Zwei tage in Moskau

von Gerd Greune

Am Montag, 19. August 1991, um 8 Uhr läutete das Telefon im kasachischen Gästehaus in Moskau, wo ich tags zuvor mit meiner Familie Quar­tier bezogen habe. Gorbatschow sei abgesetzt und das Kriegsrecht verhängt, wurde gemeldet. Panzer rollen auf Moskau zu. Verhaftungen seien zu befürchten. Meine Freunde aus der Bürgerrechtsbewegung ha­ben Angst.

In der Nähe des Hotels nahe dem Zen­trum hinter der KGB-Zentrale ist von Veränderungen im Stadtbild nichts zu sehen. Die Menschen bewegen sich auf der Straße und in der U-Bahn wie ge­wohnt. Vom verkündigten Kriegsrecht nimmt spürbar niemand Notiz. Erst in der Nähe des Kreml zeigen sich De­monstrationen. Vor dem Kreml und auf dem Marx-Platz am Hotel Moskwa sind Schützenpanzer aufgefahren, die bereits von Jugendlichen besetzt sind. Der Platz ist von Demonstranten und Pas­santen überflutet. Städtische Oberlei­tungsbusse blockieren die Zufahrtsstra­ßen, um das Vorrücken weiterer Panzer zu verhindern. Noch ist der Rote Platz offen, er wird erst gegen 12 Uhr vom Militär gesperrt. An verschiedenen Stellen Megaphone im Einsatz: Aufruf zum Widerstand, zum Streik, für Jelzin und für Gorbatschow. Die Demonstran­ten, die russische Nationalfahne schwenkend, wirken unkoordiniert, sor­gen aber dafür, daß die spontanen Kundgebungen unbehindert ablaufen. Ein Journalist berichtet, daß Jelzin um 14 Uhr im russischen Parlament eine Pressekonferenz gibt. Er ist also (noch) nicht verhaftet. Erleichterung. Die meist jugendlichen Soldaten in ihren Panzern wirken teilnahmslos oder sympathisie­ren mit den Passanten und Demon­stranten.

Schwere Panzer haben bis Montagabend die wichtigsten Ringstraßen der Stadt besetzt, verursachen an verschiedenen Kreuzungen ein Verkehrschaos und be­ziehen Stellung vor öffentlichen Gebäu­den und an Brücken. Später im Fernse­hen klassische Musik und alle drei Stunden Verlesung der Deklarationen des Notstandskomitees. Der Sprecher wirkt betrunken. Am späten Abend dann überraschend auch Bilder von Jelzins Pressekonferenz im sowjetischen Fern­sehen. Zeitungen gibt es an diesem Montag keine.

Auch am Dienstag nahe dem Kreml ein ähnliches Bild wie tags zuvor. Kampf­panzer und Kampfeinheiten sind ver­stärkt zusammengezogen worden. Alle Panzer werden erneut von Jugendlichen belagert. Familien mit Kindern ziehen über die großen Straßen vor den inter­nationalen Hotels und umlagern die Eis­stände. Angst ist nicht zu spüren. Die meisten Demonstranten sind wie immer mit Plastiktüten bepackt und auf dem Weg zum blichen langwierigen Erwerb von Lebensmitteln.

Die Putschisten haben Demonstrationen verboten. Daran hielt sich niemand. Die Entscheidung über den Fortgang der sowjetischen Geschichte, das wußten trotz Nachrichtensperre alle, erfolgt in und vor dem russischen Parlament. An U-Bahneingängen und Laternen sind die Aufrufe Jelzins und der russischen Re­gierung angebracht und werden eifrig studiert. Beschlüsse der Stadtbezirke gegen die Putschisten werden verbreitet, Nachrichten teilweise auch handschrift­lich weitergegeben. Durch die Nach­richtensperre geistern Gerüchte durch die Stadt. Streiks - oder nicht? In Mos­kau jedenfalls fahren Busse und U-Bah­nen, aber im Kohlerevier? Krieg im Baltikum? Widerstand bei den Streit­kräften? Es bleibt vieles unklar.

Mein Zug nach Berlin verläßt Moskau am Dienstagabend. Ich fahre mit der Gewißheit, daß die Bürgerinnen und Bürger in dieser Stadt mit ihrer ruhigen Form des Protestes schon das meiste er­reicht haben. Der Versuch, sie mit Pan­zern einzuschüchtern, war jedenfalls schon in den ersten Stunden gescheitert.

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Gerd Greune ist Vorsitzender von ifias Brussels.