Nationale Sicherheitsstrategie

Vorrang für menschliche Sicherheit?

von Ute Finckh-Krämer
Hintergrund
Hintergrund

Die Forderung nach einer Nationalen Sicherheitsstrategie nach dem Vorbild anderer Länder wie den USA oder Großbritanniens wird in Deutschland seit Langem erhoben. So befasst sich schon 2012 ein Fachartikel mit der Frage nach „best practice“ bei der Erstellung nationaler Sicherheitsstrategien im Hinblick darauf, ob eine solche auch für Deutschland sinnvoll sei.. (1) Im Bundestagswahlkampf 2013 forderten sowohl die FDP als auch die CDU eine Nationale Sicherheitsstrategie. (2) 2015 gab es dazu ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. (3) Insofern ist es fast verwunderlich, dass erst 2021 in einem Koalitionsvertrag vereinbart wurde: „Wir werden im ersten Jahr der neuen Bundesregierung eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen.“ (4)

Warum also gerade 2021? In der Wahlperiode 2013 bis 2017 wurden einerseits ein neues Weißbuch (2016), andererseits die außenpolitischen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (2017) erarbeitet. Damit waren von einer Großen Koalition sowohl für die klassische Sicherheitspolitik als auch für die Außen- und Entwicklungspolitik neue Grundlagendokumente erstellt worden. Bei der Fortsetzung dieser Koalition 2017 bis 2021 kam das Thema Nationale Sicherheitsstrategie also nicht auf den Tisch. Dann jedoch ließ sich 2020 mit der Coronapandemie nicht mehr verdrängen, dass es Bedrohungen für das Leben der Bundesbürger*innen gibt, die sich mit militärischen, polizeilichen oder außenpolitischen Mitteln nicht bekämpfen lassen. Damit rückte der Begriff der „menschlichen Sicherheit“ wieder stärker in den Blick, der im Rahmen der Milleniumsziele der Vereinten Nationen Anfang des Jahrtausends geprägt worden war. Auch die Folgen der Klimaerwärmung lassen sich ganz offensichtlich nicht mit Waffen abmildern, im Gegenteil, die überdimensionierten Militärapparate vieler Staaten und die aktuellen Kriege und Bürgerkriege tragen nicht unerheblich zur Klimaerwärmung bei. So erklärt sich das Adjektiv „umfassend“ in der Formulierung des Koalitionsvertrags von 2021.

Änderung der Planung nach dem 24.2.22
Durch den Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 veränderten sich allerdings die Rahmenbedingungen für die Erstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie grundlegend. Der vereinbarte formale Rahmen blieb - mit einer Auftaktveranstaltung im Auswärtigen Amt am 18. März 2022 begann der Erstellungsprozess unter Federführung des Auswärtigen Amtes. Es wurde auch ein breiter Beteiligungsprozess gestartet mit Dialogveranstaltungen, Fachworkshops und Abstimmungsprozessen zwischen den wichtigsten Ministerien. (5) Aber schon die Auftaktrede von Außenministerin Baerbock machte deutlich, dass die klassische militärbasierte Sicherheitspolitik inklusive der Rolle Deutschlands in der NATO ein zentrales Thema sein würde. (6)

Ende September endete der Beteiligungsprozess, die Fertigstellung wurde für Anfang 2023 angekündigt. Ähnlich wie bei der Erstellung des Weißbuchs 2016 – und anders als bei der Erstellung der außenpolitischen Leitlinien 2017 - wurde sorgfältig darauf geachtet, dass keine Entwurfsfassungen an die Öffentlichkeit gelangten, was den Kreis der an der Ausformulierung Beteiligten extrem begrenzte. Das behinderte allerdings den Abstimmungsprozess innerhalb des Kabinetts, von der Beteiligung des Bundestags und der Länder ganz zu schweigen. Aktuell – d.h. zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Hefts - ist noch nicht absehbar, wann die Sicherheitsstrategie veröffentlicht wird. In der Öffentlichkeit und den Medien ist daher viel darüber spekuliert worden, welche inhaltlichen Differenzen zwischen dem Kanzleramt und diversen Ministerien daran schuld sein könnten. Je länger der Prozess dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine Einigung auf Formelkompromisse geben wird.

Gleichzeitig haben etwa 50 Friedensorganisationen am 6. März 2023 die Verzögerung genutzt, um in einem gemeinsamen Aufruf mit dem Titel „Sicherheit braucht starke zivile Friedensfähigkeiten“ deutlich zu machen, was sie von einer Nationalen Sicherheitsstrategie erwarten: „Die Bundesregierung muss sich mit der Nationalen Sicherheitsstrategie zum Ausbau von ziviler Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung verpflichten.“ (7)

Nach den im Beteiligungsprozess behandelten Themen zu schließen wird der Sicherheitsstrategie ein breiter Sicherheitsbegriff zu Grunde gelegt, der innere und äußere Sicherheit, Cybersicherheit, Sicherheit der Energieversorgung und wichtiger Lieferketten und vermutlich auch Sicherheit vor den Folgen der Klimaerwärmung umfasst. Die Nationale Sicherheitsstrategie soll anscheinend auch nicht bisherige außen- und sicherheitspolitische Regierungsdokumente wie das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016 oder die außenpolitischen Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ von 2017 ersetzen, sondern eher ergänzen und fortschreiben. Die im Koalitionsvertrag angekündigte China-Strategie (8) wird vermutlich erst nach der Nationalen Sicherheitsstrategie im Kabinett abgestimmt und veröffentlicht werden. Alles andere ist unsicher.

Mindestens so sehr wie die Nationale Sicherheitsstrategie sollte die Friedensbewegung daher die mittelfristige Finanzplanung im Auge behalten. Nach dem Stand Mitte März sind ab 2024 starke Einschnitte in den Haushalten des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geplant. Hier gilt es, rechtzeitig vor der ersten Haushaltswoche im Bundestag (Anfang September) gegen Kürzungen in den friedenspolitisch relevanten Titeln zu protestieren.

Anmerkungen

  1. Giegerich, Bastian; Jonas, Alexandra (2012): Auf der Suche nach best practice? Die Entstehung nationaler Sicherheitsstrategien im internationalen Vergleich. In: Sicherheit und Frieden S+F (30. Jg.) 3/2012, S. 129–134. Online verfügbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0175-274x-2012-3-129/auf-der-suche...
  2. Vgl. https://augengeradeaus.net/wp-content/uploads/2013/09/Wahl2013-sicherhei...
  3. Deutscher Bundestag: Lehren aus dem Ausland und Argumente für die Erarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland. Ausarbeitung WD 2 - 3000 – 049/15. Online verfügbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/406034/d832746db5f301dd06e6440767...
  4. Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021, S. 144. Online unter https://www.spd.de/koalitionsvertrag2021/
  5. Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/sicherheitspolitik/nati...
  6. Baerbock, Annalena: Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens. Rede am 18.3. 2022, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherhei...
  7. Online z.B. unter https://www.forumzfd.de/de/sicherheitsstrategie-muss-frieden-staerken
  8. Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 124

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