Bewegung nötig nach Nichtverbreitungskonferenz

Vorwärts – oder doch vergessen…?

von Regina Hagen

Zwei Buchstaben machen durchaus einen Unterschied. „Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages [NVV] nimmt im letzten Moment Abschlussdokument an; obschon nicht perfekt, kann der komplexe Text Fortschritt auf allen Fronten fördern, sagt Sprecher.“

„Fortschritt fördern“ (advance progress), denke ich verwundert beim Lesen der Überschrift eines offiziellen UN-Berichts (1) vom letzten Tag der vierwöchigen Überprüfungskonferenz in New York. Merkwürdige Formulierung, und Fortschritte sind im abschließenden Konsenspapier äußerst sparsam gesät. Also schaue ich nochmals genauer hin – und erkenne meinen Lesefehler: „Prozess fördern“ (advance process) heißen die fraglichen Worte in Wirklichkeit.

Dennoch merkwürdig. Welchen Prozess? Abrüstung jedenfalls wurde von den Delegierten aus 172 Staaten (dem NVV gehören insgesamt 189 Länder an) am Ende nicht beschlossen – spürbare und zügige Schritte in die atomwaffenfreie Welt aber müssen Gradmesser für den Erfolg solcher Treffen sein. Also lese ich weiter in dem Bericht:

„Nach intensiven Verhandlungen und zeitweise hitzigen Kontroversen brachten die Vertragsstaaten des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) heute die Konferenz 2010 zu Ende, die zur Überprüfung und Förderung des bahnbrechenden Übereinkommens von 1968 zusammenkam. Einstimmig verabschiedeten sie ein Abschlussdokument mit Schritten, die Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung beschleunigen, Nichtverbreitung fördern und auf eine kernwaffenfreie Zone im Nahen Osten hinwirken.“

Kernwaffen und der Friedensprozess im Nahen Osten
Letzteres ist tatsächlich wahr. Die Konferenz bestätigte u.a. eine wichtige Resolution von 1995, die im Hinblick auf den Friedensprozess im Nahen Osten betont, wie wichtig es ist, eine Zone frei von Kern- und anderen Massenvernichtungswaffen in der Region zu schaffen.

Um bei diesem Thema endlich weiter zu kommen, wurde Israel dieses Jahr namentlich aufgefordert, dem NVV beizutreten. Israel konnte sich nicht wehren, als Nicht-Vertragsstaat saß es nicht mit am Tisch. Iran hingegen schaffte es, dass der an Teheran gerichtete Appell, den Vertrag in vollem Umfang einzuhalten – d.h. Nuklearaktivitäten nur in enger Kooperation mit der Internationalen Atomenergieorganisation und gemäß den Anforderungen des Sicherheitsrates durchzuführen – lediglich stark abgeschwächt und indirekt formuliert Eingang in das Abschlussdokument fand – Iran saß mit Saal und konnte mit seinem Veto drohen.

Des weiteren beschlossen die Delegierten, dass einige Staaten mit Unterstützung des UN-Generalsekretärs im Jahr 2012 eine Konferenz über die Einrichtung einer kern- und massenvernichtungswaffen-freien Zone im Nahen Osten ausrichten sollen, an der alle Staaten der Region teilnehmen. Dafür soll ein Beauftragter berufen werden, der sich mit Nachdruck um das Thema kümmert.

Diese Beschlüsse sind zu begrüßen, auch wenn Skepsis angebracht ist bezüglich der Umsetzungschancen. „Da Israel den Nichtverbreitungsvertrag nicht unterzeichnet hat, ist Israel auch nicht an die Entscheidungen der Überprüfungskonferenz gebunden“, ließ die Regierung aus Tel Aviv unverzüglich wissen – das war knapp zwei Tage vor dem Überfall auf die Gaza-Flotilla. Und ein Beitritt Israels zum NVV ist auf absehbare Zeit undenkbar, schließlich müsste das Land dazu sein Kernwaffenarsenal zuerst aufgeben und unter strenger Überprüfung vernichten.(2) Überdies ist es ein Kunststück, Israel und Iran offiziell an einen Verhandlungstisch zu bringen, hat Iran doch die Existenz des Staates Israel bislang nicht anerkannt.

Konkrete Abrüstungsschritte fehlen ganz
Die fünf Kernwaffenstaaten sagen in dem Abschlussdokument zu, „konkreten Fortschritt der Schritte Richtung nuklearer Abrüstung zu beschleunigen, die im Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz 2000 festgelegt wurden“. Tempo machen sieht anders aus, wurden der 13-Punkte-Plan von 2000 in den vergangenen zehn Jahren von den Kernwaffenstaaten ohnehin schon ignoriert. Außerdem wurde bei den tage- und nächtelangen Verhandlungen die Sprache merklich abgeschwächt. Im ersten Entwurf wurden noch juristisch verbindliche Formulierungen verwendet („the nuclear-weapon states shall…“), im Abschlussdokument sind es nur noch vage Absichtserklärungen („the nuclear weapon states commit to…“).

Überdies wurde jeglicher Zeitplan gestrichen. Nachdem die Kernwaffenstaaten unter Verweis auf mangelnde Konsensfähigkeit alle greifbaren Verpflichtungen – z.B. Beratungen der fünf Länder über nukleare Abrüstung im Jahr 2011, Berichterstattung an die Vertragsstaaten im Jahr 2012 und eine internationale Konferenz zur Erarbeitung einer Roadmap zur Abrüstung sämtlicher Kernwaffen mit Messkriterien und einem bestimmten Zieltermin – vom Tisch wischten, sind sie jetzt lediglich aufgerufen, im Jahr 2014 über ihre Abrüstungsfortschritte zu berichten.

Ganz unter den Tisch gefallen sind im Abschlussdokument trotz gewisser Versuche der Bundesregierung, das Thema einzubringen, Forderungen nach dem Abzug der taktischen US-Atomwaffen, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO immer noch in fünf europäischen Ländern stationiert sind. Der Entschlüsselung von Hieroglyphen kommt es gleich, die Erwähnung dieser Waffen aus der Aufforderung herauszulesen, die Kernwaffenstaaten sollten bei den weiteren Schritten zur nuklearen Abrüstung „die Frage aller Kernwaffen unabhängig von ihrem Typ oder Ort“ adressieren.

Verbreitungsrisiko steigt bei nuklearer Renaissance
Breiten Raum in der Diskussion der vier Wochen nahm die Nichtverbreitung ein, konkrete Schritte zu ihrer Stärkung (z.B. obligatorische Ausweitung der Rechte der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO) wurden aber auf Drängen der blockfreien Staaten ausgespart. Um so euphorischer fiel das Kapitel zur „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ aus.

Nicht nur bestätigt der Text das „unveräußerliche Recht aller Vertragsstaaten“ zur „friedlichen Nutzung von Kernenergie“ aus Artikel IV NVV, sondern dieses Recht wird (historisch nicht haltbar) flugs zu „einem fundamentalen Ziel des Vertrages“ erklärt. In New York ist die nukleare Renaissance angekommen. Kernenergie zur Stromgewinnung und für andere Zwecke wird als Lösung für große Menschheitsprobleme gesehen: Sie soll „Energiebedarf decken, Gesundheit verbessern, Armut bekämpfen, Umwelt schützen, Landwirtschaft entwickeln, die Nutzung von Wasserressourcen managen sowie Industrieprozesse optimieren und so dabei helfen, die Millenium-Entwicklungsziele zu erreichen”.

Dass der Fall Iran selbst dann, wenn er anders bewertet wird als vom Weißen Haus oder der deutschen Bundesregierung, unmissverständlich das Ausbruchpotential ziviler Kerntechnologie für militärische Zwecke zeigt, ging in diesem Nuklearhype unter. Und aus Berlin wurden diesbezüglich von der Kernenergie-freundlichen CDU-CSU-FDP-Koalition keinerlei Bedenken angemeldet.

NGOs fordern Nuklearwaffenkonvention
Bei diesem wie anderen Themen mischten sich hingegen die Nichtregierungsorganisationen (NROs) kräftig ein. Laut UNO wurden für die Konferenz 1.155 VertreterInnen von 121 NROs akkreditiert. Zu den ca. 90 Deutschen vor Ort gehörten etwa 70 Jugendliche und junge Erwachsene mit ihren jeweils eigenen Schwerpunkten und Aktionen. 126 side events haben die NROs in den vier Wochen in der UNO organisiert, eine große Demonstration quer durch die Stadt und ein dreitägiger Gegenkongress in der durch Martin Luther King jr. bekannt gewordenen Riverside Church sind da noch gar nicht mitgezählt.

Schon im Vorfeld brachten Atomwaffen-abschaffen-Gruppen, Think Tanks und internationale Kommissionen ihre Forderungen vor; in Deutschland geschah dies im Rahmen der Kampagne unsere zukunft – atomwaffenfrei. Vor allem der Ruf nach einer Nuklearwaffenkonvention wurde immer lauter – und von vielen Diplomaten gehört und verstanden. Neben der blockfreien Bewegung griffen etwa 20 Staaten den Vorschlag auf, in einem völkerrechtlich bindenden (Rahmen-) Vertrag die nötigen Schritte bis zur kernwaffenfreien Welt aufzulisten, zu definieren, mit Zeitmarken und Messkriterien zu versehen und strikt zu überprüfen. Niemals zuvor war die Unterstützung für ein solches Vorgehen so groß. Daher ist es als gewisser Erfolg der NGO-Arbeit anzusehen, dass das Konzept einer Nuklearwaffenkonvention im Abschlussdokument unter Verweis auf einen Abrüstungsplan des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon erwähnt wird.

Wir wollen vorwärts und nicht vergessen…
Damit dürfen wir uns aber keinesfalls zufrieden geben, zumal im Mai in New York in einem politisch eher abrüstungsfreundlichen Umfeld auf mehrere Jahre die Chance vertan wurde, im Kontext des Nichtverbreitungsvertrags den Weg in die kernwaffenfreie Welt einzuschlagen. NGOs in vielen Ländern werden die Lobbyarbeit für eine Nuklearwaffenkonvention – allem Anschein nach mit Unterstützung einiger (auch europäischer) Länder – intensivieren.

In den NATO-Ländern steht für die Friedensbewegung außerdem eine wahrnehmbare Einmischung in die Debatte um das neue Strategische Konzept der NATO und der darin enthaltenen Kernwaffendoktrin an. Die Kampagne unsere zukunft – atomwaffenfrei will dies unter dem Motto „65 Jahre – Atomwaffen a.D.“ u.a. mit einer an Verteidigungsminister Guttenberg gerichteten Postkartenaktion tun. Wir haben die Lehre aus Hiroshima und Nagasaki vor 65 Jahren nicht vergessen und wollen bei der nuklearen Abrüstung rasch vorwärts gehen. Gehen Sie doch mit, auf atomwaffenfrei.de finden Sie die nötigen Informationen dazu.

 

Anmerkungen
(1) Das Department of Public Information der Vereinten Nationen gibt bei Konferenzen täglich einen Überblick über die offenen Sitzungen, so auch bei der NVV-Überprüfungskonferenz. Die so genannte Meeting Coverage ist – mit einigen unbelegten Nummern – von 3226 bis 3243 durchnummeriert; die des letzten Tages steht unter www.un.org/News/Press/docs//2010/dc3243.doc.htm.

(2) Der NVV anerkennt nur die Länder als Kernwaffenstaaten, die bis 1967 einen Kernwaffentest durchgeführt hatten. Dazu gehört Israel nicht, es könnte dem Vertrag daher nur kernwaffenfrei beitreten.

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Sprecherin der Kampagne "Büchel ist überall – atomwaffenfrei.jetzt“ und ehemals verantwortliche Redakteurin der Quartalszeitschrift "Wissenschaft & Frieden".