Volkskirche im pluralistischen Staat

von Dieter Bingen
Schwerpunkt
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Die Katholische Kirche Polens hat Einflussmöglichkeiten auf Verfassung und Gesetzgebung wie nie zuvor in der Geschichte Nachkriegspolens. Gleichzeitig geht ihr Einfluss auf die polnische Gesellschaft zurück. In ihrem Kampf gegen das totalitäre System verband die Kirche religiöse mit patriotischen Werten, und die polnischen Katholiken konnten sich durch Wallfahrten und unterschiedliche Formen massenhafter Marien­verehrung mit Nation und Kirche identifizieren. Auch die gesellschafts­politischen Bewegungen suchten in den siebziger und achtziger Jahren die Unterstützung von Kirche und Religion. Es ging dabei nicht um die Anlehnung an die kirchliche Hierarchie, sondern um die Dienstbarma­chung religiöser Symbole. "Das hieß aber nicht, daß damit eine Wieder­geburt des religiösen Lebens erreicht wurde", sagt der polnische So­ziologe Wladyslaw Piwowarski dazu.

Heute wird eine bestimmte Art der Machtausübung oder Einflussnahme von seiten der Amtskirche auch von beken­nenden Katholiken in Frage gestellt. Re­daktion G2W (Glaube in der 2. Welt)

Der Untergang der realsozialistischen Gesellschaftsordnung im östlichen Teil Europas und der Aufbau pluralistischer und demokratischer Ordnungsmodelle zwingt die Kirchen zu einer neuen Standortbestimmung. Dies gilt für die katholische Kirche in Polen im Besonderen. Über vierzig Jahre lang einigten sich auf ihr wie nirgendwo sonst die Hoffnungen einer nichtkommunisti­schen Bevölkerung bei der zähen Ab­wehr staatlicher Allmachtansprüche. Die katholische Kirche Polens war auf­grund ihrer identitätsstiftenden Rolle seit dem 19. Jahrhundert besonders er­folgreich. Sie galt als einer der großen Sieger der Befreiungsbewegungen der achtziger Jahre, der aus ihrer Mitte kommende Papst als das moralische Rückgrat der "Solidarnosc"-Bewegung.

Auf dem Zenit ihres Einflusses und ihres Ansehens in der polnischen Ge­sellschaft sieht sie sich seit der Etablie­rung einer ersten vom Volk legitimier­ten Regierung im September 1989 und der Herausbildung der organisatorischen Infrastruktur einer pluralistischen Ge­sellschaft westeuropäischen Typs vor die Herausforderung gestellt, das Ver­hältnis zu dieser Gesellschaft, d.h. not­gedrungenermaßen auch zum Werteplu­ralismus, zu definieren. Bisher war es für die katholische Kirche ein leichtes gewesen, die Rechte der Individuen ge­genüber einem totalitären Macht- und Verfügungsanspruch zu postulieren, ohne sich mit den unterschiedlichen Vorstellungen von einer freien Gesell­schaft im Einzelnen auseinandersetzen zu müssen.

In der ersten Phase des Systemwechsels erhielt die katholische Kirche im Ergeb­nis der Verhandlungen am "Runden Tisch" in drei Gesetzeswerken die öf­fentlich-rechtliche Anerkennung ihrer seit Jahrzehnten tatsächlichen Position. Am 17. Mai 1989 hatte der Sejm ein 77 Artikel umfassendes Gesetz verabschie­det, das die Beziehungen zwischen Kir­che und Staat regelt und aus vier Teilen besteht.

Im Teil zwei des Gesetzes von 1989 geht es um die Aktivitäten der Kirche, im Einzelnen um die Regelungen des öf­fentlichen Kultes (z.B. Wallfahrten und Prozessionen), der Katechese und des Schulwesens, der Militärseelsorge, der Seelsorge in staatlichen Einrichtungen sowie der kirchlichen Organisationen und katholischen Vereinigungen.

In den folgenden Monaten wurde die besondere Rolle der katholischen Kirche in Polen durch weitere Regelungen un­terstrichen. Vierzig Jahre lang hatte sie sich in erster Linie für die geistigen und materiellen Rechte der Nation stark ge­macht. Nun forderte sie die Absicherung ihrer errungenen Stellung. Ende Juni 1989, unmittelbar nach den für die Kommunisten verheerenden Sejm- und Senatswahlen, wurden in einer Verein­barung mit der Regierung wöchentlich eine Stunde Sendezeit im landesweit ausgestrahlten Fernsehprogramm und zusätzlich 15 Minuten pro Woche in den Regionalprogrammen in Krakau und Kattowitz ausgehandelt. Neben der bis­her schon jeden Sonntag über Rundfunk ausgestrahlten Messe wurde der Kirche auf zwei Radiokanälen noch einmal eine Stunde Sendezeit pro Woche einge­räumt. -- Am 17. Juli 1989 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und dem Heiligen Stuhl wieder­hergestellt, und Prälat Jósez Kowalczyk, bisher Mitarbeiter des Staatssekretariats, wurde zum Apostolischen Nuntius in Warschau ernannt.

