Was heißt Versöhnung ?

von Reinhard Voß

 Als Vertreter einer der traditionellen Versöhnungsbewegungen, der "Pax Christi", gegründet am Schluss des 2. Weltkrieges, konzeptionell verwandt und politisch verbunden mit dem "Versöhnungsbund" - 1914 geplant und 1919 gegründet - und mit der später (1958) gegründeten Aktion Sühnezeichen - freue ich mich, dass das alte, für viele veraltete, Wort "Versöhnung" aktuell wieder an Bedeutung gewinnt, aber auch sensibler und gezielter gebraucht wird.

I Aktualisierung
Renate Wanie von der Werkstatt für Gewaltfreiheit in Baden betonte schon Ende der 90er Jahre zu diesem anachronistisch anmutenden Wort ("Versöhnung - ein großes Wort?", in: Voß 1999, S. 121-125): wenn "Versöhnung" in der Vergangenheit oft allzu billige Versöhnung gewesen sei, geleitet von Vergessen, Verdrängen, Schlussstrich-setzen, Konfliktvermeidung und "einseitigem Verzeihen", so werde sie heute als Teil, als Phase einer konstruktiven und gewaltfreien Konfliktaustragung bzw. -bewältigung und damit als Teil von Kriegs- und Konfliktprävention gesehen. Damit ist sie das Gegenteil von Vergeltung und Rache und muss als "eine öffentlich-demokratische Angelegenheit in einem kollektiven und sozialen Prozess" politisch organisiert werden. Das ist eine schwere und sensible Aufgabe.

In den späten 90er Jahren auf dem Balkan haben viele Engagierte aus dem Westen in der Nachkriegszeit mühsam lernen müssen, wie vorsichtig mit dem anspruchsvollen Wort und Angebot der Versöhnung umzugehen ist. Wurde es von Dritten (AusländerInnen) mit moralischem Impetus und welchem methodischen Hilfsangebot auch immer "aufgesetzt" eingeführt, so brachte es eher Unverständnis, ja Aggressionen hervor. Von Versöhnung zu sprechen oder diese gar moralisch zu fordern oder methodisch zu fördern, bevor nicht das erfahrene Leid benannt und aufgearbeitet werden konnte, bevor nicht die "Wahrheit" ans Licht kam, war nicht heilend, sondern Konflikt verlängernd und verschärfend. Friedrich Schorlemmer warnte in diesem Zusammenhang kürzlich (im ND v. 20./21.12.03 S.22) im Blick auf die DDR-Aufarbeitung davor, die Wahrheit für Rache zu funktionalisieren, d.h. "beim Ziel der Versöhnung zu bleiben, die freilich nicht ohne harte Wahrheit zu haben ist. Die aber Wahrheit nicht als Keule benutzt, um noch einmal zu schlagen."

  II Konkretisierung

Das Wort "Versöhnung" kommt ja nicht von "Sohn" und hat damit gar kein familiäres Flair, sondern es entstammt dem Wort "Sühne"; es ist hart, aber auch befreiend-durchbrechend. In Situationen nach Kriegen und Konflikten lässt sich deshalb nicht so schnell und leicht von Versöhnung sprechen - schon gar nicht von Seiten der Täter, die oft eher dazu neigen als die Opfer. Wichtiger mag es zunächst sein, den schlichten Dialog, das Zuhören, die kleinen Gesten statt solch großer Worte zu wählen. Es geht um lange Prozesse, die oft mehrere Generationen betreffen.

Ein aktuelles positives Beispiel: Die deutsch-englische Quäkerin Roswitha Jarman war wieder einmal Ende 2003 im Kaukasus und brachte besonders aus Tschetschenien und Inguschetien deprimierende Nachrichten mit. Aber zum Schluss ihres Berichtes erzählte sie von einem Projekt im Prigorodgebiet, in dem "heilende Begegnungen" zwischen offiziell verfeindeten Volksgruppen ermöglicht werden. Sie freute sich über Fortschritte "Es war diese Versöhnungsarbeit zwischen Nord-Ossetien und Inguschetien, die ich schon 1993 anfing - der Krieg im Herbst 1992 hatte viele Ingusch vertrieben ... Es ist gut zu sehen, dass diese Arbeit nun von Menschen vor Ort gemacht wird." Zum "Heilen nach Gewalt" gehören, wie Roswitha Jarman betont, nur in sehr wenigen Fällen eine spezielle trauma-therapeutische Behandlung. Für alle Betroffenen aber sei es wichtig, "die Würde eines Jeden zu respektieren und wieder aufzubauen, denn Krieg ist eine im tiefsten Grunde erniedrigende Erfahrung". Dabei geht es um zwei Schwerpunkte, die sie besonders fördert (zitiert nach ihrem unveröffentlichten Thesenpapier "Heilen nach Gewalt - Psychosoziale Aufbauarbeit nach dem Krieg"):

