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Vorfahrt NATO?
vonGeschichte wird gemacht: In den nächsten Monaten wird die Zukunft europäischer Sicherheit vorentschieden. Viel steht auf dem Spiel. Bis zum Jubiläumsgipfel der NATO im April 1999 will die Allianz drei neue Mitglieder aufnehmen. Im März wollen die NATO und die WEU ihr künftiges Verhältnis rechtlich regeln, das Maß der Eigenständigkeit Europas festlegen. Mit Blick auf das NATO-Rußland-Verhältnis müssen bis zum NATO-Gipfel die Eckdaten für die Anpassung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte festgelegt werden und es muß entschieden werden, ob ein Rüstungskontrollabkommen über taktische Atomwaffen mit Rußland zustande kommen soll. Zuguterletzt - aber von großer Bedeutung - muß die NATO selbst sich auf eine neue Strategie einigen.
Die künftige Architektur europäischer Sicherheit kann unter Orientierung an einem von zwei grundverschiedenen Modellen aufgebaut werden: Zum einen auf Basis der Prinzipien Kollektiver Verteidigung und zum anderen auf Basis der Grundüberlegungen Kollektiver Sicherheit. Fußt das erste Modell auf der Überlegung, daß die westlichen Allianzmitglieder sich gemeinsam gegen Bedrohungen und Risiken von außen zur Wehr setzen, so geht das zweite von dem Grundgedanken aus, daß alle Staaten Europas - unter Einschluß Rußlands - sich der Aufgabe stellen, gemeinsam und miteinander Sicherheit zu gestalten, auch Sicherheit voreinander. Zielt das erste Modell vor allem auf eine Neuausrichtung und Stärkung der NATO, so zielt das zweite auf eine Verbesserung der Kooperation mit Rußland und einen Ausbau der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE.
Im Zentrum westlicher Politik zur Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur steht seit Jahren - spätestens seit 1993 - das erste Modell. "NATO-First" lautet die unausgesprochene Leitlinie der sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa. Die Aufgaben der Allianz wurden sukzessive erweitert. Neben die kollektive Verteidigung des Territoriums der Mitgliedsstaaten trat zunächst die Umsetzung von UN- und OSZE-Mandaten zur Intervention außerhalb des Bündnisgebietes mit dem Ziel der Friedenserhaltung und der Friedenserzwingung. Dann wurde mit der NATO-Osterweiterung das Territorium der NATO erweitert. Nunmehr soll nicht nur die Verteidigung des Bündnisgebietes, sondern auch die Verteidigung der Interessen der NATO-Mitgliedstaaten zum Auftrag für das Militärbündnis werden. Zudem soll die lästige rechtliche Bindung von Interventionen an Mandate internationaler Organisationen endgültig abgestreift werden. Andere Fragen und ihre potentiellen Lösungen - wie zum Beispiel das Verhältnis zu Rußland, die künftige Ausgestaltung der OSZE oder rüstungskontrollpolitische Probleme - werden dieser strategischen Orientierung zu- und untergeordnet.
Das Gegenmodell, die offiziell deklarierte Politik des "OSCE first", gehört zunehmend in den Bereich politischer Rhetorik. Die OSZE soll das Konzept einer europäischen Sicherheitsarchitektur entwerfen, das in der Folge zum Wohl aller europäischen Staaten umgesetzt werden soll. Der Zusammenarbeit mit Rußland im Kontext des NATO-Rußland-Rates und der Kooperation zwischen der EU und Rußland kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Doch kann die OSZE kaum Fortschritte bei dieser diplomatischen Kernaufgabe machen. Die Mitgliedstaaten der OSZE, namentlich die Mitglieder der NATO, setzen andere Prioritäten. Erst müsse die "Neue NATO" gestaltet sein, erst müsse das NATO-WEU-Verhältnis geklärt werden, dann erst sei man in der Lage, die europäische Sicherheitsordnung der Zukunft zu beschreiben - so die Argumente. Das gesamteuropäische Dokument, das längst fertiggestellt sein sollte, wurde erneut vertagt. Jetzt soll es frühestens im Jahre 2000 fertiggestellt werden. Deutlicher kann die Vorrangstellung des "NATO First" kaum gemacht werden.
