Redebeitrag von Cigdem Deniz Sert für den Ostermarsch Ruhr in Bochum am 1. April 2018

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich möchte meinen heutigen Redebeitrag mit einer kurze Szene aus einem Buch beginnen. Elie Wiesel hat als kleiner Junge den Faschismus erfahren und die Deportation seiner Familie und seiner Person nach Auschwitz erlebt. In seinem autobiographischen Buch „Die Nacht“ beschreibt er sehr eindrucksvoll seine Gedanken auf dem Weg nach Auschwitz. Er beschreibt seine Fassungslosigkeit und sagt: „Es kann doch nicht sein, dass die Menschheit zuschaut; die Menschheit wird doch jeden Augenblick kommen und uns retten. Das werden die Menschen doch niemals zulassen“ Sein Vater antwortet: „Doch mein Junge, wir leben in einer Zeit, in der die Menschheit zuschaut“.

So bitter das auch klingt, so fassungslos uns das auch macht, das ist leider die Realität; auch wir leben in einer Zeit, in der die Menschheit zuschaut. Zuschaut, wenn anderswo auf der Welt Krieg ist.

Wir leben in einer Gesellschaft, die über Geflüchtete redet, weil sie als störend empfunden werden; Scheindebatten entstehen über „Überfremdung“, „Untergang der christlich-abendländischen Kultur“; in einer Gesellschaft, in der die Medien und die Politik – wenn überhaupt- nur selten ein Wort über die vielen Toten im Mittelmeer verlieren.

Das, liebe Freundinnen und Freunde ist nicht einmal das, was mich fassungslos macht. Viel schlimmer ist, dass niemand über die Ursachen von Flucht reden will. Über Krieg und Armut wird nicht geredet. Der Krieg ist so weit weg, ganz woanders in der Welt, dass es uns einfach nicht betrifft. Und wenn dann auch noch so getan wird und versucht wird, glaubhaft zu machen, dass wir hier nichts mit dem Krieg der anderen zu tun hätten, dann bleibe ich nicht nur fassungslos, sondern es macht mich wütend!

Mit der Wahrheit will man schon mal gar nichts zu tun haben, denn diese stirbt bekanntlich zu aller erst. Zur Wahrheit gehört nämlich, dass sich auch Deutschland an den Kriegen in der Welt beteiligt. Es werden neben Natomitgliedsstaaten auch sogenannte Drittstaaten mit Waffen beliefert, die nicht in der EU oder Mitglied der Nato sind. Es werden Waffen in Krisengebiete dieser Erde geliefert – in Milliardenhöhe. Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist nämlich auch Teil der bitteren Wahrheit.

Krieg oder Frieden, liebe Freundinnen und Freunde, Krieg oder FRIEDEN geht uns alle was an!

Wir können nicht ernsthaft annehmen, dass wir hier in Frieden leben, während anderswo auf der Welt täglich gebombt, geplündert, vertrieben und Lebensraum vernichtet wird.

Gleichzeitig können wir nicht so überrascht tun und so verwundert sein, wenn „plötzlich“ Menschen schutzsuchend zu uns kommen. Das liegt doch in der Natur der Sache. Was würden wir denn tun, wären wir in so einer Situation? Das Problem ist doch nicht, dass diese Menschen Schutz und Frieden anderswo in der Welt suchen und schon gar nicht, wenn sie es hier, in Deutschland tun.

Nein, das ist wahrlich nicht das Problem! Das Problem, liebe Freundinnen und Freunde, sind diejenigen, die über die Welt herrschen und darüber entscheiden, ob wir in Krieg oder Frieden leben. Und es trifft immer die Ärmsten und Schwächsten dieser Welt am härtesten. Und genau deshalb verlaufen die eigentlichen und wahren Grenzen nicht zwischen jenen, die gleichermaßen von Armut, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit betroffen sind; ganz gleich in welchem Land dieser Erde sie leben. Die eigentlichen Grenzen eben verlaufen ganz woanders.

Treffen nun hier die Armen, die Ausgrenzten der Welt aufeinander, überschneiden sich zwei Lebenswelten, die eines gemeinsam haben: Armut. Es wird miteinander und untereinander um das Essen in der Suppenküche, in den Tafeln gekämpft. Rassistische Praktiken sind das Ergebnis und das Mittel für die Problemlösung.

Rassismus ist keine Frage von Gefühlen, Sympathien oder Antipathien. Rassismus hat System, hat Strukturen und korreliert mit Machtverhältnissen. Er funktioniert am besten in Machtstrukturen. Ungleiche Verhältnisse führen zu solchen rassistischen Praktiken und fördern sie. Sie sind ein wichtiges Instrument zur Spaltung der Gesellschaft. Und zwar nicht zwischen Arm und Reich, sondern unter den Armen nach ethnisierenden Rastern und mit nationalistischen Ideologien. Wir müssen die soziale Frage stellen! Die eigentliche Schande ist, dass es in einem der reichsten Länder dieser Erde überhaupt Menschen gibt, die auf Essen angewiesen sind, was sie sich nicht selbst besorgen können. Es ist eine Schande, dass Menschen sich um das Essen „prügeln“ müssen. Es ist eine Schande, dass Menschen, die in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, inzwischen so selbstverständlich zu unserem modernen, urbanen Bild gehören. Es ist eine Schande, dass die Menschheit zuschaut während so viel Unrecht geschieht auf der Welt.

Um so wichtiger ist, dass wir gemeinsam unsere Stimmen erheben: gegen Krieg! Gegen Armut! Gegen soziale Ungleichheit! Für Frieden! Für soziale Gerechtigkeit! Die Ostermärsche sind wichtiger denn je, deshalb noch einmal einen herzlichen Dank dafür, dass ich hier heute im Namen des Bochumer Forums für Antirassismus reden durfte!

 

Cigdem Deniz Sert ist Vorsitzende des Bochumer Forums für Antirassismus und Kultur.