Neue Widerstandsformen bei CASTOR-Transporten nach Gorleben

Wenn Staatsmacht nur noch peinlich ist

von Mark Harthun
Hintergrund
Hintergrund

Die "Innere Sicherheit" wird zunehmend zum Wahlkampfthema. Angst vor scheinbarer Kriminalität wird geschürt, um einschneidende Änderungen unseres Rechtsstaates im Namen der "Staats-Sicherheit" durchzusetzen. Die Folgen haben aber nicht nur die vielzitierten Gangster zu tragen, sondern auch Normalbürger, die mit demokratischen Mitteln gegen Mißstände demonstrieren. Doch die staatliche Gewalt erlebt nur, wer an die Grenzen seiner gesetzlichen Bürgerrechte geht.

Anfang März 1997 fand der dritte Transport von hochradioaktivem Atommüll nach Gorleben statt. Für die Anti-Atombewegung stellte dieses Ereignis einen neuen Höhepunkt dar. In einer bisher einzigartigen Form wurde im Rahmen der Aktion "X-tausendmal quer" ziviler Ungehorsam als Widerstandsform angewandt und der staatlichen Gewalt mit professioneller Gewaltlosigkeit begegnet. In schriftlichen Erklärungen hatten tausende von Menschen ihren gewaltfreien Widerstand angekündigt. Wie in den letzten Jahren setzte die Polizei aber auf Abschreckung, obwohl in den vergangenen Jahren die Eskalationsstrategie der Polizei bisher nur dazu geführt hat, daß sich die Zahl der Demonstranten von Jahr zu Jahr verdoppelte. Es zeigte sich, daß staatliche Gewalt gegen passiven Widerstand bei Demonstranten nicht zur Resignation führt, sondern zu Empörung, zu Festigung des eigenen moralischen Rechtsempfindens und zur Stärkung der Widerstandsbewegung.

Für die Massenmedien ist dagegen der "passive" Widerstand unspektakulär. Die Berichterstattung konzentrierte sich in den vergangenen Jahren auf einzelne Ausschreitungen, die untypisch aber fotogener waren. Die Medien stützten damit weitgehend die Versuche der verantwortlichen Politiker, die ungehorsame Bevölkerung als "Chaoten" zu diffamieren. Während die große Herausforderung des Staates gegen die "Kriminellen" medienwirksam beschworen wurde, fehlte die Auseinandersetzung mit den Beweggründen für die demonstrierenden Menschen. Dabei ist es eine große Überwindung für den Normalbürger, sich über ein Demonstrationsverbot hinwegzusetzen, das Risiko der Mißhandlung durch Polizisten in Kauf zu nehmen, und anschließend von Medien und Bekannten als "Chaot" beleidigt zu werden. Der nachfolgende Erfahrungesbericht soll die Motivation und die Empfindungen vieler Atomkraftgegner deutlich machen, die sich in Gorleben mit der Staatsmacht konfrontiert sehen.

CASTOR-Alarm in Marburg

Es fing schon gut an: Seit anderthalb Wochen machten wir täglich eine Protestaktion zum CASTOR in Marburg. Dabei blockierten wir jeweils um 17.15 Uhr für eine Viertelstunde eine wichtige Straßenkreuzung, um auf den bevorstehenden Transport nach Gorleben aufmerksam zu machen. An sich eine wenig spektakuläre Aktion, denn schon am dritten Tag war die mittlerweile vorbereitete Polizei dazu in der Lage, den Verkehr so umzuleiten, daß keine Staus entstanden. Alles war eine streng ritualisierte Aktion, nach den üblichen ungeschriebenen Regeln: Wir Demonstranten bekamen die Gelegenheit, mit Transparenten und Megaphon unser Anliegen vorzubringen und hielten uns im Gegenzug an Gewaltfreiheit und die zeitliche Begrenzung der Blockade. Dennoch war sie für die Polizei scheinbar spektakulär genug: Jeden Tag aufs neue waren sie da und fotografierten uns. Erstaunlich, daß es denen nicht langweilig wurde, zehn Tage hintereinander die gleichen 60-80 Gesichter zu fotografieren, die da in völlig unkrimineller Art und Weise mit ihren Freunden zusammenstanden und lachten.