Die Zeichen für kollektive und kooperative Lösungen der europäischen Sicherheitsfragen stehen schlecht: Seit Monaten betreiben die USA eine in wachsendem Maße unilateralistische Politik - immer offensichtlicher ausgerichtet an ihren nationalen Interessen, die sie - zumindest vorgeblich - auch für die Interessen der westeuropäischen NATO-Partner halten. Einige Beispiele aus den letzten Monaten:
* Mit den militärischen Angriffen auf Ziele in
Afghanistan und im Sudan haben die USA den Willen
bekundet, das völkerrechtliche Prinzip der
Unverletzlichkeit der Grenzen von Staaten auch
dann zu mißachten, wenn der Grund des Angriffs
nichtstaatliche Akteure sind, die in diesen
Staaten agieren.
* Mit der Entscheidung, Restjugoslawien wegen der
brutalen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo
auch ohne UN- oder OSZE-Mandat Luftwaffenschläge
anzudrohen, haben die USA und in deren Gefolge die
anderen NATO-Staaten das Präjudiz für eine Politik
nicht durch die UNO oder OSZE mandatierter
Interventionen geschaffen. Ein solcher Beschluß
und erst recht ein möglicher künftiger
Militärschlag ist - nach Meinung fast aller
Völkerrechtler - klar rechtswidrig. Das Recht des
Stärkeren wird über die Stärkung des Rechts
gestellt, dessen Funktion es ja auch ist, den
Schwachen vor dem übermächtigen Starken zu
schützen. Daß dieser Rechtsbruch kollektiv durch
die NATO-Staaten begangen wird, macht es nicht
besser. Im Gegenteil: In der Verbrechensbekämpfung
wird kollektiver, organisierter Rechtsbruch als
organisierte Kriminalität bezeichnet.
* Mit den Militärschlägen gegen den Irak wurden
nicht nur Ziele in diesem Land zerstört, sondern
vor allem auch die Hoffnung, Rußland werde - wie
geplant - noch vor Jahresende den
START-II-Vertrag ratifizieren und damit den Weg
zu weiteren Abrüstungsschritten freimachen. Zudem:
Um die Schläge zu legitimieren, mußte argumentiert
werden, das schärfste rüstungskontrollpolitische
Verifikationsregime, das je existierte, die
UNSCOM, sei gescheitert. Dies impliziert die
Gefahr, daß künftig argumentiert werden muß,
Rüstungskontrollabkommen seien grundsätzlich nicht
verifizierbar. Dies schädigt
Rüstungskontrollbemühungen jeder Art.
* Mit der Ankündigung, die Stationierung eines
nationalen Raketenabwehrsystems zu planen, das SDI
des Bill Clinton, signalisieren die USA, daß sie
bereit sind, auch bilaterale Abkommen mit Rußland
aufzugeben, wenn diese Rüstungsvorhaben der USA
behindern. Auch dies ist ein Rückschlag für die
Rüstungskontrolle.
* Mit der Entscheidung, in den kommenden 6 Jahren
den US-Verteidigungshaushalt um 110 Mrd Dollar zu
erhöhen, signalisiert die stärkste Militärmacht
der Welt, daß künftig wieder aufgerüstet wird -
vor allem technologisch und qualitativ. Eine
Trendwende wird eingeleitet, der sich die anderen
NATO-Staaten anschließen sollen. Zum Vergleich:
Schon heute ist der US-Verteidungshaushalt fast so
groß wie der gesamte Bundeshaushalt. Für neue
Waffen geben die USA zweimal soviel aus, wie die
Bundeswehr ingesamt zur Verfügung hat.
