Zur Diskussion: aus der Debatte über die Atomraketenstationierung 1983

Ziviler Ungehorsam – eine reife politische Kultur?

von Renate Wanie
Hintergrund
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Die Aktionsform „Ziviler Ungehorsam“ ist kein neues Phänomen. Bereits in den 70er und 80er Jahren haben politische Philosophen wie Hannah Arendt (1972) und Jürgen Habermas (1983) ihre Argumente für den zivilen Ungehorsam als legitimer Protestform  dargelegt.
In dem Sammelband „Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat“ aus dem Jahr 1983 setzen sich prominente Autoren wie Habermas mit dem politischen Konflikt um die geplante Stationierung der Atomraketen Cruise Missiles und Pershing II-Raketen auf deutschem Boden auseinander. (1) Der Herausgeber Peter Glotz stellte einleitend fest, der Begriff des Zivilen Ungehorsams erlange eine prominente Stellung in der (damaligen) gesellschaftlichen Diskussion. Der bloße Verweis allein auf eine Mehrheitsentscheidung im Bundestag genüge nicht mehr. Was gebraucht werde, sei ein „Prozess, der stets neu erforderlichen Versöhnung von Legalität und Legitimität“. Wie kann solch ein Prozess aussehen? Im Folgenden wird Jürgen Habermas zitiert. Seine These: „Jede rechtsstaatliche Demokratie, die ihrer selbst sicher ist, betrachtet den Zivilen Ungehorsam als normalisierten, weil notwendigen Bestandteil ihrer politischen Kultur“. Sind legitime Regelverletzungen ein unverzichtbarer Bestand der politischen Kultur in einem Rechtsstaat?

Ein Normalfall im „intakten Rechtsstaat“?
Die damalige Protestbewegung, so Habermas, gebe – im Vergleich mit der 68er Studentenbewegung - erstmals „die Chance, auch in Deutschland zivilen Ungehorsam als Element einer reifen politischen Kultur begreiflich zu machen.“ (S. 32) Der plebiszitäre Druck des Zivilen Ungehorsams sei oft die letzte Möglichkeit, Irrtümer zu korrigieren (S. 40). Wenn die Mehrheitsregel ihre legitime Kraft behalten solle, müsse eine flexible Handhabung der Mehrheitsregel angesagt sein. Voraussetzung sei, dass der Zivile Ungehorsam „nur unter der Bedingung eines im ganzen intakten Rechtsstaates“ eintrete. (S. 39) Habermas schränkt ein, dass der „Regelverletzer“ die plebiszitäre Rolle des unmittelbar auftretenden Staatsbürgers dann nur in den Grenzen eines Appells an die jeweilige Mehrheit (im Bundestag) übernehmen dürfe und zieht einen Vergleich: Im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkenne der Regelverletzer die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an. (S. 39)

Damit setzt Habermas den Zivilen Ungehorsam eindeutig ins Verhältnis zum bestehenden Rechtsstaat. Relevant auch für die heutige Diskussion ist der Gedanke von Habermas, „dass sich die Möglichkeit des berechtigten zivilen Ungehorsams für ihn (den Regelverletzer) allein aus dem Umstand ergibt, dass auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können“, jedoch „nicht nach der Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit.“ (S. 39) Dabei betont er: „Es geht nicht um den Extremfall der Unrechtsordnung, sondern um einen Normalfall, der immer wieder eintreten wird, weil die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt ein langfristiger, historisch keineswegs geradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozeß ist.“ Diese Position verstärkt Habermas auf S. 40/41 und vertritt die These: „Was prima facie Ungehorsam ist, kann sich, weil Recht und Politik in steter Anpassung und Revision begriffen sind, sehr bald als Schrittmacher für überfällige Korrekturen und Neuerungen erweisen.“ (z.B. beim Thema  Atomkraftwerke) In diesen Fällen seien zivile Regelverletzungen moralisch begründete Experimente, ohne sie könne sich eine vitale Republik weder ihre Innovationsfähigkeit noch den Legitimationsglauben ihrer Bürger erhalten. Nach Habermas ist Ziviler Ungehorsam also ein notwendiges und korrigierendes Element in der politischen Kultur eines Rechtsstaates.

Zwischen Legalität und Legitimität
Dazu schreibt Jürgen Habermas weiter: „Weil dieser Staat in letzter Instanz darauf verzichtet, von seinen Bürgern Gehorsam aus anderen Gründen als dem einer für alle einsichtigen Legitimität der Rechtsordnung zu verlangen, gehört ziviler Ungehorsam zu dem unverzichtbaren Bestand einer reifen politischen Kultur.“ Und Habermas fügt hinzu: „In jedem Fall sollten aber die Gerichte erkennen lassen, daß ziviler Ungehorsam keines der üblichen Delikte ist. (…) Für den Ausnahmefall des Versagens der Repräsentativverfassung stellt er seine Legalität zur Disposition, die dann noch für seine Legitimität sorgen könnte. (…) Der zivile Ungehorsam bezieht seine Würde aus diesem hochgesteckten Legitimitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates. Wenn Staatsanwälte und Richter diese Würde nicht respektieren, den Regelverletzer als Kriminellen verfolgen und mit den üblichen Strafen belegen, verfallen sie einem autoritären Legalismus“. Zum anderen wisse sich der gewissenhaft begründete Zivile Ungehorsam dem Verfassungskonsens verpflichtet „und darf nicht mit der Durchsetzung privater Glaubensgewissheiten verwechselt werden.“ Habermas weist auf Henry Thoreau und Martin Luther King hin, die nicht ihre privaten Überzeugungen verabsolutiert hätten, sondern sich gegen Sklavenherrschaft und Menschenrechtsverletzungen zur Wehr setzten und dabei geltende Verfassungsprinzipien einklagten. (S. 44)

Auf dem Hintergrund der Antikriegsbewegung 1972 in den USA plädiert Hannah Arendt, anders als Habermas, für eine Institutionalisierung des Zivilen Ungehorsams ohne juristische Folgen, sie zieht diesen Schluss: „Die politische Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams könnte das bestmögliche Heilmittel gegen dieses letztendliche Scheitern juristischer Prüfungen sein. Der erste Schritt wäre, den Minderheiten, die einen zivilen Ungehorsam praktizieren, die gleiche Anerkennung zu gewähren die den zahlreichen Interessengruppen im Lande zugestanden wird und mit den Gruppen des zivilen Ungehorsams auf die gleiche Art wie mit den Pressure-groups zu verhandeln (…).“  (3)

Kein Zweifel: Der Zivile Ungehorsam ist auch im Jahr 2020 ein Element einer reifen politischen Kultur! Doch Kritiker*innen sehen z.B. eine Blockade-Aktion z.B. von Extinction als einen Angriff auf den Rechtsstaat und die Demokratie und übersehen dabei, dass diese Widerstandsform historisch eine bedeutende Rolle bei der Erkämpfung von Rechten gespielt hat, die heute als gegeben erachtet werden. Welche Rolle spielt heute die Anerkennung des bestehenden Rechtsstaates in den sozialen Bewegungen als Grundlage für die Legitimität von Zivilem Ungehorsam?

Anmerkungen
1 Glotz, Peter (Hrsg. 1983): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Suhrkamp Verlag (einzig männliche Autoren)
2 Habermas, Jürgen (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In: Glotz, Peter: Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Suhrkamp Verlag
3  Arendt, Hannah (1972): Zur Zeit. Politische Essays. Rotbuch Verlag, 1986, S. 158

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