Islam

Wie „islamisch“ ist der „Islamische Staat“?

von Friedmann Eißler

Die exzessive Brutalität des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) stellt Sicherheitskonzepte infrage und vieles von dem, was bisher für möglich gehalten wurde, weit in den Schatten. Das grelle Licht modernster Videopropaganda fällt auf Enthauptungen, Kulturzerstörung und tödliche Vernichtungszüge gegen die Weltzivilisation, zuletzt – erneut – in Paris am 13. November 2015.

Der Anspruch des IS, einen legitimen Dschihad zu führen und ein islamisches Kalifat anzuführen, wirft die Frage auf, wie islamisch der IS ist – eine Frage, die auch in Deutschland längst begonnen hat, das Bild des Islams zu verdüstern und das Klima zu vergiften: Laut Sonderauswertung „Islam“ des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung vom 8. Januar 2015 nehmen 57% der BundesbürgerInnen den Islam als Bedrohung wahr. Zudem sind 61% der Auffassung, der Islam passe nicht in die westliche Welt. (1)

Die Frage ist erlaubt, ja notwendig, um sich der Herausforderung religiös legitimierter Gewalt überhaupt stellen zu können. Wird sie als „islamophob“ abgetan – was nicht selten der Fall ist – kann zwischen sachlicher Kritik und böswilliger Hetze nicht mehr unterschieden werden, denn der Begriff Islamophobie unterscheidet hier nicht, sondern erklärt beides zur Angelegenheit von Therapeuten. Dadurch entzieht er notwendiger sachlicher Auseinandersetzung schleichend die Legitimität.

Skepsis und Ablehnung gegenüber dem Islam speisen sich aus verschiedenen Quellen. Zu unterscheiden ist insbesondere zwischen Feindschaft gegenüber und Angst vor dem Islam. Bei der Bekämpfung von Hetze gegen den Islam sind Staat, Gesellschaft und Kirchen gefordert, der Staat notfalls auch mit den Mitteln des Strafrechts. Bei der Bekämpfung von Angst vor dem Islam indessen sind nicht nur Gesellschaft und Kirchen, sondern auch die Muslime selbst gefordert.

Es ist deshalb wichtig, dass Muslime in aller Welt und alle maßgeblichen muslimischen Organisationen in Deutschland den Terror und die brutale Gewalt des sogenannten „Islamischen Staates“ aufs Schärfste verurteilt und sich von der Ausrufung eines „Kalifats“ durch die Terrormiliz distanziert haben. Schon im Juli 2014 hatte die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) die Praktiken des IS für unerträgliche Verbrechen erklärt. Ähnliches war zu hören von Gelehrten aus Ägypten, Indonesien, von führenden britischen Organisationen und 100 britischen Imamen, von den Großmuftis Ägyptens und Saudi-Arabiens und vielen anderen. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat sich mehrfach mit einem klaren Bekenntnis zum Existenzrecht der Christen und der anderen Minderheiten in den Krisengebieten geäußert und mit den Opfern der jüngsten Gewaltverbrechen solidarisiert.

Solche Aussagen müssen wahrgenommen und gewürdigt werden. Zu begrüßen ist das damit bekundete Selbstverständnis des Islams als einer friedlichen Religion, die einem im Koran verankerten, allgemeinen Tötungsverbot unterliege und mit den Verbrechen des IS nichts zu tun habe.

Eine solche – wünschenswerte! – Koranauslegung muss sich allerdings von einer erdrückenden Mehrheit der islamischen Traditionstexte abheben und kann deshalb nur dann verständlich und nachhaltig wirksam werden, wenn sie in intensivem Austausch mit allen wichtigen Akteuren – zu denken ist an die zivilgesellschaftlichen Partner und allen voran die islamtheologischen Zentren an den Universitäten – aktiv diskutiert und in den Moscheegemeinden vor Ort in ihren Konsequenzen zum Thema gemacht wird.

Koranauslegungen
Denn der Verweis auf den Koran allein genügt kaum. Häufig wird Koran Sure 5,32 herangezogen, um zu belegen, dass der Islam gegen Gewalt sei und gar ein generelles Tötungsverbot kenne – daher könnten Verbrechen wie die in Paris nichts mit „dem Islam“ zu tun haben. An der besagten Stelle heißt es indessen: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“ Das Tötungsverbot ist offenkundig an eine Bedingung geknüpft. Direkt anschließend in Vers 33 wird sehr plastisch der Lohn derjenigen aufgelistet, „die Krieg führen gegen Allah und seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften“, nämlich „dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen die Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden“. Es ist nach dem Korantext klar: „... tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat zu töten, außer aus einem rechtmäßigen Grund!“ (Sure 6,151, vgl. 17,33; 25,68; 7,33).

Es sind solche Zusammenhänge, die den Klärungsbedarf deutlich aufzeigen. Das Motto „Gewalt gegen Unschuldige ist durch nichts zu rechtfertigen“ beantwortet noch nicht Fragen wie die, unter welchen Bedingungen denn Menschen in den Augen von – frommen, radikalen, extremistischen? – Muslimen zu „Schuldigen“ im Sinne der Tradition werden könnten. Angesichts der Lehre von der unabänderlichen und universalen Gültigkeit des Korans und der Sunna stellt sich die dringliche Frage, wie die Muslime in den Moscheegemeinden und allen voran die VertreterInnen der Islamverbände diese Zusammenhänge verstehen und interpretieren.