Genug der Beispiele. Sie alle verdeutlichen vier wesentliche Tendenzen:
1. Die USA stellen klar, daß sie nicht länger gewillt
sind, Rußland als gleichberechtigten Partner zu
behandeln. Sie setzen darauf, die einzige
Supermacht zu sein, alleine als Weltordnungsmacht
zu fungieren. Die von Präsident Bush verkündete
"strategische Partnerschaft" mit Rußland gilt
nicht länger. Rußland wird nurmehr als
Regionalmacht betrachtet. Aus Sicht der USA
bedarf es nicht länger der Rücksicht auf seine
Interessen.
2. Das Verhältnis der USA zu multilateralen
Institutionen und Instrumenten verändert sich.
Diese werden gestützt, solange sich ihre Haltung
und Politik als Unterstützung in die
Interessenslage der USA einpassen läßt,
andernfalls werden sie notfalls gezielt
geschwächt. Die Vereinten Nationen mußten dies
sowohl hinsichtlich des Kosovos als auch im Blick
auf den Irak erfahren. Republikaner und
Marktliberale in den USA fordern mittlerweile auch
die Auflösung des Internationalen
Weltwährungsfonds.
3. Die USA haben eine Renaissance klassischer am
nationalen Interesse ausgerichteter Machtpolitik
eingeleitet, die sich nicht zuletzt auf das
Machtmittel Militär stützt. Dies impliziert eine
deutliche Tendenz zur Militarisierung der
internationalen Beziehungen.
4. Auch das Verhältnis der USA zu befreundeten
Staaten und Bündnispartnern, z.B. in der NATO ist
von diesen Entwicklungen betroffen. Diese sollen
nicht nur den Führungsanspruch der USA
akzeptieren. Sie sollen ihn gemeinsam mit den USA
umsetzen.
Ein deutlicher Ausdruck dieser Entwicklung ist die Diskussion über die neue NATO-Strategie. Wie durch ein Brennglas werden die Probleme und Tendenzen sichtbar.
Washington drängt seine europäischen Verbündeten, die NATO künftig als Bündnis zur Durchsetzung von Interessen zu verstehen. Die Allianz soll ohne geographische Begrenzung militärisch handlungsfähig werden. Die erst 1994 geschaffene Möglichkeit, von der UNO oder der OSZE autorisierte, friedensunterstützende militärische Interventionen durchzuführen, soll von der Voraussetzung eines Mandates der internationalen Völkergemeinschaft entbunden werden. Ein Beschluß der NATO-Staaten soll künftig ausreichen. Der Kern des militärischen Potentials des Bündnisses soll zu einem schlagkräftigen, flexiblen, über große Entfernungen verlegbaren und großräumig einsetzbaren Interventionsinstrument umgestaltet werden. Die militärischen Kräfte sollen so bemessen sein, daß ein Regionalkrieg, größer als der Golfkrieg 1991, sowie gleichzeitig eine friedensunterstützende Maßnahme parallel und über eine längere Dauer durchgeführt werden können. Ein militärischer Grundschutz des NATO-Territoriums soll gesichert bleiben. Die neuen militärischen Fähigkeiten sollen mit zahlenmäßig kleineren, aber hochmodernen und flexiblen Streitkräften erreicht werden, zu denen Europa im Rahmen der Lastenteilung erheblich beitragen soll. Aus Sicht der USA stehen die europäischen NATO-Staaten deshalb vor der Aufgabe, die technologische Modernisierung ihrer Streitkräfte nachzuholen und in erheblichem Umfang zu investieren. Die verbesserten europäischen militärischen Handlungsmöglichkeiten sollen - falls die USA zustimmen - auch eigenständig unter Führung der WEU einsetzbar sein. Selbst die militärische Insignie des Kalten Krieges, die Nuklearwaffe, soll nach den Vorstellungen Washingtons aus dem Kontext der Ost-West-Problematik herausgelöst und zusätzlich nach Süden ausgerichtet werden. Nuklearwaffen sollen künftig zur Abschreckung und Bekämpfung aller Besitzer von Massenvernichtungswaffen bereit gehalten werden. Die Option eines Ersteinsatzes muß deshalb unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben.
