Redebeitrag von Claudia Friedl (SP) für den Bodensee Ostermarsch in Friedrichshafen am 17. April 2017

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

- Sperrfrist: 17.04., Redebeginn ca. 11 Uhr –

 

Von der Kriegslogik zu einer Friedenskultur – unser Weg

Europa und die Solidarität mit den Menschen in der Osttürkei

 

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

das Ergebnis der Abstimmung über das Verfassungsreferendum in der Türkei steht noch aus. Es wird sich zeigen, ob es Erdogan gelungen ist, dank Repression, Einschüchterung und Propaganda seine Machtansprüche durchzudrücken. Es wird sich zeigen, ob die Türkei droht, in eine totalitäre Diktatur abzugleiten. Die Friedensaussichten für die Kurdinnen und Kurden würden damit wohl in weite Ferne rücken.

Ich freue mich, mit einer guten Nachricht beginnen zu können: Die türkische Bevölkerung hat das Verfassungsreferendum abgelehnt, welches Erdogan zum Alleinherrscher gemacht und die Türkei auf den Weg zur Diktatur geschickt hätte. Trotz Repression und Propaganda ist es Erdogan nicht gelungen, seine Machtansprüche durchzudrücken. Die Bevölkerung hat anders entschieden, die Bevölkerung hat ein klares Signal gesendet für mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Wir wollen sie darin unterstützen!

Es ist eingetreten, vor dem wir uns gefürchtet haben: Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist angenommen worden. Die Repressionen gegen die Opposition, die Einschüchterung ganz normaler Leute und die Beschneidung der Medienfreiheit haben ihre Wirkung erzielt. Jetzt wird die Macht von Erdogan und seiner AKP massiv ausgebaut, die Türkei droht zur Diktatur zu werden. Die Situation für die Kurdinnen und Kurden und für die Oppositionellen wird noch schwieriger werden. Unsere Solidarität mit ihnen ist wichtiger denn je!

Letzten Juni besuchte uns im Bundeshaus in Bern Selahattin Demirtas, der Co-Präsident der prokurdischen Partei HDP. Der Besuch galt als «heikel» und «brisant». Denn kurz davor hatte Präsident Erdogan veranlasst, die Immunität von Demirtas und 137 weiteren missliebigen türkischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier aufzuheben, fast alles Kurdinnen und Kurden. Dies war ein neuer, repressiver Höhepunkt. Denn seit dem Wahlerfolg der HDP 2015 hatte Erdogan den laufenden Friedensprozess mit den Kurden als beendet erklärt. Es folgten Repressionen gegen die Behörden und die Bevölkerung in den kurdischen Städten der Osttürkei. Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung schlugen die staatlichen Sicherheitskräfte zu, um angebliche Terroristen zu vernichten. Es folgten Ausgangssperren, massive Zerstörungen von ganzen Stadtteilen und tausende Enteignungen. Über 400‘000 Menschen wurden in ihrem eigenen Land vertrieben. Gemäss Menschenrechtsvertretern wurden bei den Unruhen über 600 Zivilisten getötet, darunter viele junge Männer. Auf diese Missstände wies Demirtas bei seinem Besuch in Bern hin, auf die systematische Zerstörung der offenen, multikulturellen Gesellschaftsstrukturen in den kurdischen Städten. Aber auch auf die Situation in Istanbul, wo Erdogan brutal gegen die friedliche Gezi-Park-Bewegung vorging. Und er rief den Westen auf, Solidarität mit den gewaltfrei für ihre Rechte einstehenden Menschen in der Türkei zu zeigen.

Zwei Wochen nach seinem Besuch reiste ich mit einer kleinen Gruppe in die Stadt Diyarbakir in der Osttürkei. Wir besuchten 10 NGOs und trafen zahlreiche politische Verantwortliche der verschiedenen Behörden. Was wir sahen, bestätigte das, was uns zuvor geschildert wurde: Repression, Zerstörung, Ohnmacht. Hinter verbarrikadierten Zufahrten hörten wir die Bulldozer, die ganze Stadtteile platt walzten. Die Bazarstrassen, wo normalerweise das Leben pulsierte, waren fast menschenleer. Ohnmacht bei den Behördenmitgliedern darüber, dass jeglicher Dialog von Ankara verweigert werde, dass die Situation vor allem für die Jungen immer schwieriger werde und eine Eskalation immer wahrscheinlicher. Niemand jammerte, aber alle forderten uns auf, Solidarität mit ihnen zu zeigen. Europa solle auf die bedrohliche Situation in diesem Landesteil hinweisen. Ich frage mich heute, haben wir dies genug getan? Ich sage beschämt, nein.

