Neue Wege in der Friedenspädagogik

Walberberger Manifest

Schwerpunkt
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Plädoyer für offensivere Schritte u. Strategien in der Friedenserzie­hung

Die Jugendakademie Walberberg (5303 Bornheim 3) veranstaltete in Zu­sammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Gruppenberatung (Wien), der Université de Paix (Namur), der Peace Education Commission (London) u.a. eine friedenspädagogische Fachtagung zum Thema "Grenzüberschreitungen". Die TeilnehmerInnen aus 11 Nationen verab­schiedeten eine Entschließung, die wir in Auszügen dokumentie­ren:

(...) Gewiss sind in den letzten beiden Jahrzehnten viele kritische Analysen und alternative Programme zu den offi­ziellen Maßnahmen in Politik und Wirt­schaft erstellt worden. Hervorragende Papiere haben die Ströme der kriminel­len Rüstungsexporte bloßgelegt, Ursa­chen und Verursacher der Zerstörung des Regenwaldes sind beim Namen ge­nannt worden, die immer weiter klaf­fende Schere zwischen Reich und Arm ist in nüchternen und unwiderspro­chenen Zahlen dokumentiert, die Gründe einer Jahrhunderte alten Absti­nenz in der Begegnung der Religionen wurden inzwischen ausgiebig publiziert. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese guten und wichtigen Darstellungen und Grundlagen von der Friedenserziehung und Friedensarbeit in entsprechender Weise aufgenommen und vor allem in praktische Handlungsmodelle umgesetzt worden sind. Dabei geht es ... nicht darum, auf die "Liste der ganz ungelö­sten Fragen" definitive Antworten zu präsentieren, als vielmehr um eine unmissverständlicher Form der Methodik und Konsequenz, mit der sich Friedens­erziehung und Friedensarbeit in das öf­fentliche Geschehen einmischen sollten.

Drei "Grenzüberschreitungen" sind hier von besonderer Bedeutung:

1)    Die Überwindung der Grenze, der Distanz zum anderen, Andersden­kenden, Fremden;

2)    Die grenzüberschreitende Offenheit Europas in seinen internationalen Be­ziehungen und in seiner Praxis der "offenen Tür";

3)    Aufhebung der Grenzen des An­stands und diplomatischer Rück­sichtnahme, um mit den Betroffenen zu schreien, wenn die Menschen­rechte mit Füßen getreten werden.

Die Begegnung mit Menschen, die un­bekannt, fremd aussehen, andere Le­bensgewohnheiten haben, birgt Span­nung in sich. Das kann interessant und aufregend sein. Zuviel Spannung kann aber auch Angst machen. Nur durch konkrete Erfahrungen in der Begegnung mit anderen können Hemmungen, Äng­ste und Konflikte abgebaut und Grund­lagen für ein multikulturelles Zusam­menleben geschaffen werden. Hierfür ist die Bereitstellung von "Räumen der Be­gegnung" buchstäblich erforderlich. Das vorhandene Bildungskonzept basiert noch viel zu sehr auf der Qualifizierung der einzelnen Person für deren gesell­schaftliche oder wirtschaftliche Ver­wertbarkeit und viel zu wenig auf Stär­kung eigenständiger Persönlichkeiten und auf der Kommunikation von Men­schen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher Gruppen. (...) Dazu gilt es, dem in allen europäischen Ländern anzutreffenden Fremdenhass und der Verfolgung von ausländischen Men­schen und von Minderheiten im eigenen Land viel deutlicher als bisher (als ein­zelner sowie als Gruppe) zu begegnen. Auch in dieser Hinsicht sollte die Frie­denserziehung Ideen und Handlungs­formen für eine unmissverständliche Präsenz und Einmischung entwickeln.

Mit dem Blick auf das Jahr 1993 baut Europa derzeit eine eigene Identität auf, die einem eurozentrierten Nationalbewusstsein nahe kommt. Zugleich werden im Asylrecht, in der Wirtschafts- und Handelspolitik, in der Militär- und Au­ßenpolitik neue Maßnahmen und Ziele verankert, die zur Schaffung einer "Festung Europa" wesentlich beitragen. Für diejenigen, die "draußen" sind, sei es in Osteuropa, in Afrika, Lateiname­rika oder in Asien, bringt die neue euro­päische Entwicklung eine neue unzu­mutbare Hürde, eine noch härtere Grenze. Diese Tendenzen stehen im krassen Gegensatz zu den demographi­schen Entwicklungen in der Weltbevöl­kerung: ökonomisch, ökologisch, kul­turell etc. Friedenserziehung in Europa muß sich mit diesen Tendenzen und Entwicklungen kritisch auseinanderset­zen und überall da Grenzüberschreitun­gen wagen, wo Menschen ausgegrenzt, verachtet, abgeschoben werden.

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" - heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Men­schenrechte. Unzählig sind die Verlet­zungen dieses Grundsatzes weltweit (....). Nicht nur einzelne Menschen sind hieran beteiligt, sondern viele Staatsfüh­rungen selbst und ihre polizeilichen und militärischen Helfershelfer. (...) Den­noch pflegen die meisten Staaten mit den meisten anderen Staaten sogenannte ordentliche und fruchtbare Beziehun­gen. Das diplomatische Spiel kennt keine Grenzen, es sucht stets den eige­nen Vorteil des Landes, und sei es auf Kosten der Würde, des Friedens oder des Lebens vieler Menschen in der Welt.

Zu sehr verstummt auch hier vielfach eine Friedenserziehung, sei es aus einem Ohnmachtsgefühl, sei es aus mangeln­der Phantasie, mit den Opfern zu schreien.- 

Was brauchen wir:

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine "Bewegungspädagogik" (W.v.Lindner) verstehen, die möglichst intensiv und zugleich in möglichst kur­zer Zeit in Untergruppen eine Vertrau­ensbasis schafft, die zu Aktionen befä­higt.

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine "entwickelte Protestkul­tur" (W. Wette) verstehen, die sich deutlich und selbstbewusst in die Politik einmischt ("Das Volk sind wir").

Friedenserziehung muß sich in Refle­xion und Aktion als Anwalt der Armen, der Unterdrückten, der weitverbreiteten Kultur des Schweigens" (Paulo Freire) verstehen und ihnen eine laute Stimme verleihen.

Friedenserziehung muß nicht nur intel­lektuell, sondern auch emotional deutli­cher die tiefe Besorgnis angesichts der lebensbedrohenden Weltentwicklung zeigen und öffentlich bekennen, daß "im Ungehorsam gegenüber falschen Auto­ritäten" (E.Fromm) die wahrscheinlich einzige Möglichkeit besteht, die Menschheit vor dem Untergang zu be­wahren.

Kritische Distanz, Verweigerung und Ungehorsam müssen deshalb in der Friedenserziehung mehr denn je einen Lernort erhalten. Nicht durch Gehorsam sind die Probleme im Weltmaßstab zu lösen, sondern nur in der Aufkündigung der Ziele und Strukturen unserer Todes­kultur. Zu diesen "Grenzüberschreitun­gen" müssen sich Friedenserziehung und Friedensarbeit unverzüglich aufma­chen.

Walberberg, den 29. 3. 1992

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