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Ziviler Ungehorsam gegen den Atomstaat
von"Wo Recht zu Unrecht wird, wird Ausrangiert zur Pflicht!" schrieben Schüler und Schülerinnen aus einer Jugendumweltgruppe auf ihr Transparent, mit dem sich am Sontag, den 12. März 95 an der Schienendemontage vor dem CASTOR-Verladekran in Dannenberg beteiligten. Mehr als 1.000 Menschen kamen zu einer lange angekündigten und vom Landkreis Lüchow-Dannenberg verbotenen gewaltfreien Aktion Ziviler Ungehorsams. An einem sonnigen Vormittag, bunt und vielfältig, wie es vom Wendland erwartet wird, wurde die Aktion "Ausrangiert" ein voller Erfolg.
Im Vorfeld: Begeisterung und Skepsis
Anfang Januar des Jahres wurde der Aufruf "Ausrangiert! Schienendemontage am CASTOR-Kran Dannenberg im Wendland" weit gestreut in der Republik verteilt und in zahlreichen Zeitschriften (vgl. auch FriedensForum 1/95) dokumentiert. Dieser erste Aufruf zielte darauf ab, mindestens 300 Menschen für einen gemeinsamen Aufruf als Zeitungsanzeige zu gewinnen. Dadurch sollten sich Auswärtige aktiv beteiligen können und durch ihre Solidarität das strafrechtliche Risiko für Einzelne vermindern helfen. Denn bereits oder Aufruf zur Schienendemontage war strafbar. Auf die juristischen Folgen der gesamten Aktion wurde von den InitiatorInnen von Beginn an hingewiesen.
Spontane Zustimmung und Begeisterung waren die ersten Reaktionen. Der Ansatz des Zivilen Ungehorsams hatte eine Stimmung getroffen, die nach dem überwältigenden Aufbegehren gegen den CASTOR im letzten Sommer und November vorherrschte: "Wir wollen einen Schritt weiter gehen, offen und selbstbewusst. Wir brauchen uns nicht zu verbergen, wir wissen die Mehrheit in der Bevölkerung hinter uns." Die sorgfältige und informative Vorarbeit - dem ersten Aufruf folgten ergänzende Info-Blätter zu "Recht" und "Ziviler Ungehorsam" - schaffte das notwendige Vertrauen, diesen nächsten Schritt zu gehen. Kaum einen Monat später waren die angestrebten Unterschriften beisammen und in zwei großen Anzeigen in der "Elbe-Jeetzel-Zeitung" wurden über 400 Personen und Organisationen veröffentlicht.
Mehr als skeptisch wurde von einer Reihe altgedienter GorlebnaktivistInnen das Ansinnen kommentierte, im Vorhinein den eigenen Namen in der Zeitung zu veröffentlichen: "So etwas gab es hier noch nie! Ich mache doch der Polizei nicht freiwillig die Arbeit leichter!" war von Erstaunten zu hören. Ernsthafte Diskussionen in den Castor-Gruppen und in beteiligten Familien, ob dieser begrenzte Gesetzesverstoß für den Schutz höherstehender Güter (Recht auf Leben, Schutz zukünftiger Generaltionen, Freiräume im Atomstaat) im Rahmen von "Ausrangiert" vertretbar sei und ob für die Folgen offen eingestanden werden muß, waren die Folge: einkollektiver Lernprozess in Sachen Ziviler Ungehorsam setzt ein. Ein Großteil der Aufrufenden kam von außerhalb Lüchow-Dannenbergs, was einerseits eine große Solidarität für den Gorlebenwiderstand ausdrückt, andererseits vermuten läßt, daß die politische Strategie des Zivilen Ungehorsams in manch anderer Region bereits stärker verankert ist als hier.
Versammlungsverbot: Demontieren nur mit Bahnsteigkarte?
