Interventionsmacht Deutschland

Vormarsch des Militarismus

von Clemens Ronnefeldt
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Martin Jäger, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat am 6.9.2020 in der F.A.Z einen Gastbeitrag veröffentlicht mit dem Titel: “Neue strategische Lage - Deutschland sollte interventionsfähig sein“. (1)

Darin schreibt er: “So endet die Ära amerikanisch geführter Interventionen. Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Irak und Libyen sind ihre markanten Stationen. Die Bilanz fällt zwiespältig aus, zu hoch waren die Kosten an Menschenleben und Geld. Im Berliner Betrieb hoffen manche, nun werde die Bundeswehr von der Einsatzstreitkraft zur Heimatschutzarmee zurückgebaut. Das wäre ein Fehler. Die Bundesrepublik wird sich auch künftig an Interventionen beteiligen müssen. Mehr noch: Deutschland und Europa sollten aus eigener Kraft interventionsfähig werden."

Wie passt diese Forderung zum Grundgesetz, Art. 87a: "(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. (…) (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“?

Martin Jäger schreibt weiter: “Die Bundesrepublik muss ihr Verhältnis zur Intervention überdenken. Intervenieren bedeutet, einen Konflikt durch Einmischung von außen zur Entscheidung zu bringen. Eine solche Machtprojektion kann unterschiedliche Gestalt annehmen: von der diplomatischen Drohung über die Verhängung von Sanktionen und die Waffenlieferung bis zum Einsatz militärischer Gewalt. Die Intervention ist die kleine Schwester des Krieges und die giftige Freundin der Diplomatie – nicht eben die Gesellschaft, in der wir Deutsche uns gern aufhalten.“

Wie passen diese Aussagen zur in Deutschland verbindlichen Charta der Vereinten Nationen, Art. 2, Ziffer 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“?

Nach Artikel 25 des Grundgesetzes ist diese Aussage verbindliches Völkerrecht in Deutschland und geht dem Grundgesetz vor.

Martin Jäger endet mit den Sätzen: „Es fehlt uns nicht an militärischen Fähigkeiten, politischer Wille zählt. Drei Vorschläge: Der Bundestag billigt künftig auf Basis europäischer Mandate den bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland. Ausbildern der Bundeswehr wird im Einsatz erlaubt, einheimische Einheiten ins Gefecht zu begleiten. Deutschland liefert Partnern wie der Ukraine in Notsituationen Milan-Lenkwaffen zur Selbstverteidigung. Damit wären erste Schritte getan.“ 

Warum haben diese Sätze bisher keinerlei Konsequenzen für Herrn Jäger gehabt?

Entmachtung des Bundestags?
Der erste Vorschlag entmachtet das deutsche Parlament, indem dieses nur noch „billigen" soll, was auf EU-Ebene als Kriegseinsatz beschlossen wurde, der zweite ruft zum aktiven Sammeln von Kriegserfahrungen in fremden Ländern auf, der dritte schlägt einen Gesetzesbruch vor: Nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz besteht das Verbot, deutsche Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu exportierten.

Der Historiker Sönke Neitzel hat für sein umfangreiches Grundlagenwerk „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ (Berlin, 2020) mit rund 200 Zeitzeugen gesprochen, von denen die meisten noch aktive Bundeswehr-Soldat*innen sind. Das Buch zeigt, dass der Vorschlag von Herrn Jäger zum Sammeln von Kriegserfahrungen bereits vor knapp drei Jahrzehnten umgesetzt wurde: „Weitgehend unbekannt ist, dass inoffiziell schon seit 1991 rund 200 bis 300 Bundeswehrsoldaten als Freiwillige im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften. Insbesondere aus den Garnisonen in Süddeutschland fuhren viele Männer auf ein verlängertes Wochenende oder im Urlaub an die Front, um Kampferfahrung zu sammeln. Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete. Etliche deutsche Soldaten, die auf kroatischer Seite mitkämpften, waren Fallschirmjäger, manche waren vor ihrer Bundeswehrzeit bei der Fremdenlegion gewesen. Abenteuer- und Kriegergeist standen wohl im Mittelpunkt dieser Reisen an die Front, andere wollten den bedrängten Kroaten zu Hilfe eilen.“ (S. 466)

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit leben etliche dieser 200 bis 300 Bundeswehrsoldaten noch. Werden gegen sie und vor allem gegen ihre Vorgesetzten nun Strafermittlungen eingeleitet werden?

Welche Konsequenzen werden die Aussagen von Sönke Neitzel bezüglich seiner Buchpassagen zum Afghanistan-Krieg haben?

Krieg in Afghanistan
Auf Seite 547 schreibt er: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. Und wenn US-Spezialkräfte nachts Taliban-Kommandeure töteten, brachte das auch der Bundeswehr mehr Sicherheit. Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten.“

Auf Seite 551 ergänzt Sönke Neitzel: “ (...) so waren selbst hartgesottene Soldaten des KSK erschüttert, als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten.“

Warum haben die genannten Bundeswehrsoldaten diese Kriegsverbrechen bisher nicht zur Strafverfolgung an die Bundesregierung weiter gegeben?

