Postkolonialismus, Gewalt und Gewaltfreiheit

Zwischen Frantz Fanon und Mohandas K. Gandhi

von Martin Arnold
Schwerpunkt
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Ereignisse in Afrika in unseren Medien war kürzlich das Thema einer Gruppe, die sich in Essen bei Pro Asyl traf. Ein Mann aus Guinea sagte: „Die Europäer machen uns kaputt. Nicht nur damals zur Kolonialzeit, sondern bis heute. 400 Milliarden Euro werden von Afrika nach Europa transferiert. Sie saugen uns aus, nach wie vor. Und wenn wir nicht tun, was sie wollen, töten sie Menschen – wie in Mali.“ Ist die Kolonialzeit beendet?

Im „Postkolonialismus“ beschäftigen wir uns in neuer Sichtweise mit dem Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Gewalt und Gewaltfreiheit spielen dabei früher wie heute eine zentrale Rolle.

EuropäerInnen legten seit 500 Jahren in allen Erdteilen Siedlungen, Kolonien, an. Mit überlegener Waffentechnik unterwarfen sie Einheimische und beuteten sie aus, wozu sie sich durch rassistische oder religiöse Ideen berechtigt fühlten. Im 19. Jahrhundert erkämpften in Lateinamerika Kolonisierte durch Kriege die Unabhängigkeit vieler Staaten. 1947 gab es eine neue Initialzündung für die Entkolonialisierung / Dekolonisation weltweit: die Übergabe der Staatsgewalt an InderInnen mit dem Rückzug der BritInnenen aus dem Subkontinent. Dieser „größte ‚Transfer of Power’ in der modernen Geschichte“ (G. Dharampal-Frick) trug wesentlich zum Ende der großen westeuropäischen Kolonialreiche bei.

Das Besondere und Neue daran: Satyagraha, das Konzept, nach dem die InderInnen zur Befreiung vorgingen, war eindeutig und entschieden gewaltfrei, es gab keinen Krieg zur Befreiung, mehr noch: die Kommunikation darüber mit den BritInnenen war auf indischer Seite von Respekt und Wohlwollen geprägt. Mohandas K. Gandhi (genannt Mahatma = Große Seele) hat dieses Befreiungskonzept seit 1906 entwickelt.

Konzeptionell gegenüber steht ihm Frantz Fanon, der am Krieg zur Befreiung Algeriens von französischer Herrschaft teilnahm und 1961 die programmatische Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ veröffentlichte (Fanon- und Sartre-Zitate sind daraus). Deren erster Satz endet mit den Worten: „Die Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt.“ Er rief zur „absoluten Gewalt“ gegen das System und die KolonialherrInnen auf. Das heißt zur Vernichtungsgewalt gegen uns EuropäerInnen, wobei wir Deutschen mit dem Herero- und Nama-Völkermord von 1904 mit betroffen sind.

Wir lehnen Gewalt ab, wollen Frieden. Warum dann über Fanons Konzept noch Worte verlieren? Weil uns die Betrachtung beider Konzepte Interessantes für heute zeigt.

Psychologie
Zum Prozess der Dekolonisation gehören viele Elemente. Fanon fand wie Gandhi, dass psychologische Faktoren bei der Befreiung entscheidende, ja, existenzielle Bedeutung haben, weil das Kolonialsystem Kolonisierte auch geistig-seelisch versklavt. Denn diejenigen, die diese Herrschaft ausüben, sind ihnen als Überlegene attraktiv. So berichtet Gandhi, dass er als Junge gegen das familiäre Vegetarier-Tabu heimlich Fleisch aß, um so stark zu werden wie die BritInnen. Dass Versuche, den Herrschenden ähnlich zu werden, wie auch die Zusammenarbeit mit ihnen Befreiungsimpulse lähmen, sahen beide AntikolonialistInnen.