Schon aus dem letzten Jahr kenne ich die Situation zu Genüge, daß Polizisten erst mit dem Schlagstock grundlos zuschlagen oder in die Geschlechtsteile treten und dann die Angabe ihres Namens verweigern. Könnte man annehmen, daß diese Herren wissen, daß sie nicht mehr rechtmäßig vorgehen? Daß Polizisten weder Namensschilder noch eine individuelle Nummer an der Uniform tragen (wie bei Soldaten üblich!) mit der man sie bei Machtmißbrauch zur Verantwortung ziehen könnte, widerspricht jedem rechtsstaatlichen Prinzip und ist klares Element eines Polizeistaates.

Transportbeginn

Am Montag dem 3. März ist es dann soweit. Morgens gegen 5.00 Uhr fahren die sechs CASTOR-Behälter im "Sixpack" in Süddeutschland los. Mit dem ersten Zug fahre ich dann also hoch ins Wendland - immer wenige Stunden vor dem CASTOR-Transport. Im Zug treffen sich von Bahnhof zu Bahnhof immer mehr Atomkraft-Gegner und setzen sich zusammen. Die Aktivisten sind leicht zu erkennen: Wer sonst ist um diese Jahreszeit, während der Rauhreif über der Landschaft liegt, mit Zelt und Schlafsack unterwegs? In ihren Gesichtern spiegelt sich eine merkwürdige Mischung aus Entschlossenheit und Angst. Ins Fenster hänge ich demonstrativ ein "Tag X"-Plakat und studiere die Blicke der Menschen auf den Bahnsteigen. Die meisten schauen interessiert, und als die neu Zusteigenden an unserem Abteil vorbeidrängen, fühlen wir uns wie in einem Zookäfig. Neugierige Blicke verraten ein wenig Enttäuschung darüber, wie normal die berühmten "Chaoten" doch nur aussehen.

Der Zug rauscht durch das Land und hinter Kassel verdichtet sich das Polizeiaufgebot entlang der Strecke immer mehr. Rund um Göttingen stehen sie alle 500m auf den Feldwegen, jede Brücke wird bewacht. In Uelzen steigen wir aus. Überall im Bahnhof laufen neu angekommene Atomkraft-Gegner herum, und zu dritt entscheiden wir, uns nach Dannenberg zu trampen.

Pferde gegen Menschen

Kurze Zeit später kommen wir im Camp an, wo wir auf andere Marburger treffen. Als ich über den Deich komme, verschlägt es mir die Sprache. Vor uns liegt das Zeltlager direkt dahinter fließt die Elbe. Die Aue ist noch teilweise überschwemmt durch die letzten Hochwassertage und über mir ist strahlend blauer Himmel. Die Idylle schlechthin. Unvorstellbar, daß in solch einer friedlichen Landschaft ein atomares Zwischenlager entstehen soll mit einem Gefahrenpotential, das innerhalb eines Tages diesen ganzen idyllischen Landstrich unbewohnbar machen kann. Radioaktivität von 20 Hiroshima-Bomben ist im CASTOR-Transport.

Ob sich das auf einen Behälter oder auf alle sechs bezog, ist mir in diesem Moment sehr gleichgültig. Ab einer gewissen Zahl von Toten gerät die Aufrechnerei zur Perversion. Bei den Tschernobyl-Opfern ist diese Schwelle längst erreicht.

Es ist gerade Plenum. In dicken Kleidern verpackt sitzen die etwa 300 Teilnehmer des Camps um das Organisationszelt herum. Teilweise sind sie schon drei Tage hier - bei Nachttemperaturen unter Null Grad. Gerade wird noch mal der Grundkonsens im Camp verkündet: Gewaltfreiheit als oberstes Gebot in einer 500m-Bannmeile rund um das Camp. Dann werden kleinere Organisationssachen und mögliche Aktionen für den Nachmittag besprochen. Ich treffe einige Bekannte, Erwartete und Unerwartete und die Freude ist groß. Es ist etwas ganz anderes, ob man sich auf dem Sportplatz trifft oder hier, wo wir nicht hinkommen, um Spaß zu haben, sondern um freiwillig Stockhiebe von der Polizei in Kauf zu nehmen. Nachdem mein Zelt aufgebaut ist, ist noch Marburg-Plenum. Da wir die wohl größte Gruppe der Zugereisten sind, haben wir unser eigenes Diskussionsforum, um die Art und Weise von Aktionsformen abzustimmen. Danach steht dann gleich wieder eine Aktion an. Zwei Blockaden von je 150 Leuten werden von der Polizei sofort auf das Härteste bekämpft: Sie gehen mit Pferden auf uns los, reiten einfach langsam in die Menge und bedrängen uns. So etwas habe ich bisher bei noch keiner Demonstration erlebt. Die Pferde sind noch weniger berechenbar als Hunde die manchmal gegen mich eingesetzt wurden, und ein Huftritt gegen den Kopf kann zu schlimmsten Verletzungen führen. Seit heute Nacht ist das Demonstrieren auf der Straße offiziell illegal. Die Sinnhaftigkeit ist nicht nachvollziehbar, denn der CASTOR-Transport kommt erst in zwei Tagen. Die Polizisten treiben uns menschenverachtend vor sich her, ins Unterholz des Waldes. Längst sind wir außerhalb der verbotenen 50m-Zone, aber sie hetzen uns immer weiter. Per Megaphon fordern wir den Einsatzleiter auf, mit der Schikane aufzuhören, aber dieser lebt sein Machtmonopol schamlos aus.

