Kulturkampf gegen Frauen

Zwei Jahre Talibanherrschaft

von Matin Baraki
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der zwanzig Jahre US-geführte Krieg hat das Land am Hindukusch nicht nur mit Personenminen verseucht, sondern die ökonomischen, sozialen und ethisch-moralischen Fundamente der ganzen Gesellschaft zerstört. Die USA haben samt ihrer Entourage das Land verlassen, aber die Folgen ihrer Zerstörung müssen jetzt über sehr viele Jahre die Afghan*innen ertragen.

Am 15. August 2023 haben die Taliban den zweiten Jahrestag ihrer Machtübernahme gefeiert und den Tag zu einem nationalen Feiertag deklariert. Gibt es einen Grund zum Feiern? Die Taliban sagen: Ja! Wir haben die US-Supermacht samt ihrer ausländischen und afghanischen Entourage aus dem Land vertrieben, den USA damit die größte historische Niederlage nach Vietnam bereitet, die Sicherheit im ganzen Land wiederhergestellt, die Kriminalität beseitigt. Dem wird auch von der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zugestimmt. Aber die allererste Maßnahme des Taliban-Regimes war, die Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Insofern ist das Land kaum noch von den Zuständen seiner ersten Herrschaft von 1996 bis 2001 entfernt. Während es damals „immerhin fünf Jahre“ dauerte, bis die Taliban ähnlich drastische Verordnungen erließen, haben sich jetzt „die Dinge sehr schnell in eine sehr besorgniserregende Richtung entwickelt.“ (1) Es wurde ein regelrechter Kulturkampf gegen die Frauen entfacht. Am 6. Oktober 2022 verbat der Hochschulminister Mullah Neda Mohammad Nadim unter Verweis auf den „Erlass 28“ des Kabinetts von 2021 am 20. Dezember 2022 den Studentinnen, weiter die Universitäten zu besuchen. Dies betraf sowohl die staatlichen, als auch die privaten Hochschulen. Damit waren 20 Millionen Studentinnen vom Studium ausgeschlossen. Eine Studentin der medizinischen Fakultät der Universität in Jalalabad im Osten des Landes nahm sich aus Verzweiflung das Leben.

Entlassung von NGO-Mitarbeiterinnen
Am 24. Dezember 2022 forderte der Wirtschaftsminister Mohammad Hanif alle afghanischen und internationalen „Non-Governmental Organisations“ (NGOs) auf, ihre Mitarbeiterinnen - ausgenommen blieben nur medizinische Einrichtungen - zu entlassen. Ansonsten würden diese ihre Akkreditierung verlieren. Gerade die über fünfzig NGOs waren es, die schon nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und dann im kalten Winter 2021-22 das Leben von über 28 Millionen Menschen gerettet hatten. Da die Hilfsorganisationen u.a. auch Frauenprojekte betreuen, sind sie auf weibliche Kräfte vor Ort angewiesen. Deswegen setzten zahlreiche NGOs, darunter Save the Children, Care International, International Rescue Committee (IRC), Norwegian Refugee Council und Caritas International ihre Tätigkeit vorläufig aus. „Wir können Kinder, Frauen und Männer in dringender Not nicht ohne unsere weiblichen Angestellten erreichen“ (2), ließen die NGOs in einer gemeinsamen Erklärung am 25. Dezember 2022 verlautbaren.

„Für uns Frauen ist es die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagte eine Juristin aus Herat, die aus Angst vor Repressalien namentlich nicht genannt werden wollte. Die Taliban „zögern nicht mehr damit, jedes erdenkliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen“ (3). Die frauenfeindlichen Maßnahmen des Taliban-Regimes lösten weltweite Kritik aus. Auch die islamischen Länder und die Vereinten Nationen forderten die unverzügliche Rücknahme dieser schändlichen Akte. UN-Generalsekretär António Guterres brachte in einer Presseerklärung am 24. Dezember 2022 seine tiefste Beunruhigung zum Ausdruck, ebenso am 27.12.22 der UN-Sicherheitsrat. Die Frauenpolitik der Taliban weise auf eine zunehmende Aushöhlung der Menschen- und Freiheitsrechte hin, hieß es in der veröffentlichten Erklärung. (4) Dies stehe auch im Widerspruch zu allen Verpflichtungen der Taliban im Rahmen des Abkommens zwischen USA und Taliban in Doha von 29. Februar 2020. Für die Hardliner um den Taliban-Führer Mullah Heibatullah Achundsada schienen allerdings all diese internationalen Reaktionen und die besorgte Öffentlichkeit kein Hindernis zu sein. Er erklärte öffentlich, seine Vorstellungen von einem – man muss es Steinzeitislam nennen – umsetzen zu wollen; sein Ziel sei „die totale Abkapselung des Landes von der modernen Welt.“ (5) Innerhalb der Taliban-Führung entbrannte eine offene Auseinandersetzung über zentrale politische und kulturelle Fragen, wie z.B. die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Aus dem inneren Kreis des Regimes wurde der Presse zugespielt, dass die „Mehrheit der Minister gegen die Schließung der Universitäten für Frauen wie auch gegen die jüngste NGO-Anordnung war“ (6). Alles deutete darauf hin, dass ein erbitterter Machtkampf innerhalb der Führung des Regimes in vollem Gange und noch nicht entschieden ist. Am 5. Januar 2023 wurde dann bekannt gegeben, dass die NGOs entweder ohne weibliche Ortskräfte arbeiten müssen oder das Land zu verlassen hätten. (7) Daraufhin haben vier NGOs insgesamt 4.313 weibliche Mitarbeiterinnen entlassen müssen.

