Europäische Flüchtlingspolitik

Wohin nach dem Sommer der Migration?

von Bernd Kasparek

Im Rückblick auf das Jahr 2015 fällt vor allem auf, dass die Institutionen des europäischen Grenzregimes vollkommen unvorbereitet auf den Sommer der Migration, also die Ankunft und Weiterwanderung von rund einer Million Flüchtlingen in Europa, waren. Zwar waren Migrations- und Grenzpolitik ganz oben auf der politischen Agenda, dennoch waren die konkreten Vorhaben auf ganz andere Regionen und Konstellationen gerichtet. Die neue Europäische Kommission unter Jean-Claude Juncker, die im Herbst 2014 ihre Arbeit aufnahm, listete Migrations- und Grenzpolitik als eine ihrer Hauptprioritäten. So wurde etwa der neue Posten eines Kommissars für Migration geschaffen, welcher mit dem ehemaligen griechischen Verteidigungsminister Dimitris Avramopoulos besetzt wurde. Der Erste Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, wurde damit beauftragt, die ressortübergreifende Koordination der Migrationspolitik voranzutreiben. Auch die neue Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, sah ihr Amt als mit Migrationspolitik befasst.

Diese neue Schwerpunktsetzung der Kommission stellt jedoch ein eher träges Reagieren auf die migrationspolitische Dynamik der letzten Jahre dar. Seit den Bootsunglücken vor Lampedusa im Oktober 2013, bei denen bis zu 500 Menschen ihr Leben verloren, wurde nicht nur eine Neuorientierung der bis dato von einer versicherheitlichten Logik dominierten europäischen Grenzpolitik gefordert, sondern auch von der damaligen Barroso-Kommission versprochen (vgl. Kasparek 2015 für eine Rekonstruktion). Die italienische Marine-Operation Mare Nostrum verkörperte diese Neuorientierung hin zu einer Politik des Humanitarismus, verblieb aber ein nationaler Alleingang, der von den übrigen EU-Staaten und auch der Kommission kritisch beäugt wurde. Nach rund einem Jahr wurde Mare Nostrum daher durch die Operation Triton der europäischen Grenzschutzagentur Frontex abgelöst. Dies ging einher mit einer Rückverschiebung der Einsatzziele von der Rettung von Menschenleben auf hoher See hin zur Sicherung der Grenzen. Erst nachdem es in der Nacht vom 18. zum 19. April 2015 erneut zu einer Schiffskatastrophe im Mittelmeer kam, bei der rund 800 Menschen ertranken, wurde Triton erneut humanitaristisch ausgerichtet. Gleichzeitig trieb Federica Mogherini die Idee einer Militärmission im Mittelmeer voran, die auf die Bekämpfung der Schlepper und Schleuser in Libyen abzielte und sich am Vorbild der Atalanta-Mission zur Bekämpfung der Piraterie vor der somalischen Küste orientierte. Diese neue Rolle des Militärs in der europäischen Migrations- und Grenzpolitik findet sich auch im überraschend verkündeten NATO-Einsatz in der Ägäis.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Fokus des europäischen Grenzregimes im Frühjahr 2015 auf das zentrale Mittelmeer zwischen Libyen und Italien beschränkt war. Gleichzeitig hatte sich ein neuer politischer Diskurs etabliert, der weniger auf die bis dato praktizierte Unterscheidung von legitimen Flüchtlingen einerseits und wirtschaftlich-motivierten MigrantInnen andererseits abzielte. Vielmehr stand ein humanitaristischer Diskurs im Vordergrund, der zwischen den zu rettenden Opfern der Schlepper und Schleuser und den „kriminellen Netzwerken“ der kommerziellen Fluchthilfe unterschied.

Korridor

Während also das europäische Grenzregime im Frühjahr 2015 noch nahezu exklusiv auf das zentrale Mittelmeer blickte, hatte sich seit dem Frühjahr 2015 im Stillen eine neue Fluchtroute nach und durch Europa etabliert. Ausgehend von der west-türkischen Küste setzten vermehrt Flüchtlinge – vor allem aus Syrien – auf die griechischen Ägäisinseln über, gelangten von dort auf das griechische Festland und begaben sich dann an die griechisch-mazedonische Grenze nahe der Orte Idomeni (Griechenland) und Gevgelija (Mazedonien). Zuerst zu Fuß, und nach der Einführung eines de facto Transitvisums durch den mazedonischen Staat im Juni 2015 per Zug, setze sich die Route durch Serbien hindurch nach Ungarn fort.