Da schon am Morgen einige Leute aus unserem Camp verhaftet wurden, gilt der Grundsatz: Niemals vereinzeln lassen, immer geschlossener Rückzug in Menschenketten - nur ist schnelles Vorankommen im Unterholz so kaum möglich. Als wir am Deich ankommen, beendet die Polizei endlich ihre Verfolgung. Innerlich koche ich vor Wut über diese unrechtmäßige, menschenverachtende Behandlung, und so werden bei vielen die Polizisten innerhalb von wenigen Stunden durch ihr liebenswertes Verhalten zu "Bullen".

Im Camp erwartet uns ein ZDF-Team und so kommt die Idee auf, mit Beobachtung der Medien die 50m-Verbotszone auszumessen. Als ein Grüppchen von uns mit dem Kamerateam zur Straße vorläuft, werden sie sofort von der Polizei zum Deich zurückgedrängt. Hinter ihnen folgt ein Wasserwerfer auf dem kleinen Waldweg. "Meine Güte", durchfährt es mich, "jetzt übertreiben sie es aber" und es erinnerte mich an das Phänomen, daß ultrahoch gerüstete Staaten früher oder später ihr Kriegsgerät anwenden wollen - egal ob sinnvoll oder nicht.

Im Schutz der ZDF-Kamera können wir dann doch ein Gespräch mit dem Einsatzleiter erzwingen. Er läßt sich auf unsere Forderung des Ausmessens der 50m ein. Und wie erwartet, wird dieses außerordentlich spektakulär. Als die 50m-Grenze ausgemessen und mit einem Schild "Demokratiefreie Zone" gekennzeichnet ist, befindet sich der Wasserwerfer und etwa 30 Polizisten völlig verloren 100m außerhalb der verbotenen Zone. Die polizeistaatliche Willkür ist allzu offensichtlich, und so stammelte der Einsatzleiter nach fast zweiminütiger Sprachlosigkeit in die auf ihn gerichtete Kamera, daß wir zwar keinen Demonstrationsverbots-Bruch begehen, daß aber unter uns Vermummte seien. Nun das ist nicht schwierig, denn wer bei minus 2 Grad Celsius fünf Tage im Zelt leben muß, kommt sehr schnell auf die Idee sich eine Mütze aufzuziehen. Unter dem Beifall der Demonstranten ziehen sich die (mittlerweile von einigen jungen Frauen unter uns mit roten Herzchen geschmückten) Polizisten mit ihrem Wasserwerfer in die "Demokratiefreie Zone" zurück. Einer der seltenen Siege der Widerstandsbewegung in diesen Tagen.

Zurück im Camp gibt es erst einmal heißen Kaffee. Eine Frau hier aus dem Wendland bringt uns tütenweise Lebkuchen. Die Unterstützung durch die Leute hier vor Ort ist einmalig. Schon mittags stand plötzlich ein riesiger Topf mit Frikadellen im Lager. Nach 20 Jahren Widerstand haben die Wendländer ein sehr gutes Gespür dafür, was die Leute in den Camps brauchen, um bei den harten Bedingungen die gute Laune zu behalten. Dann, nach dem Abendessen, ergibt sich eine Mitfahrgelegenheit nach Dannenberg, wo heute abend der CASTOR-Zug erwartet wird.

Die Polizei hat die letzten 20 km Bahnstrecke völlig abgeriegelt. Dennoch braucht der Transport noch bis etwa 1.00 Uhr in der Nacht und war damit um acht Stunden verzögert. Nur bruchstückhaft sickern Informationen durch, wonach sich Menschen angekettet und einbetoniert haben. Alle Achtung. Es gehört viel Mut dazu, sich so der Wut der Polizisten hilflos auszuliefern.

