Soziale Verteidigung

Was tun, wenn die Amerikaner bleiben

von Christine Schweitzer

Über 1100 Menschen waren vom 17. - 19. Juni in Minden/Westfalen zusammengekommen, um über „Wege zur Sozialen Verteidigung" zu sprechen. Der Kongreß, von einem breiten Trägerkreis, dem u.a. Versöhnungsbund, Pax Christi, Ohne Rüstung Leben, SPD-Ortsvereine, DFG/VK, Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen und Grüne angehörten, vorbereitet, war der erste seiner Art zumindest in Europa.

Für manche Kritiker der Sozialen Verteidigung vielleicht überraschend zeigte der Kongreß, daß die Gewaltfreien keine Feindbilder haben. Kein/e namhafte/r Vertreter In der Sozialen Verteidigung geht von einer aktuellen Bedrohung durch den Warschauer Vertrag aus. Dagegen wurden andere Bedrohungsanalysen vorgestellt: Der Berliner Friedensforscher Theodor Ebert vertrat die These, daß wir uns auf zwei mögliche Bedrohungen einstellen müßten, nämlich die Intervention ehemaliger Verbündeter oder einen Staatsstreich von rechts im Falle· einer politischen Wende der BRD hin zu einer sich entmilitarisierenden, ökologisch bewußten Gesellschaft. Der Gegenpol zu dieser Position war nicht die Frage "Was tun, wenn die Russen kommen?", sondern das Argument, daß 'der Ernstfall heute ist': Es wurde gefordert, sich nicht nur auf mögliche zukünftige Bedrohungen und Kriege einzustellen, sondern auf die heute bestehende ökologische Bedrohung, die heute stattfindenden Kriege (bei denen die BRD Mittäterin statt Opfer ist) und die Unterdrückungsmechanismen von Bewegungen im Vorfeld von Staatsstreichen und Militärputschen.

Soziale Revolution oder rot-grünes Bündnis?

Damit wäre schon das zweite "Ergebnis" des Kongresses angerissen, nämlich die große Rolle, die der Streit zwischen dem sogenannten "parlamentarischen Ansatz" (in Minden vor allem an Theodor Ebert festgemacht) und "sozialrevolutionären Ansatz" (von GraswurzlerInnen vertreten) spielte. Kurz zusammengefaßt geht es bei diesem Streit - der in sehr ähnlicher Form übrigens auch in anderen europäischen Ländern geführt wird - um die Fragen, wie Soziale Verteidigung eigentlich definiert wird und auf welchem Wege sie durchgesetzt werden könnte.

Die enge, herkömmliche Definition versteht Soziale Verteidigung als die gewaltfreie Verteidigung eines Staates gegen einen Angriff von außen oder den Versuch, von innen die legitime Regierung zu stürzen - schreibt sozialer Verteidigung also die gleichen Funktionen zu, die das Militär heute hat. Die GraswurzlerInnen gehen demgegenüber davon aus, daß Soziale Verteidigung auch gegen eine "legitime Regierung" (sofern es so etwas überhaupt gibt) stattfinden kann und lehnt somit die akademische Unterscheidung von sozialer Verteidigung und gewaltfreiem Aufstand ab.

Dementsprechend unterschiedlich sind die Vorstellungen darüber, wie Abrüstung erreicht und Soziale Verteidigung eingeführt werden könnte. Der erste Ansatz baut - woher er auch seinen Namen bezogen hat - auf die Einführung von sozialer Verteidigung durch die Parlamente und Regierungen. Das große Stichwort ist das "rotgrüne-Bündnis". Es wird darauf gehofft, daß - sofern die Sozialen Bewegungen genügend Druck machen - Grüne und SPD in einer der nächsten Bundestagswahlen die Mehrheit bekommen und einen Prozeß der Abrüstung beginnen. Daß dieser "Tag X" bereits mehrfach um eine Legislaturperiode verschoben werden mußte, ist neben den anderen, grundlegenderen Einwänden ein Argument für die Kritikerinnen dieses Ansatzes. Letztere haben nicht nur Zweifel an den ins Auge gefaßten Trägern dieser "Wende", sondern gehen davon aus, daß Soziale Verteidigung nicht wie eine neues Kampfflugzeug oder eine Steuerreform von oben beschlossen und dann realisiert werden kann. Soziale Verteidigung setzt nämlich, und davon war ziemlich viel auf dem Kongreß die Rede, Denk- und Verhaltensweisen voraus, die eine Regierung noch nie begrüßt hat: Kritisches Denken, Zivilcourage, die Fähigkeit zu unabhängigen und verantwortungsbewußten Entscheidungen und Autonomie im Sinne von Handeln gegen Autoritäten. Dies alles sind Eigenschaften, die im Widerstand gegen die Politik der Herrschenden erlernt werden können, aber sich nicht von selbst oder gar auf Anordnung einstellen, falls eine Regierung beschließen sollte, das Militär abzuschaffen.

Das zweite, noch grundlegendere Argument gegen die Möglichkeit einer Einführung von Sozialer Verteidigung "vori oben" war, daß Militär noch andere Funktionen als die der (angeblichen) Verteidigung hat. Es ist, zusammen mit der Polizei, das letzte und hinter allem Regierungshandeln stehende Instrument der Machtausübung - die nackte physische Gewalt. Anzunehmen, daß irgendeine Regierung freiwillig restlos abrüstet, ist deshalb, sagen die GraswurzlerInnen, Illusion. Falls es gelingen sollte, alle Waffen abzuschaffen, dann geht dies nur auf dem Wege massenhaften gewaltfreien Widerstandes (Verweigerung, Generalstreik, Ziviler Ungehorsam). Davon sind wir allerdings zur Zeit auch noch ziemlich weit entfernt...

Gründung einer Koordinierung

Der Trägerkreis des Kongresses beabsichtigt, im März des nächsten Jahres sich eine festere Struktur zu geben. Es soll eine Koordinierung gegründet werden, die - da gehen die Vorstellungen noch sehr auseinander - in Form eines Netzwerkes oder eines Bundesverbandes die Organisationen und eventuell Einzelmenschen zusammenbringen soll, die sich für Soziale Verteidigung einsetzen wollen. Aufgaben dieses "Dingsda", wie der geplante Zusammenschluß in Ermangelung eines besseren Namens scherzhaft genannt wird, sollen vielfältiger Art sein: Erarbeitung von Materialien, Öffentlichkeitsarbeit, Ansprechpartner für Institutionen, Begleitung von gewaltfreien Widerstand hier und in anderen Ländern usw.

Eine Dokumentation des Kongresses und Informationen zur geplanten Weiterarbeit können beim Kongreßbüro, Alte Kirchstr. 1 a, 4950 Minden, bezogen werden.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.