Der Offene Brief an al-Baghdadi
Die bislang vielleicht gewichtigste und bedeutsamste Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des IS erfolgte in einem „Offenen Brief“ vom 19. September 2014, der direkt an den Anführer des IS, al-Baghdadi, gerichtet wurde. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen der ägyptische Großmufti, hohe Vertreter der Azhar-Universität in Kairo, der jordanische Prinz Ghazi bin Muhammad sowie der frühere Großmufti von Bosnien-Herzegowina Mustafa Cerić und ein weiteres Dutzend europäischer Vertreter, aber auch viele Geistliche aus Nordafrika, Asien und den USA – insgesamt mehr als 120 islamische Gelehrte.

Der – im Original arabische – Offene Brief an al-Baghdadi (2) hat in der englischen Version 17 Seiten und beinhaltet neben einer Zusammenfassung eine gründliche islamisch-theologische Zurückweisung des IS-Dschihads. Er geht Punkt für Punkt die als relevant erachteten religionsgesetzlichen Aspekte durch und sucht die IS-Ideologie mit einer Fülle von Zitaten aus Koran und Sunna zu widerlegen. Schon die Überschrift macht indes klar, dass es sich um eine Ermahnung zur Wahrheit unter Glaubensbrüdern handelt, wie das erste Zitat Sure 103,1-3 belegt. Denn dies ist neben der ausführlichen Darlegung der recht verstandenen Regeln des Dschihad ein zentraler Aspekt des Briefes: Ohne spezifische Gründe, die zu etablieren hohe Ansprüche stellt, könne einem Muslim (der sich selbst als solcher bezeichnet) das Muslimsein nicht abgesprochen werden (takfir). Den IS-Kämpfern wird daher jegliche Legitimation etwa zur Ermordung von Muslimen bestritten, ihr Muslimsein jedoch – in Einklang mit der sunnitisch-murdschi’itischen Mainstreamtheologie – zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. In ähnlicher Weise werden auch das Töten von Unschuldigen, von Emissären (was auf Journalisten angewandt wird) und von Eziden (die aufgrund von Sure 22,17 zu den Dhimmis gerechnet werden), die Versklavung und unrechtmäßige Demütigung von Frauen, die falsche Anwendung der („fraglos verpflichtenden“) Hudud-Strafen (Todesstrafe für Apostasie und Ehebruch u. a.), Folter und Verstümmelung sowie weitere andere Verbrechen verurteilt. Das Kalifat – das als grundsätzliche Verpflichtung für die Muslime betrachtet wird – könne nicht von einer einzelnen Gruppe ohne Autorität ausgerufen werden. Der IS habe eine „verdrehte Theologie“, fasste einer der Mitunterzeichner zusammen, die den Islam missverstehe und falsch interpretiere. Denn der Prophet sei „als Barmherzigkeit für die Welt“ gekommen (Sure 21,107), so auch der Islam insgesamt. Am Ende werden die IS-Kämpfer aufgefordert, Buße zu tun und zur Religion der Barmherzigkeit zurückzukehren.

Der Brief ist keine offizielle Verlautbarung – die es in der Form, wie sie christlicherseits von kirchenleitenden Gremien bekannt ist, gar nicht gibt. Es handelt sich auch nicht um eine Fatwa, was man sich als religionsgesetzlich verbindliche(re) Äußerung hätte vorstellen können. Im Grunde wird hier eine – wohlbegründete und fachkundig vorgetragene – Meinung formuliert. Der gesamte Duktus zeigt, dass diese Meinung im Prinzip die Augenhöhe mit dem Gegner sucht und auch so geäußert wird. Es wird kaum etwas grundsätzlich infrage gestellt, sondern die eigene, orthodox verstandene Auslegung der Auslegung in den Reihen des IS entgegengestellt. Der (gemeinsame!) Rahmen traditioneller Schariaregelungen wird indessen nicht tangiert, sondern durchgehend bekräftigt. Das Denkmuster ist hier wie dort dasselbe.

Der Brief bestätigt mit hoher islamischer Autorität: Der durchgehende Tenor praktisch aller distanzierenden Äußerungen, der IS-Terror habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, ist haltlos. Hier die „friedliche Religion des Islam“, dort die „Extremisten“ kann deshalb auch hierzulande kaum ein erfolgversprechender Ansatz zur Verhinderung weiterer Radikalisierungsbiografien sein, weil die dringend notwendige innerislamische Auseinandersetzung über den Geltungsbereich und die Geltungsweise des traditionellen Schariarahmens damit geradezu unterbunden wird.

Die Reaktionen und Distanzierungen vieler Musliminnen und Muslime sind zu begrüßen und enorm wichtige Signale. Sie müssen auch von der Gesellschaft ernsthafter wahrgenommen werden. Wirklich hoffnungsvoll stimmt die weithin verfolgte Strategie jedoch nicht, solange Tötungen von Ungläubigen eben nur auf die richtige Weise geschehen und den Frauen „ihre Rechte“ mit den bekannten Einschränkungen der islamischen Tradition „nicht vorenthalten“ werden sollen.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Helmut Wiesmann, Wie islamisch ist der „Islamische Staat“?, in: Materialdienst der EZW 11/2015, 413-420; Friedmann Eißler, Nein zu jeder Gewalt!, in: Materialdienst der EZW 03/2015, 93-95; ders., Muslime distanzieren sich von Gewalt und Terror – Open Letter to Al-Baghdadi, in: Materialdienst der EZW 12/2014, 443-444. Der vorliegende Text stützt sich u. a. auf diese Artikel.

2 Link: Offener Brief an al-Baghdadi vom 19.9.2014, http://lettertobaghdadi.com/

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Friedmann Eißler ist Mitarbeiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin