Krieg in Tigray und Oromia (Äthiopien)

Waffenruhe und banges Hoffen auf Frieden

von Wolfgang Heinrich

Nach 728 Tagen, 2 Tage vor dem 2. Jahrestag des Kriegs in der Region Tigray (1) in Äthiopien, endeten die Kampfhandlungen. Am 2. November 2022 unterzeichneten Delegationen der äthiopischen Bundesregierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) in Pretoria, Südafrika, ein Abkommen „über die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten zwischen der Regierung der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien (FDRE) und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF)" (im Folgenden Abkommen oder Pretoria-Abkommen).

Der AU-Sonderbeauftragte Olusegun Obasanjo von Nigeria erklärte, dass die Gespräche in Pretoria „darauf abzielten, ein Abkommen über die Einstellung der Feindseligkeiten zwischen den Parteien zu erreichen, das den Weg für die Wiederherstellung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region Tigray ebnen soll“ (AU-Pressemitteilung, 2.11.2022). US-Außenminister Antony Blinken lobte „diesen ersten Schritt“, in dem die Parteien sich darauf verständigt haben, „die Kämpfe zu beenden und den Dialog fortzusetzen, um die noch offenen Fragen zu lösen und den Frieden zu festigen (...)" (Presseerklärung 2.11.2022).

Das Abkommen
Unmittelbar im Anschluss an die Verhandlungen in Pretoria verhandelten Offiziere beider Seiten in Nairobi in der „Erklärung hoher Kommandeure zu den Modalitäten der Umsetzung“ (12.11.2022) Detailbestimmungen für die Umsetzung der zentralen Aspekte des Pretoria-Abkommens.

Das neunseitige Abkommen und die sechs Seiten umfassende Erklärung regeln die Einstellung der Feindseligkeiten (Cessation of Hostilities) (Nr. 1), die Entwaffnung der Tigray Defence Forces (TDF) (Nr. 2), den Schutz der Zivilbevölkerung (Nr. 3), die humanitäre Hilfe (Nr. 4), die Überwachung und Verifizierung (Nr. 5) und den „verantwortlichen Gebrauch der Medien“ (Nr. 6). (2)

Das Pretoria-Abkommen und die Nairobi-Erklärung müssen als Paket gesehen werden. Seit der Unterzeichnung des Abkommens wird in der Politik und in den Medien fast ausnahmslos von einem „Friedensabkommen“ gesprochen. Das ist jedoch aus mehreren Gründen grundlegend falsch und führt zu falschen Schlussfolgerungen.

Auf keinen der politischen Konflikte, die die äthiopische Politik seit Jahren plagen und schließlich am 4. November 2020 zu dem Krieg in der Region Tigray geführt haben (3), gehen die beiden Dokumente ein. Sie gehen auch nicht auf die politischen Probleme ein, die durch den Krieg geschaffen wurden. Und schließlich wird kein klarer Prozess festgelegt, in dem diese Fragen behandelt und verhandelt werden sollen.

Vor allem aber werden die an dem Krieg in Tigray beteiligten anderen bewaffneten Kräfte – die eritreische Armee (EDF) und die Spezialeinheiten der benachbarten Regionen Amhara und Afar sowie die Milizen aus diesen beiden Regionen – nicht erwähnt. Diese Gewaltakteure unterstützten die äthiopische Armee, verfolgten in Tigray aber durchaus eigene Interessen. Die Bundesregierung und die ENDF hatten keine Kontrolle über diese Kräfte.

Die beiden Dokumente sind ein Abkommen zwischen nur zwei der zahlreichen beteiligten Parteien, um „Waffen zum Schweigen zu bringen“. Es ist, wie US Außenminister Blinken sagte, ein wichtiger erster Schritt auf einem langen Weg. Mehr nicht.

Drei Monate später – Erreichtes und Lücken
Nach Einschätzung zahlreicher Beobachter*innen sah sich die TPLF gezwungen, das Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen, weil die Blockade der humanitären Hilfe durch die Regierung und ihrer Verbündeten zu viele Leben kostete. Zwischen 600.000 bis 800.000 Zivilpersonen sind direkt oder indirekt durch Kriegshandlungen getötet worden, die meisten durch Hunger und mangelnde medizinische Versorgung (Nyssen, 2022; de Waal, 2023). Entsprechend war die Forderung nach „freiem und uneingeschränkten Zugang für humanitäre Hilfe“ seit Beginn des Kriegs die erste und wichtigste Forderung der internationalen Gemeinschaft.