Gandhi schrieb mit 40 Jahren, schwer enttäuscht durch britischen Rassismus, das Manifest „Indische Selbstregierung“. Er geißelte scharf Schattenseiten und Gefahren der modernen Zivilisation und stellte ihr die sehr viel ältere, ehrwürdige indische Kultur als menschlich überlegen gegenüber. Das entschiedene Nein zur Kolonialherrschaft leuchtete 1920 bis nach England in den massenhaften Feuern, in denen InderInnen britische Kleidung verbrannten – am Spinnrad stellten sie nun ihre Kleidung selbst her. Eigene konstruktive Arbeit, dazu Nichtzusammenarbeit mit dem abgelehnten Missstand – auch durch Boykott oder mit Gesetzesbruch, zivilen Ungehorsam, wie beim Salzmarsch 1930 –, verbunden mit respektvollem, wohlwollend-gerechtem Umgang mit den anderen Konfliktbeteiligten, um sie zu Freunden zu gewinnen und von Unrecht abzubringen: Das sind die Kernstücke von Gandhis Konzept für mehr Gerechtigkeit und Frieden. Er nannte es Satyagraha, Festhalten an der Wahrheit, Gütekraft. Seine Anwendung war in vielen gesellschaftlichen und politischen Konflikten erfolgreich.

Fanon schrieb während Algeriens Unabhängigkeitskrieg: „Die koloniale Welt auflösen … zerstören … vernichten, sie so tief wie möglich in den Boden einstampfen oder vom Territorium vertreiben.“ Sein Nein zum Kolonialismus ist die Gewalt der Kolonisierten als Befreiungsschlag, sie führt zur Erlösung. Der Franzose Jean Paul Sartre kommentiert in seinem Vorwort zu Fanons Buch, „auch wir Europäer werden dekolonisiert. Das heißt: Durch eine blutige Operation wird der Kolonialherr ausgerottet, der in jedem von uns steckt“. Wie Sartre sieht Fanon Gewalt als selbst-therapeutischen Akt: „Der kolonisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie.“ „Es gibt keine mögliche Versöhnung.“ Fanonwill so, „dass die Menschheit ein Stück vorwärts kommt“, und dafür müssen wir „ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen“, schreibt er am Schluss des Buches, das in zehn Jahren allein in Europa und den USA 20 Auflagen erzielte. Wenige Tage nach dessen Erscheinen starb er, wenige Monate später wurde ein Friedensabkommen zur Unabhängigkeit Algeriens unterzeichnet – es entsprach nicht Fanons Ideen, denn es gab den Franzosen für einige Zeit noch Rechte in Algerien.

„Da hilft nur noch Gewalt.“
So wird bei uns die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel gerechtfertigt, oft mit einer Attitüde des Bedauerns, weil sie Schäden mit sich bringt. Ganz anders ist Fanons und Sartres Begründung: Gewalt befreie den bzw. die TäterInnen durch die Tat. Fanon verdammt die Gewalt der KolonisatorInnen, die unermesslich schädigt. Er wägt jedoch nicht Vor- und Nachteile des Befreiungskrieges ab, sondern dieser ist ihm als Gegengewalt einfach geboten.

Die Idee, die Befürwortung von Gewalt an Kriterien wie Verhältnismäßigkeit zu binden, spielt für Fanon ebenso wenig eine Rolle wie die Erfahrung erfolgreicher aktiver Gewaltfreiheit bei der Befreiung Indiens von fast 200-jähriger Kolonialherrschaft. Sie lag bei Abfassung des Buches erst 14 Jahre zurück. Sartre: „Das ganze System bis zu euren gewaltlosen Gedanken [ist] von einer tausendjährigen Unterdrückung bedingt.“ Er wirft gewaltlos Denkenden „Passivität“ vor und zeigt damit, wie auch in weiteren Schriften: Er hat Gandhis Konzept nicht verstanden und propagiert den Mythos erlösender Gewalt.