Trotz einer dezidiert gegen Flüchtlinge gerichteten Rhetorik und Praxis der ungarischen Regierung ließ auch diese den klandestinen Transit der Flüchtlinge nach Österreich zu. Dies änderte sich erst, als Ende August 2015 der Fund von 71 erstickten Flüchtlingen in einem Transporter südlich von Wien zu einer massiven Polizeioperation führte, in Folge dessen die Schleuser und Schlepper ihre Aktivitäten einstellten. Viele Tausende Flüchtlinge strandeten rund um den Budapester Ostbahnhof (Keleti). Im Laufe der nächsten Tage spitzte sich die Situation zu. Ohne auch nur eine grundlegende Versorgung befanden sich immer mehr Flüchtlinge in einer verzweifelten Situation. Die Bilder von der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe gingen um die Welt und markieren den Beginn einer globalen Aufmerksamkeit für die Konstellation, die mittlerweile als „europäische Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird. Bekannterweise ließen Österreich und Deutschland am 4. September 2015 den Transit der Flüchtlinge zu (vgl. Kasparek/Speer 2015). Damit verwandelte sich eine bis dahin versteckte Route der Migration in Europa zu einem offenen Korridor, der ein absolutes Novum in der europäischen Flüchtlingspolitik darstellte und dessen bloße Existenz das Gefüge des europäischen Migrationsregimes erschütterte.

Über den Herbst und Winter wandelte sich der Korridor vermehrt zu einer - improvisierten und oftmals instabilen - Kontrollinfrastruktur. Die Staaten entlang des Korridors begannen, Architekturen des Transits zu schaffen. Dies diente dem Zweck, den Transit der Flüchtlinge so schnell und reibungslos wie möglich zu gestalten. Der Korridor etablierte auch einen neuen migrationspolitischen Raum. Ende Oktober, zum Höhepunkt der Ankünfte in Griechenland und der Bewegungen auf dem Korridor, kam es in Brüssel zu einem ad-hoc Gipfel, der die Staats- und Regierungschefs der beteiligten Staaten zusammenbrachte. Im Rahmen eines 17-Punkte-Plans wurde versucht, sich zu diesem Zeitpunkt abzeichnende nationale Alleingänge wie etwa Grenzschließungen und die Errichtung von Zäunen an nationalen Grenzen zu verhindern und eine gewisse Koordination und Abstimmung der Staaten zu gewährleisten. Mittlerweile lässt sich konstatieren, dass diese Bemühungen gescheitert sind, der Korridor wurde nach dem EU-Gipfel am 7. März 2016 unilateral geschlossen.

Restabilisierung oder ein neuer Sommer?

Auch im Frühjahr 2016, also rund zehn Monate nach Beginn der Migrationen des Sommers 2015, zeichnet sich keine kohärente Strategie in Europa ab, die zu einer Restabilisierung des europäischen Grenz- und Migrationsregimes führen könnte. Dies wird vor allem durch eine anhaltende und sich sogar verschärfende Dynamik der Renationalisierung in Europa verursacht. Nachdem Österreich den migrationspolitischen Raum der Balkanroute durch den Wiener Balkangipfel am 24. Februar 2016 geradezu usurpiert und damit eine Politik der Neuerrichtung nationaler Grenzen angestoßen hat, scheint eine europäische Lösung, für die mittlerweile nur noch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit den Institutionen der Europäischen Union eintritt, in weite Ferne gerückt.

Gleichzeitig ist die von Merkel favorisierte Lösung, die auf ein nahezu komplettes Out-Sourcing der Migrationskontrolle an die Türkei hinausläuft, eine riskante Strategie. Die migrationspolitischen Kooperationen der EU mit despotischen Drittstaaten, wie etwa das Libyen Gaddafis, oder anderer Diktaturen in Nordafrika, sind bisher durchgängig gescheitert. Eine langfristige Lösung haben sie nie dargestellt. Der aktuelle Verhandlungsprozess zwischen der EU und der Türkei unterstreicht dies noch einmal: Es ist mehr als nur offensichtlich, dass die Türkei die Frage der Migration als Faustpfand zur Verbesserung der eigenen geopolitischen Position nutzt, und dabei die EU vorführt. Die Tolerierung der massiven Einschränkungen der Pressefreiheit, die Verfolgung von Oppositionellen und eines offenen Bürgerkriegs im Südosten der Türkei durch die EU zeigt gleichzeitig, welchen hohen Preis die EU bereit ist, für eine Wiederherstellung der Migrationskontrolle zu zahlen, und wie groß der Mangel an alternativen politischen Konzepten ist.