Drei Monate nach der Unterzeichnung ist der Zugang für humanitäre Hilfe immer noch eingeschränkt. Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung der humanitären Hilfe (UN OCHA) berichtete am 18. Januar, dass von den 5,4 Millionen Menschen, die in der Region Tigray Nahrungsmittelhilfe erhalten sollten, 3,7 Millionen Menschen (68 %) erreicht wurden (UN OCHA, 2023).

In dem von der Regionalregierung von Amhara besetzen West Tigray ist humanitäre Hilfe blockiert. Dies gilt auch für Teile im Osten und nördliche Bezirke in der zentralen und nordwestlichen Zone, wo eritreischen Soldaten Hilfe weiterhin blockieren (Burbridge, 2023; UN OCHA, 28.01.2023).

Während der 2 Jahre Krieg hatte die äthiopische Regierung die Region Tigray vollkommen von der Versorgung mit Elektrizität, Treibstoff, Telekommunikation, Bankdienstleistungen und Nahrungsmitteln abgeriegelt. Die Wiederherstellung der grundlegenden Versorgung war daher eine weitere Kernforderung der internationalen Gemeinschaft und ist im Abkommen vereinbart. Zwar sind Inlandsflüge nach Tigray wieder aufgenommen, allerdings bleibt die Reisefreiheit von Tegaru weiterhin begrenzt und wird rigoros kontrolliert. Bis Ende Januar 2023 wurden nur eine geringe Anzahl von Telefonverbindungen wiederhergestellt. Der Sprecher der äthiopischen Telekom-Gesellschaft begründete dies in einem Interview am 29.01.2023 mit der Unsicherheit durch die Präsenz eritreischer Truppen und amharischer Milizen. Weiterhin gibt es nur sehr wenig Treibstoff in Tigray, die Verteilung von Treibstoff scheint nach Angaben lokaler Beobachter absichtlich eingeschränkt zu werden (Mehari, 2023).

Bankdienstleistungen sind immer noch sehr begrenzt, selbst humanitäre Organisationen sind gezwungen, begrenzte, von der äthiopischen Regierung genehmigte Geldmengen auf dem Luftweg zu transportieren. Hunderttausende Angestellte der Bundesregierung und der Regionalverwaltung, in Schulen und Krankenhäusern haben seit zwei Jahren keine Gehälter erhalten. Noch immer sind keine Anzahlungen für Gehalt gezahlt worden, erklärte ein Sprecher der Tigray Regierung am 2.2.2023.

Der wahrscheinlich größte Stolperstein auf dem Weg zum Frieden ist die Präsenz der eritreischen Armee. Daher war deren Rückzug aus der Region Tigray eine Kernforderung sowohl der internationalen Gemeinschaft als auch der TPLF. In Artikel 2 (d) der Nairobi-Erklärung ist vereinbart, dass die Entwaffnung der TDF „gleichzeitig“ (concurrent) mit dem Abzug aller „non-ENDF forces“ umgesetzt werden soll.

Am 25. Januar 2023 erklärte ENDF-General Teshome Gemechew in einer Pressekonferenz, dass sich die eritreischen Truppen „tatsächlich aus dem tigrayischen Gebiet“ zurückgezogen hätten. Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield, betonte dagegen auf einer Pressekonferenz am 29.01.2023: „Was die Eritreer angeht, so haben wir verstanden, dass sie sich an die Grenze zurückgezogen haben, und sie wurden aufgefordert zu gehen (...)" (Reuters, 29.01.2023). Verschiedene Quellen berichten unabhängig voneinander, dass eritreische Streitkräfte befestigte Stellungen in Tigray ausbauen. Am 2.2.2023 beklagte Getachew Reda, Sprecher der TPLF, dass „tausende“ eritreische Truppen immer noch im Land sind und dass sie in den letzten Wochen weitere Kriegsverbrechen wie Ermordung von Zivilist*innen, Zerstörung ziviler Infrastruktur und mutwillige Umweltzerstörung begangen haben.

