Zum Ausgangspunkt einer Europäischen Debatte

von Claudia Roth
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In den vorgelegten Thesen fehlt mir die Positionierung, der politische Ort, von wo aus wir unsere Europapolitik gestal­ten und formulieren.

Europapolitik fängt zu Hause an: sprich in den Ländern, in den Parlamenten und Landesregierungen. (...)

Europapolitik findet natürlich auch statt im Europaparlament, wo wir die klein­sten Mitbestimmungs- und Informati­onsmöglichkeiten detektivisch und akribi­sch nutzen müssen.

Unser Ansatz muß es aber gerade sein, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen - ein Europa von unten. D.h. Koordination und Information von An­tirassismusgruppen, EinwanderInnen­organisationen und Flüchtlingsverbän­den über die Grenzen hinweg, um ge­meinsame Strategien und Konzepte gegen die gemeinsamen Entscheidun­gen von oben überhaupt formulieren zu können. Die Zusammenarbeit mit den vielen außerparlamentarischen Organi­sationen und Initiativen überall in Eu­ropa, die sich nicht abfinden mit scheinbar unveränderbarer restriktiver Abschiebungspolitik, die nicht die Fe­stung, sondern das offene Europa wol­len und die nicht bereit sind, die Reali­tät, daß die Grenzen dicht, die Innen­politik blind und die Abschiebebehör­den taub sind, einfach hinzunehmen, ist für grüne Politik unverzichtbar.

Die hier vorgelegten Thesen verbleiben aus meiner Sicht total verhaftet in der herrschenden Logik. (...)

Wir stehen nicht am Anfang der De­batte - oder: Die Festung steht

Bei dem vorgelegten Entwurf fallen schon auf den ersten Blick zwei Dinge auf:

1.    steckt wohl der ansonsten typisch so­zialdemokratische Wunschtraum da­hinter, über Europa das erreichen zu wollen, was auf nationaler Ebene verloren oder gar aufgegeben wor­den ist. Das ist nicht sehr reali­tätstüchtig, da es ja nun gerade das deutsche Asylabschaffungsmodell ist, das Pate für die europäische Lö­sung steht.

2.    und das ist viel gravierender: scheint das eklatante Informationsdefi­zit in der Europäischen Union auch die Verfasser der hier zur Debatte stehen­den Thesen zu ihren Opfern gemacht haben. Es ist eine Fehleinschätzung, daß wir am Beginn der europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik stehen, und daß wir auf diesem Weg den natio­nalen Festungstendenzen entgegenwir­ken könnten. Eine Fehleinschätzung, weil nicht nur die Struktur undemokra­tisch ist, in der dieser Politikbereich stattfindet, sondern vielmehr weil die Inhalte im Bereich Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik konsequent restriktiv sind. (...)Die Festung ist errichtet - die neuen Mauern stehen - der eiserne Vor­hang wird heute vom Westen her er­richtet. Um nur einige Bausteine zu nennen:

-     Das Schengener Abkommen, dessen Hauptsäule die koordinierte Flücht­lingsabwehrpolitik ist - wird schon seit den frühen 80er Jahren erarbei­tet.

-     Die Dubliner Konvention, die die Möglichkeit eines Asylantrags auf ein Land der Europäischen Union beschränkt und zu einem Wettlauf in der Frage der strengsten Einreisebe­stimmungen geführt hat, ist schon von 7 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden.

-     Die Kommission hat die Initiative ergriffen, um die Konvention zum Überschreiten der Außengrenzen baldmöglichst verabschieden zu können.

-     Die Restriktion Visapolitik, die Flüchtlinge von vornherein an der Flucht hindern soll, ist de facto schon lange harmonisiert: Aktuell gilt für BürgerInnen aus 123 Staaten in der gesamten Union die Visums­pflicht.

-     Mit den Nachbarstaaten der Europäi­schen Union sind Parallelabkommen zu Dublin anvisiert.

-     Die Prinzipien der sicheren Drittstaa­ten, der verfolgungsfreien Herkunfts­länder und der offensichtlich unbe­gründeten Anträge sind innerhalb der Union unumstritten.

-     Der "cordon sanitaire", der Schutz­wall gegen unliebsame Einwande­rInnen ist nach Osten und Süden er­richtet

-     Das System der bi- und multilatera­len Rückübernahme-, Durchschiebe- und Rückschiebeabkommen, die ei­nen Dominoeffekt nach Osten und Süden bewirken und Kettenabschie­bungen zur Folge haben, sollen zu EU-Rahmenabkommen gemacht werden.

-     All das hat in der Budapester Konfe­renz im Februar 1992 zu einer geni­al-maliziösen Umdefinition geführt: Aus Flüchtlingen wurden Illegale, weil es aus sicheren Herkunftslän­dern per se keinen Fluchtgrund gibt, ergo auch keine Flüchtlinge, ergo nur noch Illegale, die mit allen Mit­teln, wie z.B. beweglichen Einheiten zu Wasser/Land Luft zu bekämpfen sind. Und diese Kriminalisierung von Flüchtlingen läutete gleichzeitig die Militarisierung der Flüchtlings­politik ein. Der Abschottung nach außen folgt nun die Aufrüstung und ethni­sche Säuberung nach innen, die von Militär und Polizei gemeinsam über­nommen werden soll.

Diese Entwicklung findet unverständli­cherweise weder in den hier vorgeleg­ten Thesen noch in der Analyse Erwäh­nung. (...)