1. Ganz normales freundschaftliches Umgehen miteinander: mit Kindern und Jugendlichen spielen, tanzen, malen, tätig sein. Mit Frauen kochen, nähen und häusliche Tätigkeiten ausführen. Zusammen lernen und Fähigkeiten erwerben. Freude erleben, Geschichten hören, Trauern, Abschiednehmen. Rituale erfinden. Viel Spielen und Gemeinschaft neu erleben und aufbauen. Musik hören. Persönliche Pflege, Massagen, Stressabbau, Bewegung.

2. Eine sichere Umwelt schaffen, in der das Zuhören in der Mitte steht: Aktives Zuhören (in Gruppe oder in Einzelgesprächen) in einem Kreis, der sorgfältig aufgebaut wird. Einen sicheren Raum schaffen. Aktives Zuhören bedeutet Empathie, Respekt vor dem Leid des anderen, Unschönes nicht zu schnell aus dem Weg räumen, Schmerz erdulden, trauern, und dann fragen: was kannst Du jetzt tun - was können wir tun?

III Christen und Versöhnung

Die deutsche Sektion von "Pax Christi" verdankt sich folgendem Versöhnungswort: "Ich begrüße das gesamte Deutschland und bringe ihm den Bruderkuss des christlichen Frankreichs, einen Kuss, der Verzeihung gewährt und solche sucht, das heißt den Kuss der Versöhnung." (Bischof Théas aus Lourdes am 4.4.1948 zur Gründung der deutschen Sektion in Kevelaer). Versöhnung wurde hier einer Nation und einem Volk seitens der Opfer angeboten, obwohl diese unter der verbrecherischen Kriegspolitik Deutschlands "viel gelitten" (Théas) hatten. Dahinter stand die seit 1944 in Frankreich unter Laien und Klerikern schmerzlich gereifte Erfahrung, dass es zur Wiederherstellung der Würde von Opfern und Tätern wichtig sei, nach Möglichkeiten der Versöhnung zu suchen, Verzeihung seitens der Opfer anzubieten und - für uns heute fremde Worte - sich zu einem "Gebetskreuzzug für die Nationen" zur Festigung des Friedens auf den Weg zu machen.

Christen und Kirchen erlebten, wenn sie sich wirklich ihrer eigenen Versöhnungsbotschaft stellten, immer wieder drei Schritte (nach Wilfried Warneck, in: Voß 1999, S. 19):
 

 
      Die persönliche Überwältigung durch die Erfahrung der bedingungslosen Liebe Gottes.
 
 
      Die daraus resultierende Erkenntnis, dass bisherige Handlungstypen der gesellschaftlichen Konvention - wie Sklaverei, Folter, Todesstrafe, Krieg - für sie unmöglich wurden.
 
 
       
      Die produktive Suche nach neuen, alternativen Wegen zur Herstellung von Gerechtigkeit und zur Bearbeitung von Konflikten - für Christen Spiegelungen jener Grunderfahrung der Liebe Gottes; säkular ausgedrückt: Chancen und Notwendigkeiten konstruktiver Konfliktbearbeitung.
 