Anfang September 2020 berichtete die Süddeutsche Zeitung darüber, dass US-Außenminister Mike Pompeo die Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof, Fatou Bensouda, sowie einen hochrangigen Mitarbeiter auf die Sanktionsliste gesetzt hat. „Das heißt, sie werden gleichgesetzt mit Terroristen, ihr Vermögen in den USA kann eingefroren werden." (SZ, 3.9.2020).

Wird sich die Bundesregierung hinter die Chefanklägerin stellen und sie bei ihrem Bemühen um Gerechtigkeit unterstützen?

Anlass zur Besorgnis gibt auch die von Botschafter Wolfgang Ischinger vorgestellte neue Studie der Münchner Sicherheitskonferenz vom Oktober 2020 „Zeitenwende – Wendezeiten“ (2). Auf 220 Seiten wirbt sie für eine stärkere Militarisierung der deutschen Außenpolitik.

Am 28. Oktober 2020 schrieb Josef Joffe in der Wochenzeitung „Die Zeit": „Wer die Waffen scheut, muss verhindern, dass andere sie gegen das eigene Land richten. Das nennt man Abschreckung, und die erfordert leider Kampffähigkeit. Die fehlt der Bundeswehr, was aber nicht ihre Schuld ist, sondern tief verwurzelt im kollektiven Bewusstsein steckt." (3).

Gegenstimme zur stärkeren Militarisierung deutscher Außenpolitik
Charlotte Wiedmann schrieb in der Berliner „taz“ am 28.10. 2020 unter dem Titel „Vormarsch des Militarismus: Vom Mythos der Reife" (4): „Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte liefern allen Grund, Interventionen mit höchster Skepsis zu betrachten: vom Experiment Kosovo, wo 60.000 Nato-Soldaten in einem Gebiet von der halben Größe Schleswig-Holsteins eingesetzt wurden, über die Kriege in Irak und Libyen bis zum Desaster in Afghanistan. (...)

Wären Fakten von Bedeutung, müsste es heute leichter sein, gegen Waffengänge zu plädieren. Dennoch ist das Nein geächtet. Weil es kaum mehr abweichende Welterklärungen gibt, kaum Alternativen zu den allgegenwärtigen sicherheitspolitischen Mythen, die – grob umrissen – den Planeten aufteilen in ein aggressives Russland, ein herrschsüchtiges China, einen schiitischen Krisenbogen und ein migrationswütiges Afrika.

Erstmals wurde dieses Jahr das Nato-Manöver „Steadfast Noon“, bei dem auch deutsche Piloten den Einsatz US-amerikanischer Atomwaffen trainieren, nicht mehr geheim gehalten. Nuklearwaffen offensiv zu bewerben gehört zur neuen Ausrichtung der Nato; die Öffentlichkeit nimmt es hin.

In keinem anderen Bereich ist die Unterwerfung unter herrschende Ideologien so still und so umfassend. Der rumorenden zivilgesellschaftlichen Ermächtigung in Fragen von Klima, Verkehr oder Agrarpolitik steht eine erschütternde Entmächtigung bei dem Thema Sicherheit gegenüber. Selbst die Rüstungsindustrie wird von Kritik weitgehend verschont – als wären Waffensysteme, neben allem anderen, nicht auch Klimakiller.
Deutschland ist viertgrößter  Rüstungsexporteur, doch der Einfluss der entsprechenden Konzerne wird kaum behelligt.

Die SPD will nun bewaffnete Drohnen. Automatisiertes Töten als sozialdemokratische Ethik – warum schreit da kaum jemand auf in der Partei?

Während das kritische linke antirassistische Spektrum vollauf mit dem Ringen um die inneren gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigt ist, verbreitet sich in der Außenpolitik und in den Fragen von Krieg und Frieden ungestört eine rechtsgewirkte Hegemonie. Der flagrante Rechtsextremismus im Kommando Spezialkräfte müsste alarmieren“.

Werden die Gewaltenteilung in Deutschland und die Demokratie in Deutschland insgesamt in der Lage sein, einem immer stärker entgrenzten Militarismus in Deutschland mit Verweis auf Grundgesetz und Völkerrecht Einhalt zu gebieten?

Es wird höchste Zeit, dass Gewerkschaften, Kirchen, kritische Soldatinnen und Soldaten sowie die Zivilgesellschaft in Deutschland die Zeichen der Zeit erkennen – und ins Handeln kommen.

Anmerkungen
1 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutschland-sollte-interventi...
2 https://securityconference.org/assets/01_Bilder_Inhalte/03_Medien/02_Pub...
3 https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/schweden-aufruestung-militae...
4 https://taz.de/Charlotte-Wiedemann/!a1607/

Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.