Die europäischen NATO-Staaten stehen vor unliebsamen Entscheidungen. Im Gegensatz zu den USA sehen sie in der NATO allenfalls ein regionales Ordnungs- und Interventionsinstrument, nicht aber einen globalen Akteur. Um dies zu verdeutlichen, habe man durchgesetzt, daß die NATO zu den amerikanisch-britischen Angriffen auf den Irak keine Stellungnahme abgebe. Dies sei, so Bundesverteidigungsminister Scharping, "keine Aufgabe für die NATO".
Und doch bleibt die Frage der mittel- und längerfristigen Zielsetzung der Europäer in der NATO: Gehen sie auf die Forderungen der USA ein und entwickeln die Allianz zu einem wesentlichen Element, um unter Führung Washingtons eine zunächst regionale und dann weltweite Ordnungsmachtfunktion zu erfüllen? Setzen sie diesen Forderungen hinhaltenden Widerstand entgegen? Zielen sie auf den Aufbau eigenständiger, europäischer Strukturen, die - falls erforderlich - auch ein Gegengewicht zu Washington darstellen können? Was wollen sie selbst? Geht es ihnen vorrangig darum, die USA in multilateralen Strukturen eingebunden zu halten und einen vollständigen Unilateralismus zu verhindern? Wollen sie künftig eigenständig geopolitische Interessen formulieren und diese auch längerfristig selbständig umsetzen? Wollen sie versuchen, ein ziviles, politisches Gegenmodell zu einer militärisch dominierten Weltordnung zu entwickeln? Der Diskurs über die künftige Rolle der NATO hat die Grundfragen europäischer Selbstverständigung auf die Tagesordnung gesetzt.
Der Dilemmata sind viele. Jeder Versuch, Washington durch Mitmachen im Rahmen der NATO einzubinden, impliziert, auch die negativen Folgen einer solchen Politik mitzuverantworten und zu helfen, sie durchzusetzen. Jeder auf die Schaffung größeren Handlungsspielraums gegenüber den USA zielende Versuch, Europa eigenständige militärische Fähigkeiten zu geben, läuft einerseits Gefahr, die USA und möglicherweise auch deren interventionistische Politik zu imitieren. Andererseits besteht das Risiko, daß das wichtigste Bindeglied transatlantischer Beziehungen zerstört wird - die militärische Integration und Zusammenarbeit. Sie stellt innerhalb der NATO seit langem die gewichtigste Rückversicherung dar, daß die ökonomischen Konkurrenten USA und EU nicht ungedämpft aufeinanderprallen können. Gerade hier liegt vielleicht die größte Gefahr, die durch die unilateralistische Politik Washingtons entsteht. Hinzu kommt, daß eigenständige europäische militärische Fähigkeiten nur im Rahmen der EU geschaffen werden können. Diese hat bislang keine militärischen Aufgaben.
Europa und die USA - das Kaninchen vor der Schlange - so der Eindruck, der sich aufdrängt. Der Welt größter Wirtschafts- und Währungsraum beklagt im geschlossenen Chor seiner nationalen Regierungen mangelnden Handlungsspielraum und setzt - Europa muß eigenständiger werden - auf mittel- und längerfristige Abhilfe. Die Frage, ob der Handlungsspielraum Europas größer ist als jener, den die europäischen Regierungen nutzen, wird darüber nicht mehr gestellt. Doch die Vorentscheidungen fallen in Kürze. Angesichts des drohenden ungleichen Kampfes der Giganten gerät die drängende Frage nach einem langfristig tragfähigen Sicherheitskonzept für Europa und Rußland in den Hintergrund. Leider. Geschichte wird gemacht.