Gewaltfreie Proteste in Georgien am Scheideweg nach Europa

Zwischen Pfefferspray und Freiheit

von Jürgen Menzel
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Seit Wochen demonstrieren meist junge Georgier*innen gegen die Regierung und deren Versuch, zivilgesellschaftliches Engagement einzuschränken. In der Nacht vor und während des 1. Mai setzte die Polizei Pfefferspray, Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein und verprügelte gezielt oppositionelle Abgeordnete und Journalist*innen. Doch rund 100.000 Menschen ließen sich von dieser Gewalt nicht einschüchtern und protestierten die Tage danach gegen das sogenannte „russische Gesetz“, das bereits vor einem Jahr im Parlament zur Entscheidung stand und aufgrund der damaligen massiven Proteste von der Regierungspartei „Georgischer Traum“ zurückgezogen wurde.

Die Partei, hinter der der Oligarch Bidsina Ivanishvili steht und diese wie eine Firma mit ihm als Oberhaupt führt, ist längst zum georgischen Albtraum geworden. Immer deutlicher wird, dass der russlandfreundliche Kurs zum Machterhalt einer Clique geworden ist, die einerseits wirtschaftliche Freiheiten für das Land will, auf der anderen Seite aber zivilgesellschaftliche Freiheiten ihrer Bürger*innen fürchtet und einschränkt. In der vergangenen Woche hat das Europaparlament einer Resolution zugestimmt, Ivanishvili und seine Handlanger auf die Sanktionsliste zu setzen, die die Russlandsanktionen des Westens unterlaufen und die demokratische Entwicklung des Landes gefährden.

Der Protest ist vor allem von jungen Menschen geprägt, die klar Richtung Europa streben und keine russischen Einschränkungen wollen, von Student*innen, Aktiven in der Zivilgesellschaft, Kulturschaffenden und Sportler*innen. Die Spieler der georgischen Nationalmannschaft, die sich erstmals für die Fußball-Europameisterschaft qualifiziert haben, haben sich einzeln in Posts in den Sozialen Medien gegen das Gesetz ausgesprochen. Das Bild der Demonstrationen gegen die Regierung ist vor allem jung, bunt und voller Power. Die Menschen organisieren sich über soziale Medien und vereinbaren Treffpunkte und Zeit, sie lassen nicht die Vertreter*innen der alten Oppositionsparteien sprechen, in die sie keine großen Hoffnungen setzen. In Tiflis sind die Universitäten oft ein Treffpunkt des Austausches, die Demonstrierenden organisieren sich im Freundeskreis und sind meist zivilgesellschaftlich aktiv, ein Protest der Generation Z, wie einige sagen.

Einige Aktivistinnen
Eliko Bendeliani war bei den Demonstrationen vor einem Jahr bereits dabei und engagiert sich seit Jahren im georgisch-abchasischen Dialog. Mit Unterstützung einer deutschen Stiftung, die sich für den Frieden im Kaukasus einsetzt, war sie bei vielen Drittlandbegegnungen dabei. Sie ist Mitglied bei verschiedenen Runden Tischen von Regierung und Zivilgesellschaft und fährt selbst regelmäßig in die Region Gali in Abchasien. Von dort stammt ihre Familie, und Georgier*innen aus dieser Region können trotz vieler Einschränkungen die Grenze passieren. Doch jetzt haben ihre Organisation und über achtzig weitere zivilgesellschaftliche Organisationen einen Boykott von Gesprächen mit der derzeitigen georgischen Regierung beschlossen, bis diese das geplante Gesetz endgültig zurücknimmt. Inga Shamugia war bei der Mai-Demonstration in der Nacht mit Freunden dabei und ist schockiert von der Provokation durch die Polizei. Während Tausende von Menschen vor dem Parlament friedlich demonstrieren und sie sich etwas am Rande für eine Pause hingesetzt hatte, landen plötzlich hundert Meter neben ihr zwei Gasgranaten und lösen hektische Reaktionen unter den anderen Protestierenden aus. Es ist völlig unklar, woher die Gasgranaten kamen, denn es war keine Polizei zu sehen und sie wurden anscheinend aus dem Gebäude neben der Straße abgefeuert. Tamara arbeitet bei einer georgischen NGO, deren Förderung zu hundert Prozent aus EU-Mitteln kommt. Sie hat Angst um ihren Job und befürchtet, dass durch die geforderte Offenlegung und Neuregistrierung ihre Arbeit eingeschränkt wird. Woher soll denn das Geld für unsere Arbeit kommen, fragt sie. Der georgische Staat fördere keine Jugend- und Freiwilligenprogramme. Wir sind froh über Erasmus+ und Förderprogramme zur östlichen Partnerschaft von Europa für unsere Arbeit, so Tamara.