Während des Kriegs wurden in großem Umfang und systematisch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen (UN HRC, 2022). In Anbetracht des verifizierten Ausmaßes dieser Gräueltaten sowie des verbissenen Widerstands der äthiopischen Regierung gegen eine unabhängige Untersuchung und Dokumentation durch die Internationalen Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats, ist es zwar ein erster Schritt, dass das Pretoria-Abkommen eine Aussage über die Rechenschaftspflicht für die während des Konflikts begangenen Verbrechen enthält. Allerdings ist die Bestimmung ausgesprochen „vage und lässt entscheidende Details vermissen“ (Owiso, 2023). Seit der Unterzeichnung des Pretoria Abkommens bemühen sich äthiopische Diplomaten weltweit um Unterstützung, damit das Mandat der UN Menschenrechtsexperten im März d.J. nicht verlängert wird (Addis Standard, 3.2.2023).

Ein kurzer Blick über Tigray hinaus und die Frage der Annäherung
Wenn die Situation in Äthiopien die Aufmerksamkeit der Medien und der öffentlichen politischen Debatte erreicht, dominiert aus verständlichen Gründen der Krieg in Tigray die Wahrnehmung. Seit dem 2.11.2022 liegt das Augenmerk auf dem Pretoria-Abkommen. Dabei wird übersehen, dass während in Tigray seitdem die Waffen weitestgehend schweigen, der Krieg in der Region Oromia massiv eskaliert ist. Die äthiopische Luftwaffe fliegt Bombenangriffe auf Dörfer und Städte, wobei vorrangig zivile Ziele getroffen werden. Die Sicherheitslage in Oromia verschlechtert sich rapide (Harter, 2023). Hunderttausende sind intern vertrieben, allein in der ersten Dezemberhälfte 2022 mehr als 10.000 Menschen (UN OCHA, 15.12.2022). Aber auch zwischen den Regionen Oromia und Amhara wird an zwei Grenzabschnitten gekämpft. In der Somali Region, zwischen den Regionen Somali und Afar, sowie in der SNNP Region kommt es immer wieder zu gewaltsamen Konfrontationen.

In der EU und in den EU Mitgliedsstaaten wird seit der Unterzeichnung des Pretoria-Abkommens über die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Äthiopien debattiert (Plaut, 2023). Doch die Annäherung birgt hohe Risiken. Das Pretoria-Abkommen wurde dadurch möglich, dass die TPLF sich aufgrund der durch die Blockade ausgelösten humanitären Katastrophe zur Unterschrift gezwungen sah. Premier Abiy verkündete entsprechend unmittelbar nach der Unterzeichnung im äthiopischen Parlament, er habe „alle Ziele durchgesetzt“. Deutschland und die EU sollten sich sorgfältig überlegen, ob sie durch die Wiederaufnahme der Beziehungen ein Abkommen belohnen wollen, das mangels Aussicht auf militärischen Erfolg durch das strategische Aushungern der Zivilbevölkerung erzwungen wurde. Das würde im Nachhinein das Aushungern der Bevölkerung als legitimes Mittel der Kriegführung und der Durchsetzung politischer Interessen legitimieren (Hoffmann und Lanfranchi, 2023).

Zugleich würde die Unterstützung einer Regierung, die in den fünf Jahren ihrer Machtausübung wenig Bereitschaft gezeigt hat, auf innenpolitische Konflikte anders als mit Repression und rücksichtsloser Gewalt zu reagieren, die Konfliktdynamik im Land verstärken.

Die Wiederaufnahme der Beziehungen sollte inkrementell erfolgen und dabei die Lage im ganzen Land in den Blick nehmen. Sie sollte schrittweise mit der Erfüllung des Pretoria-Abkommens, der Aufnahme von ernsthaften Friedensverhandlungen für alle im Land gewaltsam ausgetragenen Konflikte, dem nachprüfbaren Schutz der Zivilbevölkerung im ganzen Land, einer unabhängigen Aufarbeitung und Sanktionierung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Rückkehr zu demokratischer Regierungsausübung und Rechtsstaatlichkeit aufwachsen. Hierfür sollten sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten klare „Wegmarken“ setzen und diese auch kommunizieren.

Anmerkungen
1 Der Begriff „Region“ bezeichnet in Äthiopien einen Regionalstaat, der in etwa mit einem Bundesland in Deutschland verglichen werden kann.

2 Die Ziffern beziehen sich auf die entsprechenden Absätze der Nairobi-Erklärung

3 Siehe Beiträge in Friedensforum Nr 2/2021 und Nr 6/2021

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Rubrik

Krisen und Kriege
Dr. Wolfgang Heinrich hat als Mitarbeiter europäischer Nichtregierungsorganisationen über 30 Jahre in und zu der Region am Horn von Afrika gearbeitet. Wissenschaftlich befasst er sich seit 1978 vor allem mit Äthiopien und Somalia.