 
    In einem dreijährigen Projekt - "Erinnern für die Gegenwart" im Rahmen des katholischen Versöhnungsfonds hat Pax Christi Deutschland, ähnlich wie das Maximilian-Kolbe-Werk seit 40 Jahren mit Polen, Besuchsprogramme in und aus Herkunftsländern ehemaliger ZwangsarbeiterInnen, Gedenkveranstaltungen und Recherchen organisiert und finanziert, die Anfang Mai 2004 bei einem Kongress in Berlin bilanziert werden - besonders unter der Fragestellung nach der Zukunft im Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis und Gedenken. Das Thema ist aktuell und mehr noch: die Erfahrungen werden gebraucht. Die Friedrich-Ebert-Stiftung überlegt z.B. zusammen mit Pax Christi im Jahre 2004, ob und wie europäische Versöhnungserfahrungen aktuell politisch in Zentralafrika hilfreich sein könnten. Verstärkt werden sollen dadurch die Anstöße der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (1995 - 2000), die für Afrika ein Anfang in dieser Hinsicht war: ein politisch-historisch bedeutsamer Schritt, wenn auch bis zuletzt höchst umstritten, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung auszutarieren.

IV Säkularer Ausblick

Wir haben in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Europa gelernt: Wahrheitsfindung (einschließlich Bestrafung von Tätern), Vergebung und Versöhnung gehören zusammen. Aber es gibt eine ganze Reihe von Schritten jenseits von Verfolgung und Bestrafung, die auch getan werden müssen, bevor Versöhnung wirklich greift: Erinnerungs-"Arbeit", Dialog, Einsicht in die eigene Schuld und Verstrickung über Generationen, Reue und "Wiedergutmachung" (ein leider allzu glattes Wort in der deutschen Geschichte!), "Beten und Tun des Gerechten" (Bonhoeffer), Bitten um Verzeihung und Annehmen von Vergebung, Barmherzigkeit und schließlich: Versöhnung. - Vergebung befreit zu neuen Friedenswegen aufeinander zu; Täter sind nicht berechtigt zu vergeben, aber können sich auch nur bedingt ent-schuldigen; das Angebot zur Vergebung seitens der Opfer bleibt einer der schwierigsten und wichtigsten Schritte; das können wir immer noch von Bischof Théas lernen.

Versöhnung ist also weit mehr als ein moralisches Konzept oder gar Postulat, es ist einerseits Teil, andererseits Rahmen eines öffentlichen politischen Prozesses, der sich der kollektiven Verantwortung und "Schuld" stellt, der Täter in Prozessen der Wahrheitssuche ermittelt und verurteilt, der Opfern die Möglichkeit der Artikulation ihrer Leiderfahrungen in öffentlicher Trauer und Gedenkkultur ermöglicht, der überhaupt einen kulturell breit angelegten Raum, d.h. auch einen Jahrzehnte und Generationen währenden Zeit-Raum, zum Aufarbeiten und Begegnen schafft.

In einem Qualifizierungsseminar des Forums Ziviler Friedensdienst für Friedensfachkräfte von November 1998 bis Februar 1999 wurden abschließend folgende fünf Bereiche in der Versöhnungsarbeit als zentral und zusammen hängend erkannt:
 

 
      Die Anerkennung von Schuld und Versagen,
 
 
       
      die rechtliche Belangung der Täter,
 
 
       
      Wiedergutmachungsprogramme,
 
 
       
      Lastenausgleich
 
 
       
      Austausch der Erfahrungen von Versöhnungsarbeit.
 
 
    Einige weiterführende Literaturhinweise:

Berndt, Hagen, Gewaltfreiheit in den Weltreligionen. Vision und Wirklichkeit, Gütersloh 1998

Goss-Mayr, Hildegard, Wie Feinde Freunde werden. Mein Leben mit Jean Goss für Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung, Idstein 1999 (auch bei Herder erschienen)

Köpke, Wilfried, Ein Leben wider die falsche Versöhnung. Gisela Wiese im Gespräch, Edition Exodus 1997

Pax Christi - deutsches Sekretariat (Hg.), Gegenwelten. Notizen über eine ungewöhnliche Frau (Gisela Wiese), Idstein 1994

Voß, Reinhard (Hg.), Versöhnungsprozesse und Gewaltfreiheit, Idstein 1999 (mit Beispielen aus El Salvador, Südafrika, Mosambik, Serbien-Kosovo und "Deutschland nach dem Fall der Mauer")

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Reinhard J. Voß ist Generalsekretär der deutschen Sektion von pax christi.