Zwei Wochen nach unserer Rückkehr aus Diyarbakir fand der Putschversuch statt. Eine kaum vorstellbare Repressionswelle der Regierung überrollte das ganze Land. Plötzlich waren 10‘000de Menschen Staatsfeinde. Der Lehrer von nebenan, die Staatsanwältin von gegenüber, der Polizist vom nächsten Posten. Erschrocken mussten wir feststellen, dass die Säuberungswelle sich nun über das ganze Land zog - wie vorher schon über die Südosttürkei.

Fast alle Personen, die wir letzten Juni in Diyarbakir getroffen haben, sind mittlerweile ihres Amts enthoben oder inhaftiert, genauso wie landesweit tausende kritische Kräfte aus Politik und Zivilgesellschaft, Intellektuelle und Journalistinnen und Journalisten. 190 Medienhäuser sind geschlossen und Hunderte NGOs, die sich für Menschenrechte, Frauenrechte, Kurdenrechte einsetzen, sind verboten worden. Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden heute daran gehindert, ihr Amt auszuüben, viele sind zu jahrelangen Strafen verurteilt worden. Die Medien- und Meinungsfreiheit wird unterdrückt, die Demokratie mit Füssen getreten, die Rechtsstaatlichkeit ausgehöhlt.

Es ist unbestritten: Wer in der Türkei einen Putschversuch anzettelt oder Terroranschläge verübt, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Bloss: Präsident Erdogan nutzt dies als Vorwand, um gleichzeitig die Opposition mundtot zu machen.

Und Erdogans Arm ist lang. Auch hier bei uns werden türkische Menschen ausspioniert und unter Druck gesetzt und es wird zur Denunziation aufgerufen. Aber wir lassen keine Spaltung der türkischen Bevölkerung hier bei uns zu. Wir wollen uns gemeinsam einsetzen für Demokratie und für die Respektierung der Menschenrechte, hier bei uns und in der Türkei.

Die Situation der Inhaftierten in den türkischen Gefängnissen ist dramatisch. So dramatisch, dass über 170 politische Gefangene seit Februar in einen Hungerstreik getreten sind. Ihr Ziel ist der Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen und das totalitäre System in der Türkei. Zudem verlangen sie, dass der Friedensprozess mit den Kurden wieder in Gang gesetzt wird. Es muss rasch gehandelt werden, viele der streikenden Frauen und Männer sind in einem ernsthaften gesundheitlichen Zustand.

Wir fordern deshalb die Türkei auf, alle politischen Häftlinge und alle Oppositionellen, Journalisten und Journalistinnen sowie Menschenrechtsvertreterinnen und -vertreter frei zu lassen.
Wir fordern, dass Delegationen des IKRK und des Antifolterkomitees Zugang zu den Gefängnissen erhalten und die Haftbedingungen sofort verbessert werden.
Wir fordern, dass die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder hergestellt und gestärkt werden.
Wir fordern, dass die Repression gegen das kurdische Volk gestoppt wird und die demokratisch gewählten Bürgermeister und Bürgermeister wieder eingesetzt werden.
Wir fordern, dass der Krieg in der Osttürkei und Syrien beendet wird.
Wir fordern von unseren Regierungen, dass sie Erdogan unmissverständlich auffordern, die Menschenrechte, die Meinungsfreiheit und demokratischen Grundrechte wieder einzuhalten.
Wir fordern unsere Bevölkerung auf, zeigt Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden und den verfolgten Oppositionellen.

 

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,

zeigen wir an diesem Ostermarsch Solidarität mit den Menschen in der Osttürkei und setzen wir uns ein für eine Zukunft mit mehr
Frieden, Freiheit und Menschenrechte!

Claudia Friedl ist Nationalrätin der SP aus dem Kanton St. Gallen.