Afghanistan 2011: 10 Jahre nach Kriegsbeginn

Weiterer Protest tut Not

von Reiner Braun
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

10 Jahre nach dem offenkundigen Scheitern der militärischen Invasion der NATO, wenn ihre eigenen Projektionen eines „demokratischen, terrorfreien, marktwirtschaftlich orientierten Afghanistan“ als Basis der Bewertung genommen wird, mehren sich auch in der politischen Klasse unseres Landes die kritischen Stimmen.

Viele der 2001 handelnden Personen zweifeln den Krieg inzwischen an. "Wir hatten uns mit einer fast schon arroganten Unbescheidenheit, mit unangemessenen Mitteln unrealistische Ziele gesetzt und unerfüllbare Erwartungen geweckt", sagt der Afghanistan-Beauftragte Michael Steiner, der damals Schröders Sicherheitsberater war. "Wir brauchten fast ein Jahrzehnt, die nötige Demut vor der Realität zu erlernen. Aber das haben wir jetzt getan."

Von führenden Generälen der Bundeswehr, von dem ehemaligen Innenminister Schily, von Außenpolitikern aller kriegführenden Parteien können ähnliche Stellungnahmen zitiert werden.

Was ist aber die Konsequenz: Abzug aller Truppen und Wiedergutmachung durch massive Unterstützung eines Aufbauprozesses entsprechend den Wünschen und Bedürfnissen der AfghanInnen, wie das die Friedensbewegung fordert?

Mitnichten.

In vielen offiziellen Dokumenten wird jetzt von einem Abzug aus Afghanistan bis 2014 und eine Übertragung der Verantwortung auf die afghanische Regierung und ihre Armee gesprochen.

Neu ist das nicht, wahr auch nicht, und realistisch erst recht nicht.

Die US Regierung hat im Juli 650 Soldaten abgezogen, nachdem sie Ende 2009 ihre Truppen um 30.000 aufgestockt hat. Weitere werden angesichts des ökonomischen Desasters des Landes folgen. Gleichzeitig werden bis 2015 über 200 Millionen Dollar (siehe mittelfristige Finanzplanung vorgelegt im Kongress Ende 2010) für den Ausbau und die Befestigung von fünf US-Stützpunkten bereitgestellt. Bagram, schon jetzt zentraler Stützpunkt und Folterzentrale, soll zu einem unsinkbaren Stützpunkt einer rigoros gesicherten Militär City ausgebaut werden. Die Grüne Zone von Bagdad lässt grüßen.

Die US Regierung steht vor dem Abschluss – so Veröffentlichungen diverser US-Medien (u.a. Daily Telegraph) vom August 2011 – eines Stationierungsabkommens mit der Karsai-Regierung über die Stationierung von Truppen in Afghanistan bis 2024(!!!). In den Veröffentlichungen wird von 25.000 Soldaten und Offizieren gesprochen, und zwar nicht nur von Ausbildern, sondern von Boden- Kampftruppen und der Luftwaffe. Als Gründe werden die Instabilität der afghanischen Armee und die geostrategische Notwendigkeit von US-Truppen in der Nähe von Pakistan, Iran, China genannt.

Es handelt sich also um eine Veränderung der Kriegsstrategie, der Planung der militärischen Aktivitäten, die durch drei miteinander verbundene Faktoren gekennzeichnet sind.

Intensivierung des Drohnen-Einsatzes, nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan.
Schon jetzt war 2011 das Jahr mit den meisten Drohnen-Einsätzen in der Geschichte des Krieges in der Region. Es stimmt wohl: Geheimdienstaufklärung und ferngesteuerte Drohnen kosten weniger als der Einsatz zehntausender Soldaten fern der Heimat (und steigern deshalb kaum die Ablehnung des Krieges an der “Heimatfront“). Erfolge bei Spezialoperationen scheinen dieser Politik in der Logik der Militärführung Recht zu geben. Freilich steigt auch das Risiko von Irrtümern und der Tötung Unschuldiger, wenn man auf solche Formen der Terroristenjagd aus der Ferne per Knopfdruck setzt.

Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung in den ersten sechs Monaten dieses Jahres, nach einem Bericht der UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA ), ist mit 3.268 Opfern - darunter 1.271 Tote und 1.997 Verletzte – ein Plus von 31% gegenüber 2009. Diese Zahlen umfassen alle Opfer – nicht nur die durch Drohnen, sondern besonders auch die durch Aktionen der Taliban. Sie zeigen erschütternd, wohin die Intensivierung des Krieges führt.

Zu dieser Strategie gehört auch das völkerrechtswidrige Töten (target killing) von angeblichen Führungspersonen der Taliban.

Schneller Ausbau der afghanischen Armee und der Afghan Local Police (Dorfmilizen).
Diese sollen von zurzeit 164.000 Soldaten auf 260.000 bis 2015 ausgebaut werden.

Diese Armee ist durch Ineffizienz und Korruption gekennzeichnet. Nach Nato-Angaben liegt die Analphabetismus-Rate bei über 50%, es herrscht ein Mangel an Disziplin und bis zu 7 von 10 Rekruten verschwinden nach der Ausbildung unter Mitnahme ihrer Waffen. Zu eigenständigen Einsätzen ist diese Armee kaum in der Lage. Bei den Dorfmilizen handelt es sich eher um Söldnertruppen, die die Bevölkerung ausplündern und erpressen. Sie üben regionale Willkürherrschaft aus.