Kirche für kirchentreue Politiker

Im Wahlkampf 1989 hatte sich die Kir­che noch weitgehend mit der damaligen Opposition solidarisiert. Dies geschah durch unübersehbare Sympathiebeweise von seiten der Bischöfe, viel mehr aber noch der Priester in ihren Gemeinden zugunsten der "Solidarno's'c"-Kandida­ten. Damals wurden die "Solidarno's'c"-Kandidaten gegen andere unabhängige Kandidaten noch weitgehend ungeachtet ihrer weltanschaulichen Herkunft und Kirchennähe bzw. -ferne unterstützt. Aber schon damals waren die Vorbe­halte gegenüber als nicht kirchentreu geltenden Kandidaten unüberhörbar, und in nicht wenigen Fällen warben katholische Priester um Stimmen für be­sonders hierarchiekonforme, konserva­tiv-nationale Parlamentsbewerber der bisher als regimenahe geltenden Verei­nigungen PAX und PZKS gegen "Solidarno's'c"-Bewerber. Offen zutage trat eine Verlagerung der Sympathien der katholischen Kirche im vergangenen Jahr mit der weiteren Ausdifferenzie­rung des politischen Spektrums und dem Auseinanderbrechen der "Solidarno's'c"-Bewegung. Die Regierung Mazowiecki erfreute sich zwar seit ihrer Etablierung der moralischen Unterstützung des Epi­skopats. Dieser drängte aber nach einer Schonfrist auf die rechtliche Regelung von Postulaten, die offensichtlich nur aus politischen Erwägungen in der er­sten nachrevolutionären Phase nicht auf der Tagesordnung standen.

Die Spaltung der "Solidarno's'c" in eine demonstrativ die Nähe zur katholischen Hierarchie suchenden Gruppe um den bisherigen Gewerkschaftsvorsitzenden und heutigen Präsidenten Lech Walesa und die ebenfalls katholisch geprägte, schließlich von einem katholischen "Altaktivisten", dem Premier Tadeusz Mazowiecki, getragene Gruppe, der aber immerhin eine aus der laizistischen Linken kommende und liberale Füh­rungselite mitangehört - neben der re­nommierten katholischen Intelligenz (Sanislaw Stomma, Jerzy Turowicz, Andrzej Wielowieyski u.v.a.) -, er­leichterte der Kirche eine entschiedene Interessenvertretung in der öffentlichen Diskussion.

Religionsunterricht in der Schule

Auf ihrer 240. Vollversammlung vom 30. April bis 2. Mai 1990 forderten die katholischen Bischöfe Polens die "volle Rückkehr des Religionsunterrichts an den Schulen und zu diesem Zwecke eine Garantie in der Verfassung und im Ge­setz über nationale Erziehung". Der stellvertretende Sekretär der Bischofs­konferenz, Bischof Alojzy Orszulik, er­klärte in einem Interview für die "Gazeta Wyborcza" (9.5.1990), daß das Erziehungssystem die christlichen Werte widerspiegeln solle, die der überwältigenden Mehrheit der Polen gemeinsam seien. Zugleich sollten aber die Überzeugungen von Eltern und Kin­dern respektiert werden, die die christli­chen Werte nicht teilen.

Der Vorstoß der polnischen Bischöfe wurde von der Regierung und dem zu­ständigen Ministerium ursprünglich re­serviert aufgenommen und die Weisheit der Einführung des Religionsunterrichts als Pflichtfach in Zweifel gezogen ...

In der Öffentlichkeit war das Echo ebenfalls eher skeptisch. Selbst be­kannte Katholiken befürchteten Schika­nen gegen nichtkatholische Mitschüler und ein zu enges Zusammenwirken von Kirche und Staat. Katholische Publizi­sten warnten vor der Versuchung, die Stellung der katholischen Kirche und des Glaubens zu stark mit der Macht des Gesetzes zu verquicken.