Die Rückfahrt wird beschwerlicher. In Laase hält uns eine Kontrolle an und verweigert uns die Durchfahrt zum Camp. Auch zu Fuß dürfen wir nicht durch. Eine merkwürdige Logik. Scheinbar ist es der Polizei lieber, wir streifen nachts ohne Unterkunft durch die Wälder, als daß wir friedlich im Zelt schlafen. Während unsere Personalien aufgenommen werden, diskutiere ich mit der sympathischen jungen Polizistin. Komisch, denke ich, so nett und doch so verbohrt. Eigentlich würde ich lieber mit ihr klönen, als hier mit ihr die verfehlte Regierungspolitik auszufechten. Wir lachen, als ich sie frage, ob sie nicht wenigstens heißen Tee für mich hätte, wenn sie mich schon eine halbe Stunde festhält. Mir tut sie leid. Ich habe den Eindruck, daß sie weiß, daß die Befehle, die sie ausführen muß, bürgerverachtend sind. So können wir also nicht aufrecht und offen entlang der Straße, wie normale Bürger (und prima kontrollierbar für die Polizei), zum Camp gehen, sondern müssen wie Verbrecher durchs Unterholz schleichen. Die Indianer-Romantik hält sich in Grenzen.

Verschiedene Widerstandsformen

Am nächsten Morgen sehne ich mich nach durchwachter Nacht nach den ersten Sonnenstrahlen. Die Nacht war bei minus 2 Grad eiskalt und mir scheint, die Temperaturangabe "bis minus 8 Grad" meines Schlafsackes bedeutet nur, daß bis zu dieser Tiefsttemperatur nicht der sofortige Tod eintritt. Ich öffne das Zelt, und die Landschaft ist weiß von Rauhreif. Mit steifen Gliedern wanke ich zum Wassertank, den uns Landwirte auf den Platz gestellt haben, aber alle Leitungen sind eingefroren. Etwas hilflos stehe ich so mit meiner Zahnbürste auf der Wiese und betrachte den Aufgang der glühendroten Sonne über der Elbe. Ja - es könnte so schön sein. Mit einer heißen Tasse Kaffee erwacht bald wieder neues Leben und neuer Tatendurst. Nach einem Marburg-Plenum ist klar, daß bis zum Spätnachmittag nichts laufen soll. Deshalb möchte ich mich mit einigen Leuten nach Dannenberg durchschlagen, um mir die Situation dort anzusehen. Trampen ist kein Problem im Wendland. Da eine große Mehrheit der Bevölkerung auch Widerstand leistet, hält man zusammen. Auf der ganzen "Südroute" über Splietau ist es ruhig. Die Polizei hat diese Transportstrecke bereits aufgegeben. Landwirte haben mitten auf der Straße ein riesiges, aus Eisenbahn-Schienen zusammengeschweißtes, X auf die Fahrbahn gestellt.

Dann folgt eine Untertunnelung nach der anderen. Unglaublich welche Energie hier manche Atomkraftgegner hineingesteckt haben. Auf der Straße immer mal wieder Barrikaden aus Baumstämmen oder Rund-Strohballen, oft kunstvoll gestaltet mit angehängten Fotos von Kindern oder Kletterpflanzen-Begrünung. Doch während all diese kleinen Kunstwerke nur symbolischen Charakter haben und in wenigen Minuten von den Räumpanzern der Polizei beseitigt werden können, erreiche ich etwas später das eigentliche Hindernis:

In Splietau haben etwa 60 Landwirte ihre Traktoren derart ineinander verkeilt, daß eine Räumung unmöglich ist. Zentimeterarbeit. Ich bin fassungslos. Perfektion als Antwort der Bauern auf den skandalösen Überfall eines Polizei-Stoßtrupps im letzten Jahr, bei dem Traktoren völlig unrechtmäßig zerstört und Landwirte verletzt worden waren - weit außerhalb der verbotenen Zone. Ein wendländischer Bauer läßt sich seine Sachen eben nicht von angereisten Gewalttätern in Uniform kaputtmachen. Diese kreuz- und querstehenden Traktoren werden sicher zum Symbol werden für die Widerstandsbewegung. Ein Symbol dafür, daß immer noch das Volk entscheidet, was passiert, und nicht einige Parlamentarier in Bonn.

