Wie wird Versöhnung möglich?

von Hildegard Goss-Mayr

In jedem Menschen liegt die Sehnsucht nach Versöhnung, nach einem Leben, in dem Zwist, Feindschaft, Hass überwunden, Verletzungen geheilt werden. Diese Sehnsucht treibt den einzelnen Menschen, Volksgruppen, Nationen wie die Weltgemeinschaft dazu an, trotz vieler Fehlschläge, das Ringen um Versöhnung immer neu aufzunehmen. Denn dort, wo es im Kleinen oder Großen gelingt, Versöhnung zu stiften, erwächst neues, erfülltes Leben.

Doch dorthin ist ein langer Weg des Umdenkens, der Umkehr nötig, der nichts mit lächelndem Händeschütteln zu tun hat. Denn derartige Gesten können nicht wirklich die zugrunde liegende Problematik überwinden.

Auf dem Weg zu Versöhnung, obgleich er sich in unterschiedlichsten Situationen vollzieht, sind einige wesentliche Schritte zu beachten: Aufdecken der Wahrheit, Einsatz für Gerechtigkeit, Vergebung und Versöhnung.

Aufdecken der Wahrheit: wo immer Unrecht geschieht, sieht jede Seite meist nur ihre eigene Position, ihre eigene, in erstarrten Vorurteilen gefesselte Leiderfahrung. Ein erster befreiender Schritt liegt deshalb darin, das eigene Leid auszusprechen und auf die Erfahrung der Gegenseite zu hören. Solch empathisches Zuhören (mit Verstand und Herz), wie es z.B. zwischen Hutu und Tutsi in Burundi geübt wird, eröffnet die Möglichkeit zur Einsicht in die Leiderfahrung des "Andern", zum Erkennen seiner "Wahrheit". Es führt konsequent zum Hinterfragen der eigenen Position, kann Abbau von Vorurteilen bewirken, ja selbst zu gemeinsamem Einsatz für Frieden in Gerechtigkeit führen.

Aufdecken und Eingeständnis der Wahrheit - der Wirklichkeit - beider Seiten ist ein Grundpfeiler des Versöhnungsweges.

Größere Gerechtigkeit: Oft ist "Gutmachung" nicht möglich: Tote ins Leben zu rufen, Verstümmelte oder psychisch Zerstörte zu heilen. Und dennoch ist auf dem Weg zu Versöhnung unabdingbar der Einsatz für Strukturen größerer Gerechtigkeit gefordert, wie die Achtung der Grundrechte der Betroffenen, Überwindung aller Diskriminierung oder auch Dienste der Heilung für Traumatisierte.

Vergebung: hier stoßen wir auf den tiefsten, schwerwiegendsten Punkt, der eine wahrhafte Umkehr unserer Haltungen, unseres Herzens fordert. Handelt es sich doch nicht darum, dass der "Andere" sich unseren Vorstellungen entsprechend ändert, sondern um ein frei dargebotenes Geschenk. "Pardonner" im Französischen bedeutet etwas geben, was über das Alte hinausgeht. Ich fessle den anderen nicht an sein Unrecht, identifiziere ihn nicht damit, sondern durch Vertrauen, Achtung, Liebe, die ich anbiete, öffne ich das Tor zu einer neuen Haltung.

Aus Erfahrung wissen wir, dass ein solches Angebot oft zurückgewiesen wird, dass es auf beiden Seiten eines langen Weges zu gegenseitiger Annahme bedarf. Und dennoch: nichts ist verloren, was aus der Kraft der Vergebung gewirkt wird. Eines Tages ist die Zeit reif für die Wende. Glaubenden Menschen wird auf diesem Weg die Gewissheit zuteil: Der, der mich schuf, hat mich zuerst geliebt, bedingungslos in Glück wie in Schuld. Er nimmt mich an so wie ich bin, vergibt mir immer neu. Deshalb kann auch ich vertrauen und selbst in hoffnungslosen Situationen vergeben.

Versöhnung: Wer hat nicht das Glück gelungener Versöhnung erlebt in der Partnerschaft, zwischen Kindern und Eltern oder Freunden, zwischen Menschen im Zwist: Hutu und Tutsi, Opfern des Holocaust und Kindern von Nazis.

Versöhnung legt ein unermessliches Potential an Kreativität frei. Neues Leben bricht auf, das Verschiedenheit als Bereicherung für gemeinsames Wachstum erkennen lässt. Versöhnung erleben, ist ein Vorgeschmack der Freude der Einswerdung der Menschheit in Gerechtigkeit und Frieden, die alle ersehnen. Wie wir aus den folgenden Beiträgen ersehen, lohnt es sich, Mühe und Schmerzen, die notwendige Geduld und Beharrlichkeit dieses Weges der Neugeburt für sich selbst und die "Anderen" auf sich zu nehmen. Es zeichnet uns als zu Liebe befähigte Menschen aus, an diesem Befreiungsweg mitwirken zu dürfen.

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