Polizeigewalt
Nach den Erfahrungen der Nächte vorher waren die meisten Teilnehmer*innen vorbereitet auf die drohende Polizeigewalt. Sie hatten Mund- und Augenschutz dabei, Wasser zum Ausspülen der Augen und Helme und feste Kleidung gegen Attacken. An diesem Abend werden acht Demonstrant*innen von der anwesenden Ambulanz in Krankenhäuser gebracht, Brandwunden durch Gaspatronen, Verletzungen durch Gummigeschosse und gebrochene Knochen durch Polizeischläge. Doch sie sind mutig, lassen sich nicht vertreiben, bleiben auf der Hauptstraße vor dem Parlament bis zum frühen Morgen und versprechen, am nächsten Abend wiederzukommen. Polizei und Regierung sprechen von gewaltsamen Protesten, doch es ist nur Gewalt von Polizisten zu erkennen: Wasserflaschen, die über die Reihen der Polizei fliegen, können die „Roboter“, wie die Spezialeinheit der Bereitschaftspolizei genannt wird, nicht wirklich verletzen. Vereinzelt ist unter den Demonstrierenden ein orthodoxer Priester zu sehen, doch die Kirche hält sich bis jetzt zurück, sich gegen einen ihrer Hauptsponsoren zu wenden. Während sich die Kirche bei Demonstrationen gegen die Pride-Parade in Georgien deutlich auf die Seite rechter und konservativer Schlägertrupps stellt und handfest mitmischt, weiß sie wohl noch nicht, wie sie sich zu den derzeitigen Demonstrationen positionieren soll. Sollte sie die Demonstration als „ungeorgisch“ diffamieren, würde sie Gefahr laufen, den Großteil der Jugend zu verlieren. Und jetzt kommt erst einmal das orthodoxe Osterfest, und die meisten Menschen der Hauptstadt werden aufs Land zu ihren Familien fahren.

Im Herbst stehen Wahlen an
Eine der mutigsten Kritikerinnen der Regierung ist die derzeitige Präsidentin Salome Surabischwili, die eindeutig die extensive Gewalt der Polizei gegen friedliche Demonstrant*innen verurteilt hat. Sie hat den Innenminister aufgefordert, seine Polizei zurückzuziehen und das Recht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit zu schützen und zu respektieren. Unterstützung erhält sie dabei von der EU-Vertretung und den westlichen Botschaften in Georgien, die sich einheitlich ebenfalls deutlich dazu geäußert haben. Der Männerclique um die derzeitige Regierung von Irakli Kobachidse ist die Präsidentin seit längerem ein Dorn im Auge. Diese versucht, die Präsidentin in ihrem Amt und ihrer Arbeit zu behindern. Mehrmals hat die Regierung versucht, ihr Auslandsreisen in EU-Länder zu verbieten, doch die in Frankreich sozialisierte Surabischwili lässt sich von der Partei des „Georgischen Albtraums“ nicht einschüchtern. Ihre Wiederwahl im Herbst gilt als unwahrscheinlich, sollten die Wahlen wieder ähnlich ausfallen wie das letzte Mal. Eine starke und geeinte Opposition gibt es derzeit nicht, und auch die jungen Demonstrierenden sehen keine Alternative im System der von Männern und Interessengruppierungen dominierten Parteienlandschaft. Die von Micheil Saakaschwili gegründete und derzeit stärkste Oppositionspartei ist nicht nur durch die Inhaftierung ihres Führers geschwächt, sondern auch die autokratischen und antidemokratischen Entwicklungen am Ende ihrer Regierungszeit sind noch vielen in deutlicher Erinnerung. Gezielt hat die Polizei teilnehmende Oppositionspolitiker*innen bei den Demonstrationen herausgezogen und verprügelt. Einer von ihnen hielt tags darauf seine Rede gegen das „Russische Gesetz“ mit Schutzverband, gebrochener Nase und geschwollenen Augen in der zweiten Lesung im Parlament und führte deutlich die Polizeigewalt vor. Vor einem Jahr hat die Regierungspartei überraschend ihren Gesetzentwurf wieder zurückgezogen, doch nicht wirklich die Argumente dagegen eingesehen und nur auf eine neue Gelegenheit gewartet, um die demokratischen Rechte in Georgien weiter einzuschränken. Bei seiner Rede auf der Regierungskundgebung Anfang Mai, zu der die Regierung hunderttausend Menschen aus den Regionen in die Hauptstadt gebracht hat und Regierungsbeamte zur Teilnahme an der Demonstration verpflichtet wurden, hat Ivanishivili deutlich zugegeben, dass er den Gesetzentwurf wieder eingebracht hat und eine vorsichtige Politik gegenüber Russland vertritt. Wieweit diese Annäherung an Russland gehen soll, ist völlig unklar. Es wird intern gemunkelt, dass Russland eine Wiedervereinigung mit Abchasien in Aussicht gestellt hat, wenn Georgien sich von seiner Westorientierung abwendet. Doch das fürchten die jungen Demonstrierenden auf der Straße, denn sie wollen Reisefreiheiten, Job- und Studienmöglichkeiten in Europa und eine offene tolerante Gesellschaft für ihre Zukunft. Sollten die Demonstrationen nicht zum Erfolg führen, wird es eine neue Migrationswelle aus Georgien geben und eine Abwanderung der gebildeten und engagierten Menschen. Dies kann keiner wollen, weder in Europa, noch in Georgien.

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