Hinter Splietau sehe ich mir den besetzten Straßenabschnitt an. Tausend Menschen liegen im Stroh auf der Straße und lesen, singen und reden. Am Ende des Abschnitts hat sich eine Polizeikette quergestellt. Alles ist völlig ruhig und friedlich. Mein schweifender Blick trifft auf eine junge Frau, die im Stroh sitzt und Zeitung liest. Wir blicken uns in die Augen und lächeln uns an. Ein Verstehen ohne Worte: Wir kämpfen für die gleiche Sache. Ein Leben ohne die atomare Bedrohung. Das gemeinsame freiwillige Leiden hat etwas ungeheuer Verbindendes: Gemeinsam frieren, gemeinsam das Ohnmachtsgefühl vor der Staatsmacht empfinden, gemeinsam vom Wasserwerfer traktiert zu werden, gemeinsam brutal geknüppelt zu werden. Wir lächeln uns an und wissen, daß sie uns nicht brechen werden. Unsere Kraft ist unsere Phantasie. Kurz setze ich mich zu ihr, wir wechseln ein paar Worte und dann gehe ich weiter zum Verladekran.

Polizeiliche Willkür

Der Rückweg wird schwierig. Zu Fuß wollen wir die Nordroute über Quickborn zurück zum Camp gehen. Auf dem Fahrradweg neben der verbotenen Straße dürfen wir nicht laufen. Wieder zwingt uns die Polizei, wie Kriminelle durchs Unterholz zu kriechen. Auf der anderen Seite der Straße ist offenes Feld, deshalb bitte ich einen Beamten, die Straße überqueren zu können. Aber er verweigert mir dies. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß es hier lediglich ein Verbot öffentlicher Versammlungen gibt, aber kein Betretungsverbot. Als Einzelperson stelle ich aber keine Demonstration dar. Auch würde ich mich gerne von drei Beamten rüberbegleiten lassen. Keine Chance. Nach Aussage des Beamten stelle ich eine Gefahr dar -welche kann er mir auch nicht erklären.

Wo Polizisten herrschen, herrscht oft Willkür. Das Recht bleibt auf der Strecke. Nach dem Namen des Beamten frage ich schon gar nicht mehr, denn den verweigert er mir ohnehin. So laufe ich kilometerweit durch das dichte Unterholz und später, als ich Nachrichten höre, wird mir auch klar, welchen Sinn diese Polizeistrategie hat: Da ist nämlich von über 1000 Kriminellen die Rede, die durch die Wälder schleichen. Und ich bin mir sicher: Sie haben mich mitgezählt.

Zurück im Camp entscheide ich mich mit einigen anderen Leuten, nach Dannenberg zu fahren, um uns dort der Aktion "X-tausendmal quer" am Verladekran anzuschließen. Zu unsicher ist uns die Situation in Poelitz, denn wir erwarten hier in der Nacht von der Polizei eingekesselt zu werden und damit keine Chancen zu haben, die Straße friedlich zu blockieren.

Der Tag X3

So fuhren wir zu der großen Sitzblockade am Verladekran und ließen uns nach einem Abendessen im Camp auf der Straße nieder. Leider gab es kein Stroh mehr. Eine nette Wendländerin im Infozelt vom Camp zuckte nur mit den Schultern: Zu wenig Stroh für derart viele Leute. Wir könnten höchstens im Dorf bei Bauern fragen. Trotz Schlafsäcken war an Schlaf nicht zu denken. Permanent ratterten die Polizeihubschrauber über unseren Köpfen, wie schon seit zwei Tagen und Nächten. Der Kopf dröhnt und ich denke an eine psychologische Zermürbungstaktik. Die Stimmung ist gut. Ich sitze zwischen Schülern, Müttern, Vätern und Großeltern. Stellenweise wird gesungen, doch die meisten versuchen durch Ruhe noch etwas Kraft für die bevorstehende Räumung zu sammeln. In meiner Bezugsgruppe von fünf Leuten haben wir Treffpunkte ausgemacht, denn nichts ist schlimmer, als nach der Räumung möglicherweise verletzt keinen Bekannten mehr zu finden. Der Lichtkegel der Suchscheinwerfer der Hubschrauber zuckt über das Land und manchmal über uns, aber die Sinnhaftigkeit ist mir nicht klar.