Frauen verlieren ihre Arbeit
In ganz Afghanistan existierten über 12.000 Schönheitssalons. Davon 3.100 in Kabul. Über 60.000 Frauen haben dort gearbeitet, um ihre Familien zu ernähren. (8) Auf Anordnung des Talibanführers hat das Sitten-Ministerium des Taliban-Regimes eine Schließung aller Salons angeordnet. Sie seien im Widerspruch zur islamischen „Scharia“, verkündete der Sprecher des Ministeriums, Mohammad Sadeq Atef. Die Kosmetikerinnen haben das Regime aufgefordert, „gebt unseren Männern eine Arbeit, damit wir nicht arbeiten müssen. Wir sind die einzigen Ernährerinnen unserer Familien. Wenn das Arbeitsverbot nicht aufgehoben wird, werden wir an einer Kreuzung in der Stadt eine kollektive Selbstverbrennung durchführen.“ „Brot, Arbeit und Gerechtigkeit“, riefen die protestierenden Frauen. Aus Verzweiflung rief eine Frau: „Werft doch eine Atombombe auf uns, damit wir unsere Ruhe haben“. (9) Durch das theokratisch-absolutistische Taliban-Regime wird in Afghanistan zunehmend eine „Gender-Apartheid“ praktiziert und das Leben für die Frauen zur Hölle gemacht. (10) Durch das Verbot, die extra für Frauen reservierten Parks zu betreten und das Reiseverbot ohne männliche Begleitung, bekommt Afghanistan zunehmend den Charakter einer riesigen Frauenhaftanstalt.

Die erhoffte internationale Anerkennung des Taliban-Regimes rückt damit in immer weitere Ferne, es ist sogar auf dem besten Wege, international geächtet zu werden.

Machtkampf bei den Taliban
Dies ist vielen hohen Taliban-Funktionären längst bewusst. Sie wollen verhindern, dass Afghanistan dauerhaft in einer Sackgasse verbleibt, aus der wieder herauszukommen kaum möglich erscheint. Deshalb ist der Machtkampf in der Führungsetage des Regimes wieder in eine neue Phase getreten. Er wird in einer zuvor nie dagewesenen und unerwarteten Schärfe nun sogar auch öffentlich geführt. Bis vor kurzem traute sich nur der politische Staatssekretär im Außenministerium, Mohammad Abbas Stanikzai, öffentlich und kritisch zu den Maßnahmen der Talibanführung bezüglich des Arbeitsverbots für Frauen und des Bildungsverbots für Schülerinnen und Studentinnen Stellung zu nehmen. Am 11. Februar 2023 sprach eines der Schwergewichte innerhalb der Taliban-Führung, Innenminister Seradjuddin Haqqani, in einer Rede in der Provinz Khost, ohne den Talibanführer Heibatullah Achundsada namentlich zu erwähnen, von seinem diktatorischen Führungsstil, der nicht mehr zu akzeptieren sei. Der Sprecher des Regimes, Sabihullah Mujahed, wies allerdings abschwächend darauf hin, man solle doch die Kritik nicht öffentlich, sondern lieber intern ausüben.

Darüber hinaus fasste das Kabinett des Regimes in Kabul einen Beschluss, aus dem hervorging, dass bis zum Frühjahr 2023 das Arbeits- und Bildungsverbot für Frauen wieder aufgehoben werden müsste. Wenn der Talibanführer Achundsada, dies nicht akzeptieren könne, dann müsse er zurücktreten. Dieser Beschluss wurde ihm auch schriftlich mitgeteilt. Eine Reaktion seitens Achundsada auf diese außerordentliche Aufforderung des Kabinetts ist bisher nicht bekannt geworden.