Es ist sicher keine gewagte Prognose, dass diese Afghanisierung des Krieges genauso wie die Vietnamisierung des Krieges vor 40 Jahren scheitern wird.

Verstärkung der zivil-militärischen Zusammenarbeit, der sogenannten vernetzten Sicherheit.
Dieses bedeutet nichts anderes als die Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, als die Unterordnung des Zivilen unter das Militär. Letzten Endes entscheidet bei dieser Zusammenarbeit immer die militärische Logik, CIMIC (militärisch-zivile Zusammenarbeit) ist also nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mittel, wird in Afghanistan scheitern, und gefährdet tagtäglich auch noch den Auftrag und die MitarbeiterInnen der entwicklungspolitischen Organisationen. Deshalb lehnen die letzteren in ihrer großen Mehrheit eine solche Einbindung in die militärische Logik ab. Bereits im Oktober 2007 hatte der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) gefordert, dass sich Streitkräfte ausschließlich auf ihre Kernaufgaben, die militärische Friedenssicherung, konzentrieren. Humanitäre Hilfe und Wiederaufbau sollten zivilen Akteuren überlassen werden (siehe das VENRO-Positionspapier "Streitkräfte als humanitäre Helfer?").

Das Scheitern dieser Kriegspolitik ist vorgezeichnet, verlängert aber den Krieg und kostet weitere, besonders zivile Opfer.

Afghanistan vor einem Bürgerkrieg?
Nachdenklich-skeptisch setzt sich auch der von Cynthia Maaß/ Thomas Rüttig für die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ erarbeitete Report „Afghanistan vor einem Bürgerkrieg?“ mit der Situation des Landes auseinander (SWP aktuell 40). “Im Juli 2011 hat die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanische Regierung begonnen: Während die NATO-Staaten diesem Prozess mit Zweckoptimismus gegenüberstehen, zeichnen sich vier durchweg negative Entwicklungsoptionen ab: So könnte eine „Machtoligarchie“ entstehen, entweder direkt aus der bisherigen Führungsgruppe (Option 1) oder mit politischer Beteiligung der Taliban (Option 2). Denkbar ist auch ein Rückfall in einen „Bürgerkrieg“ nach 2014, dem voraussichtlichen Ende des ISAF-Einsatzes(Option 3), oder in einer erneuten Taliban Herrschaft (Option 4). Welche von den Optionen eintritt, hängt von mehreren Einflussfaktoren ab: von innerafghanischen Risiken, der künftigen ISAF-Strategie im asymmetrischen Krieg und der Form des langjährigen US-Engagements in Afghanistan.“

Es wäre sicher vermessen oder unangebracht zu behaupten, die Friedensbewegung hätte eine oder gar „die“ Friedensstrategie für Afghanistan.

Es gibt aber Kriterien für Friedenspolitik:
1. Erstes Ziel muss immer ein Waffenstillstand, ein Ende der Kampfhandlung sein. Diese Herausforderung taucht in dem oben zitierten Bericht nicht auf und widerspricht der aktuellen Politik der USA. Sie sollte eine Kernforderung der Friedensbewegung bleiben.

2. Friedensprozesse erfordern Verhandlungen, und zwar, wie Willy Brandt es ausdrückte, „mit dem Gegner, dem Feind, mit dem Freund gehe ich lieber einen Trinken“. Ansätze dazu gibt und gab es, sie werden aber immer wieder u.a. durch das „target killing“, aber auch durch das Festhalten an der Stationierung von Truppen durch die NATO boykottiert. Erkennbar scheint, dass sich die Taliban in den Menschenrechts-, Frauen- und Bildungsfragen zumindest anfangen zu bewegen. Von der US-Regierung und der NATO kann man das kaum behaupten.

3. Die Invasion in das Land muss beendet und alle Truppen müssen abgezogen werden. Nur so kann überhaupt die Voraussetzung für eine Selbstbestimmung des afghanischen Volkes (wie kompliziert und vielleicht auch weiterhin blutig sie sein mag) geschaffen werden.

Besetzung und Neokolonialismus sind eine historisch gescheiterte Alternative.

4. Als Wiedergutmachung und zur Unterstützung demokratischer, emanzipatorischer aber auch ökologischer und nachhaltiger Prozesse ist eine umfassende Unterstützung des (Wieder-)Aufbaus Afghanistans notwendig, unter Vorgaben durch verantwortliche Menschen des freien Afghanistans auf lokaler, regionaler und zentraler politischer Ebene. Kein Masterplan von außen, aber Unterstützung vielfältiger, besonders dezentraler Prozesse, könnte ein Leitmotiv sein.

Es lohnt sich, sich für diese Visionen und Ziele zu engagieren. Gerade auch im Protest gegen die neoliberale Besatzungs- und Kriegspolitik, die auf dem Petersberg 2-Gipfel in Bonn im Dezember gefeiert werden soll.

Frieden verlangt Engagement – besonders auch 2011 gegen den Krieg in Afghanistan.

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Reiner Braun war Geschäftsführer der IALANA Deutschland und ist ehem. Co-Präsident des Internationalen Friedensbüros (IPB).