Brasilien

Wie viele Anschläge hält die Demokratie aus?

von Pauline Vogel
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Am 28. Oktober 2018 wurde Jair Bolsonaro mit mehr als 55 Prozent zum künftigen Präsidenten Brasiliens gewählt. Der Ex-Militär, der sich offen frauenfeindlich, homophob und rassistisch äußert, wird für die nächsten vier Jahre das größte Land Lateinamerikas regieren. Die wichtige Regionalmacht Brasilien befindet sich nun fest in rechter Hand. Aber der Widerstand ruht nicht. Der linke Stichwahlgegner Fernando Haddad der Arbeiterpartei PT erlangte 44,5 Prozent der Stimmen und lag damit nur knapp hinter dem ultra-rechten Jair Bolsonaro.

Wie konnte es soweit kommen? Bolsonaros Wahlsieg ist nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, dass viele BrasilianerInnen sich seit den Korruptionsskandalen einen Bruch mit den etablierten Regierungsparteien fordern. Außerdem wünschen sich viele ein härteres Durchgreifen im Hinblick auf die Sicherheitsprobleme im Land. Es scheint dabei zweitrangig zu sein, dass Bolsonaros Wahlprogramm lückenhaft ist und der Politiker immer wieder die Verbrechen der Diktatur in Brasilien von 1964 bis 1985 glorifiziert.

Eine weitere entscheidende Rolle bei Bolsonaros Wahlsieg spielten Fakenews, die aus seiner Umgebung per WhatsApp verschickt wurden. So wurde beispielsweise behauptet, der linke Kandidat Fernando Haddad würde Inzest und Pädophile befürworten, außerdem wolle er eine kommunistische Diktatur ohne jede Moral, alle Kirchen verbieten und das Vermögen aller BrasilianerInnen beschlagnahmen. Zahlreiche BrasilianerInnen glaubten den falschen Behauptungen und sehen in dem Rechtsextremisten die einzige Hoffnung für das Land. Die meisten AnhängerInnen hat Bolsonaro in der brasilianischen Mittel- und Oberschicht, die sich zunehmend bedroht fühlen von der Arbeiterpartei PT und dem anwachsenden Selbstvertrauen von Schwarzen, Frauen-, Trans*- und LGBTQ-Bewegungen.

Jenseits der politischen Auseinandersetzungen um die Rolle der Arbeiterpartei PT und die Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten Lulas war es vor allem die Unterstützung der Evangelikalen, die Bolsonaro zugute kamen. Seine Wahlkampagne stellte er unter das Motto „Brasilien über alles, Gott über alle“, und zu seiner wichtigsten Unterstützung zählt die neue Pfingstkirche in Brasilien, die als Bewegung der Universalkirche des Königreichs Gottes schnell gewachsen ist. Der Bischof Edir Macedo gehört im Kongress zur Bibelfraktion und ist Eigentümer von Rede Record, einem evangelikalen Fernsehsender, der inzwischen einer der größten in Brasilien ist und somit eine große Reichweite besitzt, die besonders Menschen in den Armenvierteln erreicht.

Dies sind nur einige Ansätze, mit denen der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Brasilien zu erklären ist. Das Ergebnis der Wahl zeigt eine tiefe Spaltung Brasiliens. MenschenrechtlerInnen und internationale Organisationen fürchten in den kommenden Jahren eine Explosion der Gewalt.
Auch wenn Bolsonaro sich in seiner kurzen Ansprache nach seinem Wahlsieg auf die Verfassung berief und versprach, die Demokratie und die Freiheit zu verteidigen, sind viele Menschen, die nicht in sein reaktionäres Weltbild passen, in Alarmbereitschaft. In den Tagen nach der Wahl kam es in der Tat bereits zu ersten Überfällen und Morden an Linken, JournalistInnen und LGBTQ, die den fanatischen UnterstützerInnen Bolsonaros zugeschrieben werden. Die Angst vor den von Bolsonaro angekündigten „niemals gesehenen Säuberungen“ ist groß, und es kursiert bereits unter seinen AnhängerInnen eine „Feindesliste“, auf der Namen von über 700 Personen stehen, die sich gegen den rechten Politiker gestellt haben. Indigene Gruppen fürchten um den Verlust ihrer Schutzgebiete und einer Lockerung von Umweltschutzbedingungen, um die Agrarlobby in Brasilien weiter zu stärken. Viele Menschen sorgen sich um eine Einschränkung der Pressefreiheit, nachdem Bolsonaro während seines Wahlkampfes immer wieder gegen verschiedene Zeitungen wetterte, denen er vorwarf, „Fake-News“ zu verbreiten. Die Zeitung "Folha de S.Paulo“, die zu seinen Hauptkritikern gehört, erklärte er gar als „erledigt“. Die Wahl Bolsonaros stellt einen nicht für möglich gehaltenen Anschlag auf die Demokratie dar, und die Gefahr einer neuen Diktatur ist real.

Die Tiefe des derzeit in Brasilien zu beobachtenden politischen Bruchs wurde bereits im Frühjahr bei der Ermordung von Marielle Franco sichtbar. Die linke, lesbische, schwarze Politikerin und Aktivistin wurde am 14. März 2018 im Zentrum von Rio de Janeiro in ihrem Auto regelrecht hingerichtet. Sie hatte als Stadträtin in Rio de Janeiro immer wieder Polizeigewalt und Korruption in der Polizei angeprangert und eine Kommission geleitet, die den Polizei- und Militäreinsatz gegen Drogenbanden in den Favelas überwachen soll. Der brasilianische Präsident Michael Temer sprach damals von einem „Anschlag auf die Demokratie“ und versprach eine schnelle Aufklärung der Umstände. Die Mörder wurden aber bis heute nicht gefasst. Es wird vermutet, dass rechte Milizen hinter der Tat stecken, die ein Zeichen an die Politik senden wollten. Mit dem Ausruf „Marielle, presente!“, mit dem sich weltweit zahlreiche Menschen solidarisierten, wurde gegen das Vergessen gekämpft, und Marielle Franco wurde zu einer Symbolfigur für den Einsatz für Menschenrechte.

Wie viele Anschläge hält die Demokratie aus?
Bereits vor der ersten Wahlrunde formierte sich ein breiter Widerstand gegen den ultra-rechten Kandidaten. Unter dem von Frauen ins Leben gerufenen Hashtag #elenão (Nicht er) positionieren sich Tausende im ganzen Land gegen Bolsonaro. Die Bewegung brachte am 29. September 2018 Hunderttausende auf die Straßen Brasiliens. Mit den Demonstrationen gelang es zwar, die GegnerInnen zu einem wichtigen Zeitpunkt zusammenzubringen, doch blieb das Land in verschiedene Fraktionen zersplittert. Auch zwei Tage nach der Wahl versammelten sich mehr als 50.000 Menschen in São Paulo, um vereint gegen den Rechtsruck ein Zeichen zu setzten. Es bleibt daher zu hoffen, dass der in Brasilien immer wieder zu beobachtende bemerkenswerte Widerstand von unten auch in den nächsten Jahren lebendig und die Demokratie erhalten bleibt.

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Pauline Vogel ist Studierende der Regionalstudien Lateinamerika an der Universität zu Köln und schrieb den Beitrag während ihres Praktikums beim Netzwerk Friedenskooperative.