Über Alternativen zwischen Pest und Cholera im Iran-Atomkonflikt

Vorwand Atomwaffensperrvertrag

von Mohssen Massarrat

Die friedliche Nutzung der Atomenergie war historisch gesehen ein Nebenprodukt der Atombombe. Acht Jahre nach der Zündung der ersten Atombombe in Hiroshima ebnete Eisenhower 1953 mit seiner programmatischen „Atoms for Peace“-Rede vor der UNO den Weg für den Beginn der kommerziellen Nutzung der Atomenergie und die Schaffung eines weltweit neuen und ökonomisch viel versprechenden Industriezweiges. Atomreaktoren wurden alsbald Exportschlager. Alle Beteiligten wussten aber von Anfang an ziemlich genau: wer über Atomreaktoren verfügt, der hat auch den Schlüssel zu Atombomben. So standen die fünf Atomstaaten und die internationale Atomindustrie vor dem schwerwiegenden Dilemma, wie das Geschäft mit den Atomreaktoren weltweit gesichert werden kann, ohne gleichzeitig das Monopol der Atommächte auf Atomwaffen aufzugeben zu müssen.

Die Lösung des Atomclubs ließ nicht lange auf sich warten. 1957 wurde die Internationale Atomenergie-Organisation(IAEO) gegründet, die ausdrücklich die Verbreitung der Atomenergie ganz im Interesse der Atomindustrie fördern sollte. 1970 trat der Vertrag für die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Nuclear Non Proliferation Treaty NPT) in Kraft, der die Rechte und Pflichten der Mitgliedsstaaten regelte. Der NPT, Artikel II, verbietet den Mitgliedsstaaten „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper her(zu)stellen oder auf andere Weise (zu) erwerben“, während der Artikel IV „ die zivile Kerntechnik“ als „ein unveräußerliches Recht für jeden Vertragstaat“ festschreibt und die IAEO verpflichtet, “die friedliche Nutzung der Kernenergie zu fördern“.

Doch entwickelte sich der NPT selbst – ursprünglich zur Lösung des Problems der doppelten militärischen und zivilen Nutzung der Atomtechnik geschaffen – zu einem neuen Dilemma: Erstens wird er von vielen Vertragsmitgliedern nicht ernst genommen, weil die Atomwaffenmächte selbst ihn mit Füßen treten, indem sie sich an die eigene Selbstverpflichtung zur Abrüstung ihrer Atomwaffen nicht halten, wie es der Artikel VI des NPT von ihnen verlangt. Zweitens wird der NPT dadurch desavouiert, dass die USA und die EU ihn willkürlich und nach eigenem Gutdünken auslegen und behandeln. Einigen Staaten, wie z.B. Brasilien, Argentinien, Südafrika, Deutschland, die alle keine Atomwaffenstaaten sind, dürfen auf eigenem Territorium, wie in Artikel IV des NPT festgeschrieben, die Urananreicherung unter der Kontorolle der IEAO betreiben, anderen Staaten, wie dem Iran, soll dagegen dieses Recht grundsätzlich verwehrt werden. Der double standard ist aus meiner Sicht inzwischen ein großes Hindernis im Iran-Atomkonflikt, der seit 8 Jahren andauert und immer noch auf der Stelle tritt. Entscheidend ist jedoch, dass beide Seiten, USA und EU einerseits und der Iran andererseits, den NPT als Vorwand für die Durchsetzung ihrer entgegengesetzten sicherheitspolitischen Interessen im Mittleren und Nahen Osten instrumentalisieren.

Sicherheitsdilemma im Mittleren und Nahen Osten
In dieser Region herrscht nämlich, um zunächst einmal das sicherheitspolitische Problem näher darzustellen, seit Israel im Besitz von 200 bis 300 atomaren Sprengköpfen ist - und daran besteht nicht der geringste Zweifel -, ein klassisches Sicherheitsdilemma. Zwar mag Israel für seine Entscheidung, die Sicherheit seiner Bevölkerung mit Atomwaffen herstellen zu wollen, plausible Gründe gehabt haben. Tatsächlich kann konventionelle militärische Machtungleichheit zwischen verfeindeten Staaten durch die Aufstellung von Atomwaffen ausgeglichen werden, wie dies durch die „Nachrüstung“ in Europa zu Beginn der 1980er auch geschah. Angesichts der faktischen Übermacht der Israel umgebenden arabisch-islamischen Staaten (Bevölkerung, Ressourcen, Soldaten, Waffenarsenale) erscheint insofern Israels Atomarsenal sicherheitspolitisch zunächst plausibel. Ebenso plausibel erscheint allerdings auch, dass Israels atomare Vorherrschaft von allen anderen Staaten in der Region objektiv als Bedrohung für ihre Sicherheit empfunden werden muss. Um das eigene Sicherheitsdilemma zu lösen, hat Israel also ein neues geschaffen, allerdings für die anderen Staaten. Nun haben sich aber alle arabischen Regierungen (keineswegs jedoch die Völker), mit Ausnahme der politischen Führung in Syrien und Palästina - beide Länder sind Opfer israelischer Besatzung -, mit Israel als regionaler Atommacht abgefunden, sie kooperieren hier und da sogar mit diesem Staat und in sicherheitspolitischen Fragen wesentlich mehr noch mit den USA. Auch die Türkei als Nato-Mitglied muss sich durch Israels Atombomben nicht bedroht fühlen. Der einzige Staat in der Region, der das beschriebene Sicherheitsdilemma nicht ausblenden kann, ist eben der Iran, der nach der islamischen Revolution aus dem militärischen „Schutzschirm“ USA/Israel ausgeschert ist, mehr noch die US-Vormachtstellung in der Region sogar in Frage stellt.