Am Samstag, den 11. März, gut 24 Stunden vor Aktionsbeginn, veröffentlicht der Landkreis in der Lokalzeitung eine eineinhalbseitige Allgemeinverfügung. Darin untersagt er die Demonstration auf den Gleisanlagen und verbietet ausdrücklich die Demontage von Schienen. Der Schutz "wichtiger Gemeinschaftsgüter", mit denen der einzig dem CASTOR vorbehaltene Schienenstrang gemeint sein mußte, wird als Begründung angeführt. Ordentlich zitiert der Landkreis dann mehrere "Ausrangierte" - Flugblätter, die bislang aus rechtlichen Gründen nicht in der Zeitung abgedruckt werden durften. Selbst das Tagesprogramm für Ausrangiert wurde darin bekannt gemacht. Wesentlicher Effekt blieb das gesteigerte Interesse der Medien, denen kurz vor Aktionsbeginn ein willkommener Anlaß zur Berichterstattung geliefert wurde. Das Wendland reagierte allenfalls mit einem Schmunzeln auf das Verbot aus dem Kreishaus: so offensichtlich unverhältnismäßig war dieser Schritt, stand doch schon im Demonstrationsverbot wörtlich geschrieben: "Es ist tatsächlich auch ein umfangreiches, gewaltfreies Rahmenprogramm vorgesehen, wie Frühstücksbufett, Gottesdienst im Freien und kulturelle Beiträge. Es bestehen darüberhinaus keine Anhaltspunkte dafür, daß es zu Gewalttätigkeiten gegen Personen kommt." Eine bessere Einladung an die Bevölkerung des Wendlandes war kaum denkbar.
Gut vorbereitet und gestärkt zur Tat
"Was ist Gewalt, was bedeutet für mich Gewaltfreiheit? Wo liegen meine Grenzen, wie weit kann ich gehen?" Am gleichen Tag ließen sich ca. 70 Teilnehmende mit 7 TrainerInnen der KURVE Wustrow in einem gewaltfreien Training auf diese grundlegenden Fragen und auf eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen Ängsten und ihrer Wut ein und konnten ihr eigenes Handeln bei der Schienendemontage vorab reflektieren. Beim Plenum am Samstag Abend informierten sich ca. 250 Menschen über Details des Aktionsrahmens und trafen letzte Absprachen.
Um trotz Versammlungsverbotes, das ab Sonntag 8 Uhr galt, ungestört den "Tag Z" beginnen zu können, waren schon 100 Menschen vor diesem Zeitpunkt am Beispiel Ost in Dannenberg mit dem Aufbau des Frühstücksbufetts beschäftigt. Gleichzeitig fuhren die Hundertschaften der Polizei am Ort des Geschehens auf, der nur 500 Meter vom CASTOR-Kran entfernt lag.
Gut im Zeitplan und bei schönstem Frühlingswetter frühstückten mehrere hundert DemonstrantInnen gemeinsam von einer 18 m langen Tafel Müsli und belegte Brote - meist von den widerspenstigen Biobauern und BiobäuerInnen gestiftet - und streckten die Beine von Strohballen ins Schrotterbett. Der Kompromiss zu dieser Stunde: Frühstück, Gottesdienst und Kundgebung in aller Ruhe auch zehn Meter neben dem CASTOR-Gleis stattfinden. "Derweilen soll die Polizei doch das Gleis vor Abtrag schützen!" In allen Predigten und Reden blieb jedoch kein Zweifel, daß es zum Höhepunkt des Tages noch kommen sollte: alles zu seiner Zeit. Um 12.30 Uhr war es dann soweit, 1.000 Menschen schritten zur Tat: links, von rechts, von vorne kommend war durch die Polizei kein Halten mehr.
Kamerateams und dutzende von FotoreporterInnen boten sich nun neue, ungewohnte Motive: Jung und Alt buddelten zwischen irritiert schauenden Polizeitrupps, eine TrommlerInnengruppe pumpte Puls in das Gemenge und um einem Zieharmonika- Spieler wurde zu Volksliedern auf den Gleisen getanzt. Wer glaubte vor Wochen schon daran, daß es wirklich zum Demontieren käme? Genau dort, wo es der Landkreis verboten hatte, wurden nun Dutzende von Schrauben herausgedreht und vier Schwellen ausgebaut, an vielen Stellen der Gleiskörper freigelegt oder mit umliegendem Geröll überhäuft. Nach getaner Arbeit nahmen die Teilnehmenden, trotz vordrängender Polizei, die gesamte Breite der Gleisanlagen für einen dreifachen Energiekreis mit vielen hundert Menschen ein.
