mit Außen- oder Entwicklungspolitik befassten Durchschnittspolitiker gleichermaßen gelten.

Doch es haben seit dem 2. Weltkrieg rund 200 Kriege stattgefunden - in überwiegender Zahl in der sog. "Dritten Welt". Wie viele es genau gewesen sind, und wie viele es im Moment sind, darüber gehen die Zahlen auseinander. Der Grund dafür ist ein ganz einfacher: Die verschiedenen Friedensforschungsinstitute, die Statistiken über Konflikte führen, verwenden unterschiedliche Definitionen von "Krieg" (s. die Kästen auf diesen Seiten). 1 Für das Jahr 2002 spricht zum Beispiel die AKUF (s. Ressourcen, hinten) von 29 Kriegen und 18 bewaffneten Konflikten, das HIIK von nur 13 Kriegen und 29 ernsten, bewaffnet ausgetragenen Krisen.

Gemäß der AKUF 2 gab es von 1945 bis 1992 einen vergleichsweise kontinuierlichen Anstieg der Kriegshäufigkeit bis zum Höchststand von 55 Kriegen 1993. Bis 1997 halbierte sich diese Zahl innerhalb von fünf Jahren fast auf 28. Seitdem gebe es keinen eindeutigen Trend: 1998 stieg die Zahl der Kriege auf 33 an, 1999 lag sie ebenso wie 2000 bei 35, 2001 ging sie zunächst auf 31 und 2002 auf 29 zurück.

Bei den meisten Kriegen handelt es sich um interne Kriege, sog. Bürgerkriege. Dazu gehören u.a. 3 Tschetschenien (seit 1994), Kolumbien (seit 1993), Algerien (seit 1992), Somalia (seit 1991), Uganda (seit 1993), Ruanda (seit 1990), Burundi (seit 1993), Kalimantan (seit 1997), West-Papua (seit 1965), Senegal (seit 1982), Sudan (seit 1983), Nepal (seit 1996), Myanmar/Burma (seit 1985), Elfenbeinküste (seit 2002) und die Zentralafrikanische Republik (seit 2002). 2002 als praktisch beendet bezeichnet, aber in einigen Regionen neu aufgeflammt ist inzwischen der Krieg in der Demokratischen Republik Kongo. Viele von ihnen sind durch ein hohes Maß an privatisierter Gewalt (Kriegsökonomien) gekennzeichnet, wo sich Gruppen, die vielleicht, wie in Kolumbien, einmal als Befreiungsbewegungen angefangen haben, inzwischen ausschließlich wegen der Bewahrung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen, seien es nun Drogen oder Diamanten, bekämpfen.

In den neunziger Jahren waren viele FriedensforscherInnen angesichts solcher Zahlen der Meinung, dass internationale Kriege quasi am Aussterben seien 4. Aber die AKUF registrierte 2001/2002 fünf zwischenstaatliche aktive Kriege: Sudan-Äthiopien, Sudan-Eritrea, Äthiopien-Somalia, Indien-Pakistan (Kaschmir und Siachen), Libanon-Israel. Dazu kamen im letzten Jahr der Krieg der NATO gegen Afghanistan und dieses Jahr der Krieg der "Allianz" unter Leitung von USA und Großbritannien gegen den Irak.

Es ist nicht die Frage, ob ein Krieg ein interner oder ein internationaler Krieg ist, die entscheidet, wieviel internationale Aufmerksamkeit er erhält. Es ist eine weitbekannte Tatsache, dass hier die Medien eine entscheidende Rolle spielen. Und sie fragen zum einen danach, was das Publikum schon kennt und deshalb interessieren dürfte, und zum anderen, ob der in Frage stehende Konflikt durch Verflechtung politischer oder wirtschaftlicher Interessen Deutschlands/Europas/der USA von Bedeutung für die BürgerInnen unseres Landes ist. Der Begriff des ´vergessenen Krieges` fand in die Diskussion vor mehr als zehn Jahren Eingang, als Rolf Hofmeier sein Buch über "Vergessene Kriege in Afrika" publizierte. 5 Und tatsächlich dürften es die Kriege und Konflikte in Afrika sein, die am ehesten das Prädikat des vergessenen Krieges verdienen. Strategische politische Interessen gibt es jenseits der traditionellen Verbundenheit der ehemaligen Kolonialmächte mit ihren Ex-Kolonien - was aber in Deutschland, das seine Kolonien schon nach dem 1. Weltkrieg verlor, kaum eine Rolle spielt - kaum, und wirtschaftliche Verflochtenheiten bestehen bestenfalls im Falle einiger Rohstoffe wie Diamanten oder Öl.

Und was getan wird

Welche Institutionen und Organisationen gibt es, die der Tendenz, Kriege zu vergessenen Kriegen zu machen, entgegenwirken?