Sicherheitsproblem wird ausgeblendet
Im Lichte dieser nüchternen Lageanalyse hat also der Iran gegenüber Israel - beide Staaten definieren sich gegenseitig als Feinde - ein echtes Sicherheitsproblem, und nicht nur gegenüber diesem Land, sondern auch im Verhältnis zu den Atommächten Pakistan, Indien, Russland, aber auch USA, die militärisch um Iran herum präsent sind. Mit diesem Sicherheitsdilemma wäre nicht nur das gegenwärtige Regime, sondern jegliche andere iranische Regierung konfrontiert. Deshalb darf dieses unbestreitbare Sicherheitsproblem aus dem gegenwärtigen Konflikt nicht ausgeblendet werden. Beide Konfliktseiten machen - aus durchaus unterschiedlichen Motiven - um dieses Thema jedoch konsequent einen Bogen:

USA und EU klammern das Sicherheitsproblem aus, weil sie Israels atomare Vorherschafft im Mittleren und Nahen Osten ganz im Sinne Israels aufrechterhalten bzw. nicht in Frage stellen wollen. Dies ist aus meiner Sicht auch ihr Hauptmotiv und weniger die Sorge um die Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen, weshalb die USA und EU Irans Atomprogramm zu Fall bringen wollen und sich dabei sogar vor einem Krieg gegen den Iran und dem realen Risiko nicht scheuen, den NPT mit in den Abgrund zu reißen. Während der Westen mit seinem Kasperle-Theater, in dem seit Jahren ein angebliches Entgegenkommen vorgespielt wird, nur Nebelkerzen wirft, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, bezieht Israel offen Position. Israels Staatspräsident Shimon Peres verteidigte beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 23. Januar 2010 indirekt die eigene atomare Vorherrschaft, indem er Iran unterstellte, mit dessen Atomprogramm „den Nahen und Mittleren Osten dominieren zu wollen“. Peres Projektion legt zuallererst die Wahrheit über die eigene Absicht der atomaren Vorherrschaft in der Region offen. Als Peres tags darauf im Deutschen Bundestag den Iran wegen seiner Atompolitik zum Hauptfeind der Menschheit hochstilisierte, zollte ihm die versammelte politische Klasse Deutschlands lautstarken Beifall. Dadurch macht sich diese – gewollt oder ungewollt - zum Handlanger von Israels gefährlicher Atommachtpolitik in der konfliktreichsten Region der Welt, und sie macht sich dadurch auch mitverantwortlich für alle Folgen dieser Politik.

Auch die Islamische Republik und alle ihre Regierungen haben bisher strikt vermieden, das Sicherheitsdilemma im Atomkonflikt mit dem Westen herauszustellen und die Einbeziehung von Israels Atomarsenal in die Verhandlungen zu verlangen, obwohl so und nur so die Aussicht bestünde, dass Irans Sicherheitsproblem ernst genommen und verstanden würde. Dreimal darf man raten, warum die Führung der Islamischen Republik diesen Weg bisher nicht gegangen ist und sich stattdessen unbeirrt darauf versteift hat, die eigene Antwort auf ein sicherheitspolitisches Problem hinter dem NPT und dem Argument Energieversorgung für Irans Bevölkerung zu verstecken, dem niemand Glauben schenkt bzw. schenken kann? Wie sollte man auch diese Begründung für das Atomprogramm eines Landes für glaubwürdig halten, das über die viertgrößten Ölreserven und die zweitgrößten Gasreserven der Welt und darüber hinaus auch über beträchtliche Potentiale an Erdwärme und Solarenergie verfügt, sich aber für die teuerste und ökologisch und politisch gefährlichste Alternative der Energieversorgung entscheidet?

Fazit
Der Iran-Atomkonflikt ist der historische Beleg für die Untrennbarkeit der friedlichen von der militärischen Nutzung der Atomtechnik. Nur ein Ausstieg aus dieser Technologie kann dieses Menschheitsproblem lösen.

Die Ursache des Iran-Atomkonflikts und eines atomaren Wettrüstens in der Region ist nicht das Iran-Atomprogramm, sondern Israels Atomarsenal. Neue Sanktionen gegen den Iran durch den UN-Sicherheitsrat sind die Fortsetzung der einseitigen und ignoranten Politik der USA und EU. Sie stellen einen untauglichen Ersatz für den mangelnden Mut dar, Israels Atombomben nicht länger zu tabuisieren. Auch Obama scheint dieser Mut zu fehlen.

Beide Seiten des Atomkonflikts scheinen den NPT für ihre entgegengesetzten strategischen Ziele instrumentalisieren zu wollen. Im Umstand, dass dies möglich ist, kommt das Dilemma des NPT selbst zum Vorschein.

Die Atomwaffen sind die schlechteste Lösung, die realen Bedrohungsängste der Bevölkerung Israels zu überwinden und ihnen eine dauerhafte Sicherheit zu garantieren. Dies kann dauerhaft auch niemals gegen, sondern nur mit der islamisch-arabischen Welt erreicht werden. Gegenteilige Annahmen entspringen nicht der Vernunft, sondern dem Überlegenheitswahn. Die Lösung ist und bleibt gemeinsame Sicherheit, Schaffung einer atomwaffenfreien Zone und Kooperation im Mittleren und Nahen Osten. Der aktuelle Iran-Konflikt könnte letztlich auch in dieser Perspektive eine gerechte Lösung finden.

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Mohssen Massarrat ist Professor i. R. der Universität Osnabrück mit wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft, Internationale Beziehungen, Krieg und Frieden, Mittlerer und Naher Osten und Mitbegründer der Initiative Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).