Reaktionen der Polizei
Insgesamt waren bei "Ausrangiert" über 600 BGS- und PolizeibeamtInnen im Einsatz - zu wenige, um diese Aktion Zivilen Ungehorsams in den Griff zu bekommen, zu viele, um die Aktion friedlich verlaufen zu lassen. Ständige Versuche einiger BGS-Greiftrupps in Ganzkörperpanzer, SängerInnen und SchrauberInnen aus der Menge zu ziehen, brachte viel Unruhe, Gerangel und 20 vorübergehende Festnahmen. Einige DemonstrantInnen wurden bei der Anreise durchsucht und Werkzeuge, vor allem Eisensägen und 19 mm Maulschlüssel, während der Aktion beschlagnahmt. Laut Pressemeldungen sollen fünf Strafverfahren eingeleitet werden.
In einer am 23. März veröffentlichten Auswertung der Polizei stellte deren Leiter für Lüchow-Dannenberg fest, daß ihre Probleme offensichtlich aus dem neuartigen Verhalten der DemonstrantInnen - Ziviler Ungehorsam - resultierte. Ein "Drittelmix" aus "friedlichen Demonstranten", "solche, die sie begünstigten, etwa indem sie diese durch Blockaden gegen Polizeibeamte abgeriegelt haben," hätten in den Köpfen der Einsatzkräfte eine Blockade ausgelöst.
Fazit: die Taktik von Polizei und BGS war insgesamt unkoordiniert, unentschlossen und nicht wirksam, die Motivation der Truppe durch das Verhalten der DemonstrantInnen ausgehöhlt. Der Einsatz bewegte sich im legitimatorischen Dilemma zwischen Deeskalation und konsequenter Verhinderung der Demontage. Kostenberechnung der Polizei: Schaden am Gleis DM 11.000,-, Kosten für den Polizeieinsatz DM 500.000,-
Castor-Alarm schon am Tag X minus
Nach dem öffentlichen Aufruf war die große Zahl an DemonstrantInnen und die Schienenaktion selbst mehr als ein halbes i-Tüpfelchen: lediglich der Abtransport von Gleisen fehlte noch. Politisch dürfte das Signal nach Hannover und Bonn deutlich sein: Mit dieser Bevölkerung ist nicht gut Spaßen! Die Entschlossenheit zum Gesetzesbruch wegen des CASTORs und der Mut und die Risikobereitschaft sind groß, die Furcht vor Polizei und Strafverfolgung im kalkulierten Rahmen gering. Hier muß gerade die SPD-Landesregierung Farbe bekennen.
Der Transporttermin soll, wie aus Hannover zu vernehmen ist, Ende April sein. Bereits jetzt befindet sich das Wendland in "Widerstandsstufe II: Unruhe im Vorfeld", was auch beim Besuch von Bundesumweltministerin Merkel im End- und Zwischenlager Gorleben am 23. März unüberhörbar war. Die CASTOR-Strategie besagt nach wie vor: Wir verhindern ihn, bevor er losfährt. Denn ist der Transport erst einmal am Rollen, soll er von der Polizei unter allen Umständen ohne Zwischenstopp in Gorleben eingefahren werden. Also muß das Zentrum unserer Aktivitäten mindestens drei Tage vor der Abfahrt liegen: Konzept X minus! Hier ließe sich die positive Erfahrung von "Ausrangiert" nutzen, wie vorab genau abgewogene und angekündigte Gestzesübertretungen, die den CASTOR real verhindern könnten, in die Tat umgesetzt werden könnten. Damit ließe sich der politische wie der moralische Druck auf Hannover und Bonn enorm erhöhen.
Wer in die bundesweite Telefon-Alarmliste aufgenommen werden möchte oder die "Gorleben Rauschau" erhalten möchte, kann sich bei der BI Lüchow-Dannenberg unter 05841/4684 melden.