Die von der Europäischen Kommission favorisierten Konzepte des Aufbaus einer politischen und logistischen Infrastruktur des Migrationsmanagements sind gleichermaßen gescheitert. Dieser langfristige Ansatz, also der Dreiklang aus Hotspots, Relocation und Resettlement (vgl. Ibrahim/Kasparek 2015), scheint sich kaum von der Stelle zu bewegen. Die so genannten Hotspots, grenznahe Lager zur Erfassung und Identifizierung von MigrantInnen, in denen gleichzeitig Asylverfahren durchgeführt und von denen Abschiebungen ausgehen sollen, existieren derzeit nur pro forma. Sowohl in Griechenland als auch in Italien scheinen sie nur zur Erfassung der Flüchtlinge zu dienen. Ein europäisches Asylsystem und eine europäische Asylbehörde, auf die die Hotspots letztendlich verweisen, sind dort jedoch weder im Ansatz erkennbar, noch ist es wahrscheinlich, dass es zu einer solchen Kompetenzübertragung an die EU in nächster Zeit kommen wird. Daran ist auch das Konzept der Relocation (Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU) und des Resettlement (Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen) gescheitert: Letztendlich ist die große Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten nicht bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Auch flankierende Maßnahmen, wie etwa der Aufbau eines Europäischen Grenzschutz- und Küstenwachen-Regimes, welches die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ablösen und zu einer weiteren Zentralisierung von Befugnissen in Brüssel führen soll, ist daher kaum geeignet, diese Blockade zu durchbrechen.

Wichtiger als die Frage nach der Restabilisierung des europäischen Grenzregimes ist jedoch die Frage nach den auch in diesem Jahr wieder stattfindenden Migrationen. Die Bilder aus Idomeni, dem griechischen Dorf an der Grenze zu Mazedonien, in der seit der Schließung der Balkanroute zeitweise bis zu 16.000 Menschen im Schlamm festsaßen und unter unerträglichen Bedingungen ihr Dasein fristen mussten, ist ein Menetekel für die kommenden Monate. Denn die Politik der für Flüchtlinge geschlossenen Grenzen und der Verweigerung des Schutzes für Schutzsuchende Menschen wird eine Vielzahl von Idomenis entstehen, wird Menschen auf gefährliche und teure Routen ausweichen lassen und letztendlich eine Vielzahl von Tragödien und Katastrophen produzieren. Es war und ist der Fehler des europäischen Grenzregimes gewesen, dass es durch die Aufrüstung der Grenzen suggeriert hat, Migration und Flucht ließen sich von Europa fernhalten. Dies ist nicht der Fall, und auch Europa muss sich seiner Verantwortung stellen. Der Korridor war während der Zeit seiner Existenz eine pragmatische und realistische Antwort auf diese Verantwortung. Eine solche pragmatische und realistische Antwort wird auch in diesem Jahr, und für die Jahre hinaus, notwendig sein.

 

Quellen

Kasparek, Bernd (2015): Was war Mare Nostrum?. Dokumentation einer Debatte um die italienische Marineoperation. In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1 (1). Online: http://movements-journal.org/issues/01.grenzregime/11.kasparek--mare-nos....

Kasparek, Bernd / Speer, Marc (2015): Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. Online: http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/

Ibrahim, Aida / Kasparek, Bernd (2015): Die Migrationsagenda der Europäischen Union und die Zukunft von Dublin. Online: http://bordermonitoring.eu/analyse/2015/07/die-migrationsagenda-der-euro...

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Bernd Kasparek ist Mathematiker und Kulturanthropologe. Er forscht seit vielen Jahren zum Europäischen Migrations- und Grenzregime. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerks Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Mitglied des Vorstands der Forschungsassoziation bordermonitoring.eu.