Allgemein war erwartet worden, daß die Entscheidung in einer so grundsätzli­chen Frage im Parlament fallen werde. Umso größer war die Überraschung, als das Erziehungsministerium am 2. Au­gust 1990 - mitten in den Schulferien - per Erlass die Rückkehr des Religions­unterrichts in die Schulen auf den 1. September verfügte. Die Übereinkunft trug die Handschrift des Episkopats, denn der Kirche wurde die alleinige Be­stimmung über den Lehrinhalt zuge­standen. Die "Instruktion betreffend der Rückkehr des Religionsunterrichtes in die Schule im Schuljahr 1990/91", die eine Probezeit von einem Jahr bis zu ei­ner endgültigen gesetzlichen Regelung vorsieht, war von der gemeinsamen Kommission zwischen Kirche und Re­gierung ausgearbeitet worden. Die Lehrinhalte werden den Unterrichtsbe­hörden nur zur Kenntnis gebracht, Leh­rer vom jeweiligen Bischof eingesetzt und abberufen. Ein Zugeständnis von seiten der Kirche konnte man darin se­hen, daß die Einführung des Religions­unterrichts der Entscheidung von Eltern und Schülern obliegt, im Gegensatz zu dem vielfachen Verlangen nach einem Pflichtfach Religion.

Viele polnische Katholiken befürchten, daß die neue Regelung zu Konflikten in der Gesellschaft führen könnte. Der so­ziale Druck zur Teilnahme am Religi­onsunterricht in den kirchlichen Räu­men war bereits sehr hoch und wird si­cherlich durch die "Kontrolle" des Prie­sters, der Lehrer und der Mitschüler in der Schule noch größer. Die Wiederein­führung des katholischen Religionsun­terrichts an staatlichen Schulen wurde von den (nichtkatholischen) Mitglieds­kirchen des Polnischen Ökumenischen Rates mit Skepsis aufgenommen. Der Rat bildete eine Kommission, die beim Erziehungsministerium ein Mitsprache­recht für die zukünftige Gestaltung des Religionsunterrichts einfordert. In ei­nem Communiqué äußerte sich der Rat besorgt über den "immer deutlicher werdenden Mangel an politischer Kultur und Toleranz" (Kathpress 6./9.8.1990) in Polen.

Umstrittene Abtreibungsgesetzge­bung

Weiter als die öffentliche Auseinander­setzung um den Religionsunterricht lie­gen die ersten Vorstöße zu einer Reform bzw. einer völligen Neuformulierung der Abtreibungsgesetzgebung zurück. Mit dem Gesetz von 1956 wurden die Bedingungen für einen zulässigen Schwangerschaftsabbruch festgelegt. Das Gesetz ließ den Schutz des ungebo­renen Lebens gänzlich außer acht und argumentierte ausschließlich von der Position des Gesundheitsschutzes einer schwangeren, auf einer Abtreibung be­stehenden Frau aus. Im Prinzip wurde mit diesem Gesetz der Schwanger­schaftsabbruch uneingeschränkt freige­geben. Polens katholische Kirche hat das Gesetz in offiziellen Erklärungen wiederholt als Produkt eines atheisti­schen Regimes abgelehnt, ebenso wie die obligatorische Einführung der Zi­vilehe im Jahre 1946 und die gesetzliche Regelung der Ehescheidung.

Seit 34 Jahren haben Millionen von Frauen in Polen legal die Schwanger­schaft abgebrochen, obwohl die Kirche hierzu einen eindeutigen Standpunkt be­zogen hatte. Der Kirchenprotest hatte keinerlei Erfolg, da sich die Zahl der Aborte nicht verringerte. Die Mehrheit der Frauen, die den Eingriff vornehmen ließen, bezeichneten sich selbst als gläubige Katholikinnen. Die polnische Gesellschaft akzeptiert, wie zahlreiche von katholischen Sozialwissenschaftlern und Theologen durchgeführte Untersu­chungen über Jahrzehnte belegen, die katholischen Moralnormen hinsichtlich der privaten Lebenssphäre nur sehr se­lektiv ...

Die Kirche selbst wird verstärkt befragt werden, wie sie ihre Rolle in einer plu­ralistischen Gesellschaft sieht, wie sie ihre reale politische Macht und ihren Einfluss geltend zu machen sucht, ob sie der Meinung ist, daß sich eine mehr­heitlich katholische Gesellschaft in ei­nem "katholischen Staat" widerspiegeln soll. Die Antworten auf diese Fragen teilen weniger Gläubige und Ungläubige in Polen als das katholische Kirchenvolk und die katholische Intelligenz selbst. Viele angesehene Persönlichkeiten aus der katholischen Kirchenbewegung be­fürchten nach dem Ende des über 40jährigen Kirche-Staat-Konflikts nun eine zu große Nähe von Staat und Kir­che, was zugleich auch eine neue Ab­hängigkeit der katholischen Kirche von den staatlichen Instanzen und politi­schen Interessengruppen bedeuten würde. Vor der katholischen Kirche in Polen steht die große Aufgabe, in einer pluralistischen Gesellschaft, die zu schützen Aufgabe des Staates ist, auf eine ganz neue Art Volkskirche zu wer­den.

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Dieter Bingen ist Wiss. Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und stellv. Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft.