Volksdiplomatie: Möglichkeiten und Grenzen

von Dr. L. G. Istjagin

Das Wort "Volksdiplomatie" ist heutzutage in aller Leute Munde. Sehr viele neigen dazu, in diesem Phänomen ein Mittel zu sehen, das helfen kann, die noch bestehenden Schwierigkeiten zu beseitigen, die offizielle Diplomatie etwa im Abrüstungsprozeß nicht zu überwinden vermag. Wie oft werden. dabei begründete Hoffnungen mit übertriebenen, ja manchmal illusionären Vorstellungen vermischt und verwechselt. Eines ist klar: das Problem bedarf einer gründlichen wissenschaftlichen Analyse, die in der Friedensbewegung bedauerlicherweise noch weitgehend fehlt.

Der Begriff Volksdiplomatie kommt aus der Gegenüberstellung zu staatlichen Methoden der Verhandlungen, wohl auch zu den Beratungen und Konferenzen der Spezialisten aller Art (Expertendiplomatie). Reel beinhaltet dieser Begriff die ganze Fülle und Verschiedenheit von Kontakten zwischen Menschen der Staaten beider Weltsysteme, unabhängig von ihren Zielsetzungen und Ergebnissen.
In diesem Sinne aufgefaßt ist diese "Diplomatie" im Prinzip viel breiter als Beziehungen mit Vertretern der westlichen Öffentlichkeit etwa im Rahmen der Friedensbewegung. Andererseits praktiziert jetzt die westliche Friedensbewegung selbst eine "Volksdidlomatie". So betrachtet, ist sie eher eine Methode des Friedensengagements, eine Fortsetzung der schon durchgeführten und · den sowjetischen Friedensfreunden gut bekannten Kampagnen.
Natürlich sind auch die einfachsten Gespräche der einfachen Menschen von zwei Welten bedeutsam; denn wenn die Zahl der Teilnehmer groß genug ist und die Medien dabei positiv mitspielen mildern sie das psychologische Klima durch den Abbau von gegenseitigen Feindbildern und schaffen somit Voraussetzungen für politische Öffnung, letzten Endes für Verständigung auf der Staatsebene. Aber ein gewisses Minimum der Politisierung scheint dabei unbedingt nötig zu sein. Sonst kann - wie Geschichte das reichlich zeigt - die "Küchendiplomatie" in Banalitäten ausarten, die nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern, weil von wirklichen Gefahren ablenkend, auch schädlich sein könnten.
In dieser Hinsicht ist es berechtigt, vor allem sowjetisch-amerikanische Kontakte der letzten zwei Jahre im ganzen positiv als dem Geiste des Neuen Denkens entsprechend zu qualifizieren.
Die drei Friedensmärsche gaben tausenden Menschen Gelegenheit, einige Tage zusammen zu leben und ungestört längere Gespräche über das ganze Spektrum der heutigen politischen Realitäten zu führen.
Leider bleiben bisher ähnliche Kontakte der sowjetischen Öffentlichkeit mit den westeuropäischen Ländern sehr weit zurück hinter denen mit den USA. Das ist umso merkwürdiger, weil sowjetische Friedenskomitees gerade mit den pazifistischen Organisationen Großbritanniens, der BRD, Hollands, Belgiens, Schwedens und Dänemarks seit Jahren rege und produktive Verbindungen unterhalten. Die Kontakte dieser Art werden fortgesetzt, aber sie weisen meistens nicht jene neue Qualität auf, die in den Beziehungen mit den Amerikanern zutage getreten ist. Neue sind Stimuli nötig.
Die Rolle einer solchen neuen Triebkraft könnte die bereits begonnene Kampagne der Versöhnung zwischen den Völkern der Sowjetunion und der BRD mitspielen. Erstmalig von den bundesrepublikanischen christlichen Kreisen formuliert, ist dieses Motto zum programmatischen Schwerpunkt sämtlicher Friedensbewegungen in der BRD geworden. Auch in der Sowjetunion findet diese Idee eine ganz beträchtliche und im Wachsen begriffene
Anerkennung und Unterstützung. Eine der Dimensionen des Neuen Denkens in der UdSSR äußert sich gerade in ei¬ner spontanen und sehr aktiven Wiederbelebung der für die Russen traditionell eigenen Deutschfreundlichkeit, besser gesagt deren Erweiterung auch auf die kapitalistische Bundesrepublik. Das spürt man sofort, wenn man Perestroikapublizistik liest oder mit einfachen Menschen auf der Straße spricht.
Wir würden aber gut beraten sein, wenn wir die ganze Komplexität der Übertragung des evangelischen Prinzips Versöhnung ins Praktisch-Politische, für Sowjetmenschen Verständliche und Annehmbare berücksichtigen. Denn die bittersten Erfahrungen des 2. Weltkrieges sind bei allen Sowjetbürgern noch wach im Gedächtnis, unabhängig davon, was man in dieser Hinsicht höflichkeitshalber den westdeutschen Touristen sagt. Ohne bestimmte Bedingungen zu erfüllen, vor allem was die Überwindung von Antisowjetismus angeht, kann man westdeutscherseits auf wirklich bedeutende Ergebnisse kaum rechnen. Mehr noch, die gute Idee könnte durch falsche Behandlung komprommitiert werden. Wenn ein namhafter westdeutscher Publizist schreibt, daß er zwar "Akte der Versöhnung mit dem Volk der Russen" für "angemessen" erachtet, dabei aber "das dortige System" als „für uns fremde und befremdliche Größe", die "unseren Widerspruch hervorrufen muß", qualifiziert, so kann mit Sicher¬heit behauptet werden, daß eine solche Methode, sei sie angewandt, sofort das ganze zarte Porzellan der eben angefangenen Annäherung und Verständigung zerbricht. Unabhängig davon, inwieweit es diplomatisch genug ist, sich "Menschen" und "Völkern" anzubiedern zu versuchen, gleichzeitig aber Systeme und Institutionen, in denen sie leben und die sie billigen, zu verdammen, können entsprechende Praktiken Feindbilder und andere negative Vorstellungen nur festigen, was dann von selbst neue Spannungen in der Politik bringen würde. Die "Volksdiplomaten", die Gesellschaften und Staaten des Partners in Ausdrücken wie "aggressiv-imperialistisch" oder "totalitär- kommunistisch" apostrophieren, wie es
während des kalten Krieges angebracht war, könnten, wie die Dinge liegen, kaum Wirksamkeit von ihren Handlungen erwarten.
Auch die ziemlich leichtfertigen Idealbilder der "sympathischen Russen", die jetzt auf dem Boden der Euphorie in der BRD Verbreitung finden, bringen uns kaum viel weiter. Sie sind sehr oft unreife Früchte des Wunschdenkens. Die Enttäuschungen, die unvermeidlich kommen, könnten sogar Schaden anrichten.
Die Volksdiplomatie darf auch nicht die akuten Tendenzen zur Modernisierung und Kompensation der Waffen, die die zu beseitigenden ersetzen sollen, ignorieren. Es ist unzulässig, diesen Sachverhalt außerachtzulassen oder ihn zu bagatellisieren. Auch einer Volksdiplomatie wäre es unverzeihlich. Übrigens wäre sie in diesem Falle kaum etwas Neues: die Geschichte kennt Situationen - die deutsch-russischen und deutsch-sowjetischen Beziehungen sind dafür gerade typisch - wo ausgerechnet nach den Perioden enger "zwischenmenschlicher" Kontakte Feindseligkeiten losbrachen, die dann Weltkriege hießen. Vor dem Frieden in Brest-Litowsk 1918 verbrüderten sich deutsche und sowjetische Soldaten;  einige Monate später herrschte idyllisches Leben an der Front. Als dann aber die eine Seite den Befehl erhielt zu schießen, erfüllte sie ihn. Austausch von Kompanien der Bundeswehr und der Sowjetarmee, wovon mit so viel Enthusiasmus auch der Bonner Außenminister spricht, würde an - sich keine schlechte Sache sein. Aber es hätte bestimmt keinen triftigen Grund, von dieser "Soldatendiplomatie" etwas wirklich lohnendes zu erwarten, wenn qualitatives Wettrüsten fortgesetzt, Militärdienstzeit verlängert und Militärausgaben vergrößert werden.
Die Situation in der Weltpolitik, entstanden nach dem Abschluß des INF-Vertrages, um weiter entspannt zu werden, erfordert vor allem neue, noch tiefere Durchbrüche in der Abrüstung. Auch gewagte einseitige Schritte, dem Neuen Denken entsprechend, sind notwendig, um die angebrochene positive Tendenz zu bekräftigen. Nach den sowjetischen Konzessionen scheint hier der Westen am Zuge zu sein.
Mehr Frieden, mehr Vertrauen und mehr Sicherheit kann man nur mit weniger Waffen und ohne deren Modernisierung erreichen. Die Volksdiplomatie kann dabei eine nicht zu unterschätzende Funktion eines ergänzenden Druckmittels auf die Regierungen übernehmen.

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Dr. L. G. Istjagin arbeitet am Institut des Friedens der Akademie der Wissenschaft Moskau.