Bei einem Empfang zum 44. Jahrestag der iranischen Revolution in Kabul kündigte auch der mutige Stanikzai an, dass die Arbeits- und Bildungsverbote für Frauen bald aufgehoben werden sollten. (11)

Einige Taliban-Funktionäre nehmen fast jede Gelegenheit wahr, um die Bevölkerung zu beruhigen, in dem sie wie die tibetanische Gebetsmühle immer wieder verkünden, dass die Lage der Frauen sich verbessern wird und ihre jetzige Situation kein Dauerzustand sein könne. Die Bevölkerung möge doch etwas Geduld haben, bis wir entsprechende Rahmenbedingungen, gemäß der islamischen Scharia geschaffen haben. Fakt ist jedoch, dass sich bis zum Herbst 2023 in keinem einzigen Bereich die Lage für Mädchen und Frauen verbessert hat.

Bilanz des Grauens
Der stellvertretende Leiter des Obersten Gerichtshofs der Taliban, Abdul Malik Haqqani, hat bekannt gegeben, dass das Gericht bis Anfang Mai 2023 insgesamt 175 Qisas-Urteile (Wiedervergeltung), 37 Steinigungsurteile und vier Urteile, wo in Folge eine Mauer auf die Verurteilten  gestürzt wird, verhängt habe. Haqqani sagte, die Urteile würden „Schritt für Schritt“ vollstreckt, sobald sie vom Führungsrat und dem Taliban-Kabinett genehmigt werden.

Der Talibanführer Heibatullah Achundsada hat alle Gerichte angewiesen, die Urteile von Qisas zu vollziehen, und religiöse Gesetze sollten sorgfältig auf Übereinstimmung mit der islamischen Scharia geprüft und dann der Führung zur Genehmigung vorgelegt werden. Wenn die Entscheidungen „sorgfältig getroffen wurden, sieht das Islamische Emirat kein Hindernis für ihre Umsetzung“ (13), sagte Haqqani.

Nach dem Rückzug der NATO ist die afghanische Wirtschaft zusammengebrochen. Die sog. internationale Gemeinschaft hat in den zwanzig Jahren ihrer Präsenz keine nachhaltigen Wirtschaftsstrukturen geschaffen. Im Gegenteil. Durch die Politik der „offenen Tür“ wurde die nationale Wirtschaft zerstört und der Drogenökonomie Vorrang gegeben. Es existiert lediglich eine Dienstleistungsökonomie für die Versorgung der NATO, der NGOs und weiterer internationaler Organisationen. Die Folge ist, dass über die Hälfte der Bevölkerung vom Hungertod bedroht ist.

In Afghanistan sind immer noch 1199 km2 Boden durch Personenminen verseucht. Seit Anfang 2022 hat es 122 Minenexplosionen mit 390 Verletzten, darunter 166 Kindern und 90 Toten gegeben. (14) Bei dem Tempo und der bisherigen Kapazität wird es vierhundert Jahre dauern, bis die Minen restlos geräumt sind, wie die Vereinten Nationen vor Jahren angaben.

Nach vierzig Jahren Krieg und ausländischer Einmischung (15) ist die gesamte Entwicklung von Afghanistan für unabsehbare Zeit massiv zurückgeworfen worden.

Anmerkungen
1 „Ohne Frauen können wir in Afghanistan nicht arbeiten“: Samira Sayed-Rahman im Gespräch mit Franca Wittenbrink, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 30.12.2022, S. 4.
2 Afghanistan: NGOs stellen Arbeit ein: dpa, 27.12.2022.
3 Matern, Tobias: „Schlimmste Zeit unseres Lebens“, in: SZ, 22.12.2022, S. 7
4 Presseerklärung des UN-Sicherheitsrates zu Afghanistan: Presseerklärung des UN-Sicherheitsrats zu Afghanistan/ UNAMA (unmissions.org), 27.12.2022
5 Vgl. Haneke, Alexander: Mit aller Macht in die Isolation, in: FAZ, 27.12.2022, S. 2.
6 ebda
7 Afghanistan International TV, 5.1.2023.
8 Afghanistan International TV, 6.7.2023
9 Diese Zitate sind aus Tolo News TV vom 3.7.2023, 6.7.2023 und 19.7.23
10 Vgl. Dahlinger, Miriam und Matern, Tobias: „Mein Leben ist zur Hölle geworden“, in SZ, 12./13.8.2023, S. 43.
11 Afghanistan International TV, Ariana News TV, und Tolo News TV am 12.2.2023
12 Der Oberste Gerichtshof der Taliban wartet auf die Zustimmung der Führung zu Dutzenden von Todesurteilen, Steinigungen und Mauerstürze, in: دادگاه عالی طالبان برای ده‌ها حکم اعدام، سنگسار و آوار کردن دیوار «منتظر تایید رهبری است» - BBC News فارسی, 4.5.2023
13Tolo News TV, 14.7.2023
14 Siehe ausführlich dazu: Baraki, Matin: Afghanistan – Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg, Köln 2023

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