An erster Stelle ist hier sicherlich die UNO zu nennen. Die Generalversammlung, der Sicherheitsrat und ihre zahlreichen Organisationen (UNDP, UNHCR, UNICEF usw.) sind weltweit tätig. Dies wird auch schon in der Liste der Länder widergespiegelt, in die die Vereinten Nationen Peacekeeping- oder Beobachtermissionen entsendet haben (s. Kasten).

Im weiten Feld der Nichtregierungsorganisationen gibt es einige regionale oder globale Zusammenschlüsse, die sich der Konfliktbearbeitung gewidmet haben. Für Europa wären hier Organisationen wie die European Platform for Conflict Prevention and Transformation oder International Alert mit Sitz in London zu nennen; in Deutschland ist es vor allem der Verband der entwicklungspolitischen Gruppen (VENRO), die sich jenseits der Tagesaktualität um längerfristige Konfliktbearbeitung verdient machen. (Siehe den Beitrag zu Ressourcen hinten in diesem Schwerpunkt.)

Zivile Intervention in Konflikte ist dabei nur eine von zwei Unterkategorien des Konzeptes der Zivilen Konfliktbearbeitung: Wenn Dörfer in Kolumbien beschließen, sich zur "Zone des Friedens" zu ernennen und Militär wie Guerillas den Zugang verweigern, dann ist dies ein Beispiel von ziviler Konfliktbearbeitung, aber nicht von ziviler Intervention.

Grundsätzlich stellen sich denjenigen, die an einer Prävention oder Deeskalation und Beilegung eines Makro-Konfliktes Interesse haben, drei Aufgaben:
 

 
    ú Gewalt zu verhindern bzw. zu deeskalieren (Aufgabe des Peacekeeping/Friedenssicherung)
 
 
    ú die Konfliktinhalte zu bearbeiten (Aufgabe des Peacemaking/Friedensstiftung) und
 
 
    ú die dem Konflikt zugrundeliegenden Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen so zu verändern, dass Frieden wieder möglich wird (Aufgabe des Peacebuilding/Friedenskonsolidierung) 6.
 
 
    Diese Strategien dürfen nicht mit bestimmten Aktivitäten verwechselt werden. Zum Beispiel kann Dialog sowohl genutzt werden, um eine Lösung des Konfliktes zu finden - dann würde es zu Peacemaking gehören - oder Verständnis und Versöhnung zwischen den Konfliktparteien zu bewirken - dann gehört es zu Peacebuilding. In der Praxis haben viele Aktivitäten Aspekte, die zu mindestens zwei, wenn nicht zu allen drei Strategien gehören. Trotzdem macht es Sinn, sie zu unterscheiden, weil die Unterscheidung es erlaubt, verschiedene Funktionen und Probleme zu illustrieren.

Peacebuilding, Peacemaking und Peacekeeping müssen gleichzeitig angewendet werden, wenn ein Konflikt erfolgreich transformiert werden soll. Ohne Peacekeeping wären Peacemaking und Peacebuilding sehr schwierig, weil Gewalt leicht wieder den Prozess zu überwältigen drohte, und jede Gruppe, die eine Friedensinitiative sabotieren will, es leicht finden würde, bewaffnete Zusammenstöße zu provozieren - Beispiele kann man heute im israelisch-palästinensischen Konflikt fast jede Woche erleben. Wenn Peacebuilding ineffektiv ist, dann laufen die Entscheidungsmacher Gefahr, die Unterstützung ihrer Bevölkerung zu verlieren, ein Problem, das in Nordirland gut beobachtet werden kann. Und wenn Peacemaking ineffektiv ist, dann wird der Interessengegensatz, der dem Konflikt zugrundelag, ungelöst bleiben, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Konflikt wieder eskalieren wird - man denke nur an die anhaltenden Probleme in Bosnien-Herzegowina.

Kriegsdefinition

AKUF
"In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) definiert die AKUF Krieg als einen gewaltsamen Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist:

(a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;

(b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.);

(c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern.

Kriege werden als beendet angesehen, wenn die Kampfhandlungen dauerhaft, d.h. für den Zeitraum von mindestens einem Jahr, eingestellt bzw. nur unterhalb der AKUF-Kriegsdefinition fortgesetzt werden.

Als bewaffnete Konflikte werden gewaltsame Auseinandersetzungen bezeichnet, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt sind." (Zitat von der Webpage)

Nur angemerkt sei hier, dass diese Definition von AKUF von international gebräuchlichen Kriegsdefinitionen insofern abweicht, als dass die Zahl der Opfer keine Rolle spielt. (Zitat aus der Webpage, www.akuf.de (8.6.03)
 

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.