Konfliktsichten

Zwei Narrative des Nahostkonfliktes

von Clemens Ronnefeldt
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Im Nahostkonflikt gibt es zwei Narrative, die häufig in sich geschlossen erzählt werden. Friedenslogik bedeutet, in die Schuhe der jeweils anderen Seite zu schlüpfen – was für beide Seiten mit Herausforderungen verbunden ist.

Das israelische Narrativ
Immer wieder habe ich in Israel dieses Narrativ gehört:

Wir sind ein kleines Volk von rund sieben Millionen Menschen, umringt von rund 300 Millionen feindlich gesinnter Muslime. Wir haben mehr als 2000 Jahre Geschichte der Verfolgung erlebt, wurden als Jesus-Mörder, Brunnenvergifter und Geldeintreiber beschimpft. In der Shoa wurden sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Wir brauchten einen sicheren Ort auf der Welt – in unserer alten Heimat, wo das jüdische Leben nie ganz erloschen ist.

Es waren die Araber, die den Teilungsplan nicht angenommen haben. Nicht nur 750 bis 800.000 Araber sind 1947/48 geflohen, auch rund eine Million Juden mussten die arabische Welt verlassen. Die arabische Seite hat mehrere Versuche unternommen, uns ins Meer zu treiben –wäre sie nur einmal erfolgreich gewesen, würde es heute Israel nicht mehr geben.

Wir haben im Jahre 2000 den Südlibanon verlassen – was haben wir bekommen? Raketen der Hizbollah im Krieg 2006. Wir haben 2005 den Gazastreifen verlassen und rund 7.000 Menschen jüdischen Glaubens umgesiedelt – was haben wir bekommen? Raketen der Hamas, die bis heute in ihrer Charta nicht bereit ist, unser Existenzrecht anzuerkennen.

Ohne den Bau der Mauer und des Sicherheitszaunes wären die Selbstmordattentate nach 2002 weitergegangen. Wir werden uns nie wieder zur Schlachtbank führen lassen. Wenn wir nicht stark sind, werden wir nicht überleben.

Palästinensisches Narrativ
In den palästinensischen Gebieten habe ich häufig dieses Narrativ gehört:

Wir sind die Opfer von Opfern. Wer hat der UN-Teilungsplankommission das Recht gegeben, unser Land 1947 aufzuteilen und noch dazu so ungerecht bezüglich des Wassers und des Landes: 44% nur für uns und 55% für die Juden - obwohl wir so viel mehr Menschen damals waren?

Der Antisemitismus war ein europäisches Problem. Warum haben die Europäer die Frage einer Heimat für verfolgte Juden nicht dort gelöst, wo sie entstanden ist?

Warum werden UN-Resolutionen so unterschiedlich gehandhabt und die UN-Resolution 194 mit dem Recht der Rückkehr unserer Vertriebenen der Nakba oder der UN-Resolutionen 242 zur Beendigung der Besatzung nicht umgesetzt, so wie die Besatzung Kuweits durch Irak 1990 bereits 1991 beendet wurde?

Warum darf die israelische Besatzungsmacht tausende unserer Häuser zerstören aus angeblichen Sicherheitsgründen, für den Bau der Mauer oder des Zaunes? Wieso nimmt die internationale Gemeinschaft hin, dass mehr als 5.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen eingesperrt sind, teilweise misshandelt und gefoltert werden, darunter sogar Kinder, wie doch öffentlich in den Berichten von Amnesty International nachzulesen ist? Wann endet unser Albtraum endlich?

Dialog
Friedenslogik heißt, anzuerkennen, dass es diese beiden Narrative gibt, beide Seiten einzuladen, in die Schuhe der jeweils anderen Seite zu schlüpfen – im Bewusstsein, dass es sich um einen asymmetrischen Konflikt handelt, bei der die israelische Seite militärisch nicht nur hoch überlegen ist, sondern als Besatzungsmacht zudem UN-Sicherheitsratsbeschlüsse seit Jahrzehnten ignoriert.

Die jüngste Eskalation der Gewalt im Nahen Osten hat auch mit dem mangelhaften diplomatischen Einsatz der Internationalen Gemeinschaft zu tun, die u.a. seit Jahrzehnten schon die strukturelle Gewalt der Besatzung des Westjordanlandes sowie des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus toleriert – und angesichts der massiven Blockadehaltung insbesondere in der Regierungszeit Benjamin Netanyahus bezüglich einer lange möglichen Zweistaatenlösung frustriert aufgegeben hat.

Mehr denn je braucht eine friedenslogische Lösung des Nahost-Jahrhundert-Konfliktes einen oder mehrere ehrliche Makler – aus den USA, aus Europa und/oder aus dem globalen Süden.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.