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Geschichte der NATO
„Wir gegen die anderen“
vonAls am 4. April 1949 die NATO gegründet wurde, war das die Festschreibung des 1947 begonnenen Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR und ein deutlicher Bruch mit dem Prinzip der „kollektiven Sicherheit“, das der Gründung der UNO 1945 zugrunde lag. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Ansätzen: Im Bündnis heißt es „Wir gegen die anderen“, beim Konzept der kollektiven Sicherheit sitzen alle an einem Tisch und müssen sich auf eine für alle akzeptable Lösung des Konflikts einigen.
Die erste Phase nach der Gründung der NATO und darauf folgend des Warschauer Pakts war von massiver Hochrüstung bestimmt, in den USA und der UdSSR vor allem mit Atomwaffen mit immer größerer Vernichtungskraft.
Ein Umdenken setzte langsam nach der Erfahrung der Kubakrise im Oktober 1962 ein. Damals war die Welt nur um Haaresbreite einem atomaren Schlagabtausch zwischen den beiden Supermächten entkommen und die Erkenntnis machte sich breit, dass im Atomkrieg derjenige, der als erster schießt, als zweiter stirbt. Ein Atomkrieg kennt keinen Sieger, sondern nur Opfer und kann deshalb für keine Seite eine realistische Option sein. Diese Erkenntnis führte schließlich zu den ersten Ansätzen einer Entspannungspolitik und Verträgen zwischen den USA und der UdSSR über Rüstungsbegrenzung und -kontrolle. Abrüstung stand noch nicht auf der Tagesordnung, wohl aber eine Minimierung der Risiken eines ungewollten Atomkrieges, z.B. durch Fehlinterpretationen und Fehlalarme.
Im konventionellen Bereich ging die Aufrüstung bis zum Ende der 1970er Jahre ungebrochen weiter. Da beide Seiten traditionell asynchron bewaffnet waren – die USA und Großbritannien mit Schwerpunkt auf eine Seekriegführung und die UdSSR auf Landkriegführung –, ließen sich immer wieder eine Übermacht des Gegners in bestimmten Bereichen und Lücken in der eigenen Rüstung aufzeigen, die dringend geschlossen werden müssten. Vor allem die zahlenmäßige Überlegenheit sowjetischer Panzer musste immer wieder als Begründung für neue Rüstungsanstrengungen herhalten.
Politisch führte die Entspannungspolitik zwischen NATO und dem Warschauer Pakt zum Erfolg der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlussdokument 1975 wichtige zuvor strittige Fragen wie die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa einvernehmlich gelöst wurden.
Der NATO-“Doppelbeschluss“
Einen massiven Bruch mit dieser Entspannungspolitik vollzog die NATO im Dezember 1979 mit ihrem Beschluss zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in Westeuropa, sofern die Sowjetunion nicht ihre SS-20-Raketen abbauen würde. Die Stationierung wurde ab Herbst 1983 auch in die Praxis umgesetzt. Jetzt sah die UdSSR ihre politische und militärische Führung in Moskau einem möglichen Erstschlag mit Pershing-II-Raketen ausgesetzt, die nach ihrem Start im baden-württembergischen Mutlangen binnen 4,5 Minuten in Moskau einschlagen könnten. Die sowjetischen SS-20-Raketen, die von Seiten der NATO als Begründung für den Raketenbeschluss benannt worden waren, konnten dagegen lediglich die europäischen Verbündeten der USA bedrohen, nicht aber Washington.
Die Jahre 1981 bis 1983 waren zugleich bestimmt durch ein massives Anwachsen der Friedensbewegung in Europa, vor allem in der Bundesrepublik. Diese thematisierte nicht nur Kritik an und Widerstand gegen die Raketenstationierung, sondern eröffnete eine völlig neue und sehr prinzipielle Debatte. Da spielte nicht nur die Problematik einer atomaren Kriegführung eine Rolle, sondern auch nichtmilitärische Alternativen zur Friedenssicherung wurden breit diskutiert. Diese kritische Debatte griff auch auf die Bundeswehr und weiter auf Militärs in West und Ost über.
Anfangs suchte der Warschauer Pakt noch nach militärischen Antworten auf die neue Qualität der Bedrohung durch die USA und die NATO. Selbst ein Präventivkrieg gegen die Bundesrepublik wurde 1983 von PlanerInnen des Warschauer Paktes durchgespielt, bevor der zwischen der Sowjetunion und den USA geschlossene INF-Vertrag 1987 mit der Vernichtung aller landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen in Europa einen Schlussstrich unter diese Problematik zog.
Auch ein konventioneller Krieg führt zur Vernichtung
Nach und nach setzte sich in beiden Militärbündnissen die Erkenntnis durch, dass sich unter den Bedingungen der 1980er Jahre nicht nur ein Atomkrieg nicht gewinnen ließ, sondern auch ein konventionell geführter großräumiger Krieg – etwa in den Dimensionen des Zweiten Weltkrieges – zur Zerstörung der europäischen Zivilisation führen müsste. (1)
Als sich im Juni 1988 in der Ev. Akademie in Loccum erstmals Offiziere der Bundeswehr und der DDR-NVA zur Diskussion über diese Problematik trafen, gab es recht bald einen Konsens, dass angesichts der fatalen Folgen auch eines konventionellen Krieges alles getan werden müsse, um einen solchen Krieg zu verhindern. Die zu ergreifenden Maßnahmen reichten von Deeskalation bis hin zu Überlegungen, auf beiden Seiten eine „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ herzustellen, also die Armeen so auszurüsten, dass sie zwar eine begrenzte militärische Verteidigung, aber keine militärischen Angriffsoperationen führen konnten. Die Debatte über die „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ erwies sich allerdings als schwierig, da die weitaus meisten Waffensysteme, die zur Verteidigung dienen sollten, auch für den Angriff genutzt werden konnten. Dennoch war damit eine spannender militärischer Diskurs eröffnet, der nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und der UdSSR völlig in Vergessenheit geriet.