Um 1.00 Uhr nachts wird mit der Räumung begonnen. Eine völlig unmenschliche Zeit, aber wohl auch in der Hoffnung, in der Dunkelheit werde es zu Steinwürfen kommen, die ein hartes Vorgehen der Polizei rechtfertigen würden. In vorbildlicher Weise werden Aufforderungen und polizeiliche Maßnahmen verlesen. Dann werden die Leute in angemessener Form weggetragen. Alles perfekt ritualisiert. Ich traue meinen Augen nicht. Nach dem Wasser- und Schlagstockterror im letzten Jahr beweist die Polizei, daß sie doch die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren kann. Vorbildlich. Etwa 9000 Menschen besetzen ca. 500m Straße. Alles bleibt völlig ruhig. Niemand wirft Farbbeutel, keiner Sand, es gibt keine größeren Sprechchöre. Entsprechend der angekündigten Gewaltlosigkeit der Sitzblockade haben sich auch keine autonomen Steinewerfer untergemischt. Alles läuft konfliktfrei in für Polizisten und Demonstranten angenehmer Art und Weise. Noch.

Bis 5.00 Uhr haben die Beamten nach 4 Stunden nur etwa 50 m Straße geräumt. Es wird klar: In diesem Tempo kann der CASTOR-Transport an diesem Tage nicht mehr losfahren. Nach einer kurzen Pause (und einem Telefongespräch mit dem Innenminister?) wird die Strategie geändert. Wasserwerfer und Schlagstock werden eingesetzt. Bei minus 4 Grad und Dunkelheit werden die friedlich sitzenden Menschen mit Wasserwerfern beschossen. Doch sie bleiben sitzen. Nach einem Aufruf, Plastikplanen als Schutz zu besorgen, rennen zig Demonstranten aus allen Richtungen mit wehenden Plastikplanen über die Felder herbei, um den gequälten Menschen zu helfen. Die Solidarität ist großartig, und die Ausdauer der Blockierer beeindruckend. Es ist ein Armutszeugnis des Staates. Die Peinlichkeit schlechthin. Allzu offensichtlich ist es für die Tausenden von Menschen und alle vertretenen Medien, daß die Gewalt ausschließlich von der Polizei ausgeht. Daß bewußt eine Eskalation provoziert werden soll. Aber die Atomkraftgegner lassen sich nicht provozieren und ertragen die Ungerechtigkeit trotz aller Schwierigkeiten. Wer weiß nicht, daß eine ungerechte Ohrfeige noch viel mehr wehtut, als eine gerechtfertigte? Aber jeder weiß auch, daß sie nicht Demut, sondern Widerstand weckt.

Die Räumung geht trotz der Polizeigewalt unterdessen nicht schneller voran, sondern langsamer. Es kann nur noch abwechselnd mit Wasser geschossen und geräumt werden. Die Menschen widerstehen der Schikane des Staates und lassen seine Gewalt über sich ergehen. Es ist eine bisher wohl einzigartige Demonstration passiven Widerstandes in der Antiatombewegung. In ihrer Verzweiflung fordert die Einsatzleitung einen ostdeutschen Trupp von Polizisten an. Die ostdeutschen Beamten sind seit dem letzten CASTOR-Transport als die brutalen Schlägertrupps im Widerstand bekannt. Das letzte Mittel, was der Staat nach dem Untergang der Vernunft noch hat, ist Brutalität. So ist denn auch in kurzer Zeit der letzte Streckenabschnitt geräumt.

Die Stimmung unter den Demonstranten ist gut - ganz anders als im letzten Jahr. Wurde damals die Durchfahrt des CASTORS als Niederlage empfunden, so ist die peinliche moralische Niederlage der Staatsgewalt ein Sieg für die Widerstandsbewegung. Nach diesem Beweis der absoluten Friedfertigkeit von Sitzblockaden läßt sich kein einziger 110 Millionen DM-Polizeieinsatz mehr rechtfertigen. Einen krönenden Abschluß bietet der Drahtseilakt von vier Demonstranten die sich "querhängen" und für die Polizei unerreichbar waren. Insgesamt verzögert sich der Transport an diesem Morgen vor dem Verladekran noch einmal um 11 Stunden - im letzten Jahr waren es nicht einmal drei Stunden. Wer in diesem Zusammenhang von Bürgerkrieg spricht, hat die Bedeutung des Wortes nicht verstanden: Beim Bürgerkrieg kämpfen bewaffnete Bürger gegen ihren Staat. Hier kämpft ein bewaffneter Staat gegen seine Bürger.

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Mark Harthun ist Diplom-Biologe und als Naturschutzreferent beim NABU Hessen angestellt. Er ist seit 15 Jahren in der Anti-Atom-Bewegung engagiert.