Es ist einfach falsch, die Vereinheitli­chung per se als positiv zu bezeichnen, anstatt die qualitativen Bedingungen zu beschreiben und zu analysieren. (...)

Was heißt das für Bündnis 90/Die Grünen?

Wir haben den Artikel 16 bis zuletzt verteidigt. Wir müssen auch weiterhin für einen historisch verantwortlichen, den Grund- und Menschenrechten ver­pflichteten und der Realität angepassten Flüchtlingsbegriff eintreten. Wenn wir uns jetzt darauf einlassen, den Flücht­lingsbegriff (wie in These 3) auf den politischen Flüchtling im engeren Sinne zu beschränken, passen wir unsere po­litischen Vorstellungen dem Resultat der Auseinandersetzung in der Bundes­republik, der Abschaffung des Grund­rechts auf Asyl, an.

Denn Flüchtlinge sind nicht mehr das, was sie vielleicht einmal waren. Das In­einandergreifen politischer, ökonomi­scher und ökologischer Gründe ist neu, aber Realität.

Und ob jemand flieht, um nicht massa­kriert, ob er flieht, um nicht gefoltert zu werden, ob sie flieht, um nicht verge­waltigt zu werden oder um nicht zu ver­hungern oder zu verdursten - immer ist und bleibt er oder sie Flüchtling. Wir müssen uns lösen vom tragisch-romanti­schen Fixbild des "echten" Flüchtlings, weil es den "falschen" als Schmarotzer oder Illegalen kriminali­siert und diskre­ditiert und mit zur Demagogie der Asyl­kampagne beiträgt.

Daß im vorliegenden Papier diese Lo­gik tendenziell benutzt wird und die Opfer verantwortlich gemacht werden für den Abbau des Grundrechts nach Art. 16, ist zynisch. Flucht entsteht ja wohl nicht, weil es bei uns ein Asyl­recht gibt. (...)

These 4 ist für mich schlechterdings nicht nachvollziehbar und ich lehne sie rundweg ab. Die Abschaffung des Arti­kels 16 als Chance für die gemeinsame europäische Politik zu bezeichnen, ist mir unverständlich. Natürlich ist es ge­rade unsere Aufgabe, für gesellschaftli­che Mehrheiten zu streiten, die die Wie­derherstellung des Grundrechts wollen und befürworten und natürlich ist es Aufgabe unserer Partei - nicht nur stra­tegisch, sondern auch aus tiefer inhaltli­cher Überzeugung und als Teil unserer politischen Identität, dem Volk nicht populistisch nach dem Maul zu reden und um Wählerstimmen unter Aufgabe wichtiger Positionen zu buh­len. (...)

Anstelle der schwierig zu verwirkli­chenden Abschottung und Abschrec­kung müssen wir eintreten für eine nicht minder schwierige, sondern sogar schwieriger zu verwirklichende, aber sinnvolle Politik der Bekämpfung von Fluchtursachen. Eine solche Politik verlangt zunächst einmal das Einge­ständnis, daß die Armen am Reichtum der Reichen verhungern.

Diese Politik kostet ungeheuer viel Geld und braucht eine neue Diplomatie. Daß wir einen Stopp der Waffenexporte for­dern, ist nicht gerade neu, aber noch immer aktuell, denn immerhin ist Deutschland größter Waffenexporteur in Europa

Eine solche Politik muß erreichen, daß nicht der kurdische Flüchtling das Pro­blem ist, sondern die Tatsache, daß Deutschland Waffen an die Türkei lie­fert, mit denen die Kurden unterdrückt werden.

Sicher - das ist eine mittel- und langfri­stige Aufgabe, die Regelung einer quo­tierten Einwanderung ein kurzfristig er­reichbares Ziel. Die Konzentration auf dieses kurzfristige Ziel bringt uns aber dem langfristigen keinen Schritt näher - im Gegenteil. Wenn - wie in den vorge­legten Entwurf ausgeführt - die Anzahl der Flüchtlinge auf die Einwanderer­zahlen angerechnet wird, wird dies zu Lasten der Flüchtlinge interpretiert wer­den. Auch wenn ich den Verfassern nicht unterstellen will, Quoten für Flüchtlinge einführen zu wollen, muß man sich klarmachen, auf was es hin­ausläuft.

Der Entwurf versucht, über den Umweg Europa nationale Forderungen aufzu­stellen. Allerdings sehe ich in der Poli­tik der Europäischen Union nicht den leise­sten Ansatz für diese Debatte.

Eine reale politische Chance hat ein Einwanderungsgesetz erst, wenn die Kosten-Nutzen-Analyse zugunsten des Nutzens umschlagen würde.

Richtig ist, daß wir für das Recht auf Einwanderung, für das Recht auf Frei­zügigkeit in der EU eintreten und für unmittelbare Maßnahmen zugunsten der sogenannten DrittausländerInnen, gegen jegliche Diskriminierung und gegen den institutionalisierten Rassis­mus. Wir ste­hen für die Ausweitung der Unionsbür­gerschaft zu einem europäi­schen Bür­gerrecht für die hier Leben­den, für ein neues Staatsbürgerschafts­recht und für eine liberale Familienzu­sammenführung. Wir stehen auch für eine Regelung im Bereich Arbeitsmi­gration. Wir treten ein für eine Sozial­charta und für eine Antidiskriminie­rungsrichtlinie. Aber das ist ja Gott sei Dank unumstritten.

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Claudia Roth ist Bundestagsabgeordnete für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.