Die damaligen Debatten fanden allerdings einen gewissen Niederschlag im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), der zu einer deutlichen Abrüstung im Bereich der konventionellen Waffen führte und umfassende Verifikationsregelungen (u. a. Inspektionen und Informationsaustausche) festlegte. Ursprüngliche Vertragspartner waren die Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Paktes, den es aber bei der Unterzeichnung des Vertrages anlässlich des KSZE-Gipfeltreffens in Paris am 19. November 1990 schon nicht mehr gab. Der Vertrag bedurfte schon bald umfangreicher Anpassungen, die zwar ausverhandelt und 2004 von Russland, Weißrussland, Ukraine und Kasachstan ratifiziert wurden, nicht aber von den NATO-Staaten. Am 11. März 2015 wurde der Vertrag seitens der Russischen Föderation offiziell aufgekündigt, nachdem die USA angekündigt hatten, für ein Manöver zeitweise rund 3000 US-Soldaten ins Baltikum zu verlegen.
Vertane Chancen
Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes 1990 und der UdSSR 1991 eröffnete sich eine zuvor ungeahnte Möglichkeit, das System der „kollektiven Sicherheit“ analog zur UNO auch in Europa als entscheidendes Element einer ernsthaften Sicherheitspolitik zu etablieren. Die NATO hatte nach der Auflösung des Warschauer Paktes jegliche Existenzberechtigung verloren. Doch die NATO-Staaten verweigerten sich nicht nur der Auflösung, sondern dehnten bis heute das NATO-Gebiet immer weiter aus, was bei russischen Militärs und SicherheitspolitikerInnen zunehmend Sorgen hervorrief. Schon vor dem Ausbruch der Balkankriege Anfang der 1990er Jahre setzten sie auf eine Aufteilung Jugoslawiens entlang der alten Fronten des Ersten und Zweiten Weltkrieges statt auf Initiativen für ein friedliches Zusammenleben der Völker dieses Landes. 1999 führte die NATO im Kosovo-Konflikt auch einen offenen Krieg gegen Serbien.
Obendrein musste ein Feindbild existieren, das einen Zusammenhalt der NATO trotz divergierender Interessen einzelner Mitglieder garantierte. Als solches dienten zwischen 2001 und 2013 die aufständischen Taliban in Afghanistan. Doch mit dem Abzug der NATO-Kampftruppen musste ein neues Feindbild her. Seit Anfang 2014 erfüllt Russland diese Rolle. Diese Feststellung beinhaltet keinen Freispruch für Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim, sondern weist auf einen Aspekt hin, der bei der Analyse der verfahrenen Lage mit berücksichtigt werden muss.
Wie es weitergehen kann
Die aktuelle Situation der NATO Anfang 2019 zeigt vor allem im Zusammenhang mit der Kündigung des INF-Vertrages deutliche Parallelen zur Situation von 1979. Ganz offen droht im Zuge der Atomwaffenmodernisierung der USA erneut eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa möglicherweise weiter östlich in Polen oder den baltischen Staaten mit noch einmal deutlich reduzierter Vorwarnzeit.
Angesichts der Aufkündigung wesentlicher Bausteine der atomaren Rüstungsbegrenzung durch die USA und der Entwicklung neuer Atomwaffengenerationen durch die USA und Russland wächst die Kriegsgefahr im Falle einer Stationierung solcher Waffen auf einen Stand wie vor der Kubakrise 1962, womöglich noch darüber hinaus.
Eine Debatte, die wie in den 1980er Jahren dazu führt, diese Problematik zu erkennen und ein Umdenken einzuleiten, ist dringend erforderlich. Sie berührt die Frage der Existenz der Menschheit. Sollte diese Debatte geführt werden, dann muss erneut die Frage nach der Existenzberechtigung der NATO aufgeworfen werden. Dass die NATO keine Sicherheit schaffen kann, sondern als solche ein Sicherheitsrisiko darstellt, hat sie im Laufe ihrer Geschichte hinlänglich und gleich mehrfach bewiesen. Doch ihre Auflösung allein schafft noch nicht mehr Sicherheit, erst ein kollektives Sicherheitssystem kann dazu beitragen. Die Ersetzung der NATO durch die OSZE bleibt damit eine entscheidende Perspektive.
Anmerkungen
1 Von der Präventivkriegsplanung zur Erkenntnis, dass ein moderner Krieg nicht mehr gewonnen werden kann? – Ein Gespräch mit dem ehemaligen DDR-Militärplaner Siegfried Lautsch, www.aixpaix.de/europa/lautsch-interview-20170408.html
Die europäische Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden – Ein Gespräch 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, www.aixpaix.de/europa/schreiber-interview-20150717.html
2 “Wir müssen der Illusion entgegentreten, daß konventionelle Kriege führbar sind” – Interview mit Wolfgang Schwarz, Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (17.11.1988), www.aixpaix.de/geschichte/nichtangriffsfaehigkeit.html