Postkolonial sind folgende Fakten interessant:

  • Im Algerienkrieg wurden etwa 300.000 Menschen getötet, zu mehr als 90% AlgerierInnen.
  • Bis zur Unabhängigkeit töteten InderInnen, die Gandhis Konzept verwarfen, insgesamt weniger als 100 BritInnen, das sind weniger als 5% der Gesamtzahl, denn die britischen Truppen töteten einige tausend InderInnen für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft – erfolglos.
  • Englands und Frankreichs Zustimmung zur Unabhängigkeit Indiens und Algeriens hatte zwei Hauptgründe: Die aktive Öffentlichkeit, die Mehrheiten dafür gewann, und die Einschätzung der Regierenden, „Ruhe und Ordnung“ in den Kolonien sei auch mit hohem Kostenaufwand kaum sicherzustellen.
  • In beiden Fällen minderten die Grausamkeiten der KolonialherrInnen die öffentliche Zustimmung zur Aufrechterhaltung der Herrschaft: die politischen Kosten stiegen.
  • Das Unrecht durch öffentliche gewaltfrei-gütekräftige Aktionen moralisch untergraben und so Gegensätze unter den anderen Konfliktbeteiligten erzeugen und schüren: Das gehört zu Gandhis Konzept und ist – ohne einen Blutzoll wie in Algerien – wirksam.
  • Kolonialismus ist wesentlich ein psychologisches Phänomen: Sartres Feststellung, dass „der Kolonialherr … in jedem von uns steckt“, zeigt sich in Europa an vielerlei rassistisch motivierten Taten und Äußerungen bis heute. Auch in Frankreich hat der Einsatz blutiger Gewalt den ‚Kolonialherrn in uns‘ nicht ausgerottet.
  • Alte Strukturen zwischen ehemaligen Kolonien und Europäern ermöglichen koloniale Ausbeutung bis heute. Sie werden gelegentlich mit militärischen Mitteln zementiert, siehe Malis Uran für Frankreich.
  • Die Unabhängigkeitskriege in Indochina, Algerien und Kenia nach 1945 waren erfolgreich.
  • Indiens Erlangung der Unabhängigkeit 1947 ermutigte weltweit andere (ehemalige) Kolonisierte, wie auch 1986 die gütekräftige Überwindung der Marcos-Diktatur auf den Philippinen zeigte. Gewaltlose bzw. gewaltarme Unabhängigkeitsbewegungen waren in vielen anderen Ländern erfolgreich, so zehn Jahre nach Indien in Ghana, wo Kwame Nkrumah Gandhis Methoden kopierte.

Chenoweth und Stephan (Why Civil Resistance Works, 2013) erforschten Gewalt und aktive Gewaltfreiheit. Bei 323 Aufständen und politischen Bewegungen für mehr Demokratie / Gerechtigkeit zwischen 1900 und 2006 zeigte sich: In 51 Ländern hatten gewaltfreie Bewegungen Erfolg, in weiteren 26 Ländern Teilerfolge. Die gewaltlosen bzw. gewaltarmen Erhebungen waren zu 52% erfolgreich, die gewaltsamen zu 26%. Die Erfolgsquote gewaltfreier Erhebungen war doppelt so hoch wie die gewaltsamer!

Gandhi wurde vor 150 Jahren am 2.10.1869 geboren, dem UNO-„Tag der Gewaltfreiheit“. Religiöse und säkulare soziale Bewegungen sowie Persönlichkeiten wie Martin Luther King lernten weltweit von ihm – bis hin zum zivilen Ungehorsam für das Klima unter SchülerInnen oder bei „Ende Gelände“. Hier werden das Ja und das Nein gewaltfrei-gütekräftiger Aktionen existenziell, hier wird erlebt, dass „Dein Trilliardstel zählt“. (Ruth C. Cohn)

Das Nein zur Gewalt gegen Arme und Fremde,
das Nein zur Gewalt gegen die Natur und
das Nein zur Gewalt gegen politische oder persönliche GegnerInnen
ist am überzeugendsten
in der Form des Ja zu den reiferen Möglichkeiten
des gewaltfrei-gütekräftigen Vorgehens
durch respektvollen, wohlwollend-gerechten Umgang mit allen Beteiligten,
durch konstruktive Arbeit und
durch Nichtzusammenarbeit mit den Missständen (nach Birgit Berg).

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