Vom Flüchtlingsschutz zum Schutz vor Flüchtlingen

Zur Reform des europäischen Asylsystems

von Rainer van Heukelum
Hintergrund
Hintergrund

Am 8.6.2023 einigten sich die EU-Innenminister*innen mehrheitlich mit der Zustimmung der Bundesregierung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS, genannt. Was ist der Kern dieser sogenannten Reform?

Am 08.06.2023 haben die Innenminister*innen der EU die schärfsten Asylreformen seit Jahrzehnten beschlossen und damit den freien Zugang zum Menschenrecht auf Asyl in Europa faktisch abgeschafft. Entschieden wurde unter anderem die Aussetzung eines fairen und rechtsstaatlich abgesicherten Asylprozesses für einen Großteil der Schutz suchenden Menschen. Mit der Reform wurde nun die Möglichkeit geschaffen, ankommende Menschen willkürlich an den sog. „EU-Außengrenzen" zu inhaftieren - auch Familien mit Kindern. Alle, die aus angeblich „sicheren Drittstaaten“ oder „Herkunftsstaaten mit einer geringen Bleiberechtsperspektive" kommen, können in beschleunigten Verfahren fernab der Öffentlichkeit und ohne inhaltliche und individuelle Prüfung der Fluchtgründe unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder abgeschoben werden. Das seit vielen Jahren in der Kritik stehende Dublin-System wird darin nicht abgeschafft. Zwar sollen bis zu 30.000 Geflüchtete pro Jahr auf andere europäische Länder als die EU-Außenstaaten verteilt werden können. Aber keiner muss Geflüchtete aufnehmen, sondern jeder kann sich durch Geldzahlungen davon freikaufen. Ein verpflichtender Solidaritätsmechanismus sieht anders aus!

Es macht mich fassungslos, dass die deutsche Innenministerin diese menschenfeindliche Reform des europäischen Asylsystems als historisch und solidarisch bezeichnet. Entgegen aller Warnungen, entgegen aller Expert*innenmeinungen, entgegen jeglicher Moral, stimmten SPD, Grüne und FDP für die massivsten Verschärfungen seit 30 Jahren.

Die Zustimmung der Ampelkoalition zu diesem EU-Asylkompromiss ist ein Verrat: an den Wähler*innen zumindest von SPD und Grünen, am eigenen Koalitionsvertrag, an der Genfer Flüchtlingskonvention, und vor allem und besonders an den Schutzsuchenden selbst, die sich in der Hoffnung auf die Friedensnobelpreisträgerin EU, die sich des Schutzes der Menschenwürde jedes Einzelnen rühmt, auf den Weg machen und nun inhaftiert werden!
Seitens der Befürworter*innen dieser sogenannten Reform wird suggeriert, dass sich für die „echten Kriegsflüchtlinge“ wie Syrer*innen und Afghan*innen, deren Asylbegehren zu 80-90% anerkannt werden, nichts ändere. Es träfe ja nur die aus sicheren Drittstaaten, deren Asylanträge in Europa nur zu 20% oder weniger positiv beschieden würden, wie z.B. Tunesien oder die Türkei.

Ich frage: Was ist mit dem homosexuellen Muslim aus Tunesien, der wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt wird: hat er kein Anrecht auf eine individuelle Prüfung seines Asylgesuchs? Was ist mit der Erdogan-kritischen Journalistin aus der Türkei: sollten ihre Asylgründe nicht in einem ordentlichen Verfahren geklärt werden statt in einem oberflächlichen und eiligen Grenzverfahren? Und was ist mit dem Kriegsflüchtling aus Syrien, der über den Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien oder Montenegro – für Deutschland alles sichere Drittstaaten – oder aus der Türkei – für Griechenland ein sicherer Drittstaat - einreisen will? Es ist kaum vorstellbar, dass er jetzt an der Grenze einen Antrag stellen darf. Man wird ihn mit dem Argument des sicheren Drittstaats, aus dem er einreisen will, zurückweisen, oder ganz ohne Argument gewaltsam an der Einreise hindern!

Die Grundprobleme bleiben, auch nach dieser von den Politikern so gefeierten Einigung:

- So lange es keine legalen Wege der Migration gibt, werden die Menschen andere suchen.
- So lange man nur einen Asylantrag stellen kann, wenn man sich in dem Zielland befindet, werden die Menschen irgendwie versuchen, dort hineinzukommen.
- Keiner/Keine will in den Haftzentren mit den Grenzverfahren landen, sondern die Schutzsuchenden werden sich stattdessen noch häufiger Schleusern anvertrauen, sich auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer begeben, um auf diese Weise europäischen Boden zu erreichen.

Im Jahre 2022 wurden europaweit 966.000 Asylanträge gestellt. Der sogenannte Solidaritätsmechanismus sieht aber höchstens 30.000 Geflüchtete vor, die auf die europäischen Staaten pro Jahr verteilt werden sollen, wenn sich ein Außengrenzenstaat überfordert sieht. Auch wenn natürlich nicht jeder Asylantrag genehmigt worden ist, kann man an dem Zahlenverhältnis ablesen, was die eigentliche Intention dieser GEAS-Reform ist: Die Zurückweisung fast aller, die aus den unterschiedlichsten Gründen in die EU drängen. Die jetzt schon fast uneinnehmbare Festung Europa soll weiter ausgebaut werden, Abschottung ist das Gebot der Stunde.

Deshalb fordert die Seebrücke mit Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen:

- Nein zu einem Europa der Haft- und Flüchtlingslager!
- Schutz von Geflüchteten und nicht vor Geflüchteten!
- Rettet die Menschenrechte!
- Stoppt die GEAS-Reform!

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Rainer van Heukelum ist Lehrer und in der Bonner Pax Christi Gruppe aktiv.