Redebeitrag für den Ostermarsch Kassel am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

"Eure Waffen schützen unsere Kinder!“

Diese Worte konnte man am 24. Februar d.J., also am Jahrestag des Überfalls russischer Truppen in die Ukraine hier auf den Treppen des Rathauses bei einer Demonstration vorwiegend ukrainischer Flüchtlinge lesen.

"Eure Waffen schützen unsere Kinder!“

Ja, liebe Freundinnen und Freunde aus der Ukraine, die ihr vor dem Krieg aus der Ukraine hierher geflüchtet seid und hier – Gott sei Dank – Zuflucht und Aufnahme gefunden habt, es ist schlimm, was in eurem Land passiert, was euch angetan wird.

Es ist schlimm, was der Aggressor Putin anrichtet. Wir haben die Bilder von Butscha, Bachmuth, Mariopol und den vielen anderen Orten der Zerstörung und Verwüstung vor Augen. Wir leiden mit euch, wenn die Menschen vor den russischen Bomben Schutz in U-Bahn Schächten suchen. Es ist unerträglich, dass Vergewaltigungen und Kindesentführungen zur Kriegsstrategie geworden sind.

Wir ihr wollen wir, dass der Krieg aufhört.

Wie ihr sagen wir: Wenn Putin und seine Leute aufhören zu schießen, ist das der beste und schnellste Weg, um diesen Krieg auf gute Weise zu beenden.

Wie ihr rufen wir Putin zu: Hör auf mit diesem verbrecherischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein unabhängiges, eigenständiges Land.

Wie ihr hoffen wir, dass Putin und seine Helfershelfer für die zahlreichen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden.

Wie ihr wollen wir, dass die territoriale Autonomie in der Ukraine wieder hergestellt und anerkannt wird. Wie ihr suchen wir nach Wegen, diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden.

Aber leider kann ich diesem Wort nicht glauben: „Eure Waffen schützen unsere Kinder!“. Die täglichen Bilder und Berichte, die wir im Fernsehen und den sozialen Medien sehen, sagen etwas anderes.

Waffen, Gewalt, Krieg, sind nicht die Lösung dieses Problems. Sie sind auch nicht die richtige Antwort auf den Krieg gegen euch und euer Land. Waffen, Gewalt, Krieg sind das Problem. Wenn Putin und seine Leute aufhören zu schießen, ist das der beste und schnellste Weg, um diesen Krieg auf gute Weise zu beenden. Aber leider ist damit nicht zu rechnen. Auch nicht, wenn wir Kampfpanzer, auch nicht, wenn wir Kampfflugzeuge und noch mehr an euch liefern werden. Dass so zerstört wird, was eigentlich gerettet werden soll, um was ihr kämpft, wird jeden Tag von neuem zur grausamen Realität. Und dazu tragen auch die von uns gelieferten Waffen bei. So darf es nicht weitergehen, und dafür setzen wir uns ein.

Man sagt oft: Ohne Waffen, ohne Gegenwehr hätte Russland die Ukraine sofort überrollt und es gäbe sie längst nicht mehr.

Aber wir stehen heute nicht mehr am Tag des Kriegsbeginns, dem 24. Februar 2022! Wir sind mehr als ein Jahr weiter. Ich glaube, es zeichnet sich ab, wie eine Lösung aussehen wird: eine weitgehend entmilitarisierte Ukraine, die als neutraler Staat mit Schutzmachtgarantie zwischen Russland und der EU existieren wird. Unklar werden der Status der Krim und des Donbass bleiben. Und darüber muss geredet werden. Zur Not jahrelang, jahrzehntelang. Es muss geredet werden, aber nicht mehr geschossen. Ähnliche rechtlich unklare Situationen haben wir auch an anderen Orten unserer Welt: in Zypern, auf dem Golan, im Westjordanland, an vielen anderen Stellen unserer Welt. Der Konflikt in der Ukraine muss erst mal eingefroren werden. Sofort.

Sehen wir denn nicht die katastrophalen Konsequenzen, die sich schon jetzt aus dem militärischen Weg ergeben, der beschritten wird?

Allein in Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzliches Sondervermögen für die Bundeswehr. Der Rüstungshaushalt wird in bisher ungekannter Weise erhöht. Die Ausweitung der Rüstungsproduktion gilt ja nicht für ein paar Wochen oder Monate, nicht für ein Krisen- und Kriegsjahr 2022/2023. Die Fabriken, die erweitert und neugebaut werden, die Menschen, die eingestellt und geschult werden, sind da und bleiben da. Aber nicht für eine sicherere Zukunft, sondern für eine Zukunft, die von Waffengewalt und kriegerischen Konflikten, von Existenzsorgen und von Todesangst geprägt sein wird.

Der Weg, den wir jetzt gehen, droht der Weg zu sein, der uns von einer Nachkriegsgeneration in Deutschland zu einer Vorkriegsgeneration macht, der in dem nuklearen Zeitalter, in dem wir leben, Schreckliches, der der Untergang droht.

Waffen schützen nicht die Kinder in der Ukraine. Auch nicht die zivilen Männer und Frauen. Und natürlich auch nicht die Soldaten. Waffen bringen Tod und Verderben.

Krieg ist heute – ist nie mehr ein geeignetes Mittel, um politische Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zu lösen. Krieg kann im atomaren Zeitalter nicht mehr integraler Bestandteil von Politik sein. Und das dürfen sich auch unsere Politiker nicht mehr aufzwingen lassen, nicht von Putin, nicht von Biden, nicht von XI Ping und von keinem anderen. Im atomaren Zeitalter werden wir künftig eine Menschheit sein, die ohne Krieg auskommt, oder wir werden eben keine Menschheit mehr sein.

Wir lassen uns nicht einreden, dass Krieg alternativlos sei, dass er gebraucht wird, um Menschlichkeit zu bewahren und Menschen zu schützten. Das ist die Sprache der Demagogen aller Zeiten, die zur Legitimation eines jeden Krieges gebraucht wird. Da heißt es dann: Der andere ist der Teufel, die Verkörperung des Bösen. Der Krieg ist das einzige Mittel, ihn zu stoppen. Wir stehen auf der Seite der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit. Mit unserem Krieg stehen wir für die gerechte Sache ein. Wir sind auf der Seite des Guten. Wer sich gegen uns stellt, steht auf der Seite der Gegner, betreibt seine Geschäfte und ist ein Verräter, der sich gegen sein Vaterland stellt.

Solche Aussagen verkennen die Komplexität der Kriegsursachen. Natürlich ist Putin mit seinem imperialistischen Überfall auf die Ukraine der Hauptverantwortliche. Aber bei der Analyse, wie es zu dieser schlimmen Situation kommen konnte, muss man auch die Fehler der Nato und der EU benennen:

  • die Nato-Osterweiterung,
  • der Streit der Systeme, bei dem die auch berechtigten Interessen Russlands über Jahrzehnte nicht einbezogen wurden,
  • die unverhohlene Absicht, Russland dauerhaft zu schwächen und vieles mehr.

Um Frieden zu schaffen braucht es andere Wege als Gewalt. Wir stehen hier, um gegen die Fortführung dieses Krieges und die zunehmende Militarisierung der Welt zu protestieren, und fordern unsere Politiker auf, sich mit aller Kraft für einen sofortigen Waffenstillstand und für Verhandlungen einzusetzen. Es gilt auf diesem Weg den Frieden zu gewinnen, nicht den Krieg.

Wir müssen bekennen: Kurzfristige Lösungen, den entsetzlichen Angriffskrieg auf die Ukraine zu beenden, haben wir auch nicht. Kurzfristige Lösungen für dieses Unheil, das so viele Ursachen und Wurzeln hat, hat die Friedensbewegung nicht.

Aber die Bellizisten und Waffenlobbyisten haben sie auch nicht.

Wir setzen uns ein für einen gewaltfreien Widerstand gegen Unrecht und imperiale Machtgelüste von Verbrechern. Es braucht gewaltfreie Wege, die die Wurzeln des Übels angehen, und nicht solche, die wiederum Grundlage für weiteres Unrecht und Gewalt sind.

Und es gibt bereits Formen des zivilen Widerstandes: Verhandlungen, wirtschaftliche Sanktionen, Ächtungen sind einige davon. Auch die mutigen zivilen Handlungen von Menschen in der Ukraine, von denen hier leider zu wenig berichtet wird, sind Formen des zivilen Widerstands. Diese Wege müssen weiter ausgebaut werden.

Wir brauchen mindestens genau so viel wenn nicht mehr Energie, Ressourcen und Manpower für die Entwicklung des zivilen Widerstandes wie für den militärischen Weg bereitstehen. Das heißt, wir investieren mindestens 2% des Bruttosozialproduktes und 100 Milliarden Sondervermögen. Das heißt auch, dass wir das Engagement von hunderttausenden von Menschen brauchen, die – genauso wie die Soldaten im Kampf – bereit sind, ihr Leben einzusetzen, aber eben für einen gewaltfreien Widerstand. Ich glaube daran und setze mich dafür ein, dass der Ruf nach diesem Weg zum Frieden so lange nicht verstummt, bis wir diesen Weg gegangen sind.

Bei all dem Irrsinn, den wir im Moment erleben, braucht es die Stimmen, die den Weg der allgemeinen Militarisierung in Frage stellen und aufhalten. Unsere Politiker müssen sich wieder mit anderen Themen beschäftigen als die, wie sie am schnellsten neue Marder- und Leopard-Panzer herstellen, wie sie schnellstens millionenfach Munition für die Panzer beschaffen können, die von den ukrainischen Soldaten innerhalb von drei Monaten verschossen werden.

Aufgrund vieler Fehler, aufgrund der Schuld vieler Menschen, aufgrund der Überheblichkeit und des Wahnsinns unserer Welt stecken wir im Moment in einem Dilemma. Die Ohnmacht ist fast nicht auszuhalten. Es gibt auch eine Ecke in mir, die die Wut so vieler, den Wunsch nach Vergeltung, nach Rache, nach Rückeroberung und Eroberung, verstehen kann. Es bleibt natürlich auch die Möglichkeit, dass ich, dass wir irren. Das will ich einräumen und anerkennen.

Aber wenn ich meinen Kopf einschalte kann ich nicht anders als zu sagen: Es ist ein Fehler, immer noch das Heil im Militär zu suchen. Seit Menschengedenken hat das die Welt nur verschlimmert.

Schauen wir in den Irak, nach Afghanistan, nach Syrien. Schauen wir auch auf Deutschland und den zweiten 2. Weltkrieg. Uns wird immer wieder vorgehalten, dass Hitler ohne Militär die Welt unterjocht hätte. Aber die Wahrheit ist doch: Ohne Militär hätte er seinen Wahnsinn nicht ausleben können. Ohne die Blindheit des deutschen Volkes, das damals auf den Weg des Militärs vertraut hat, wäre die Welt nicht in den Untergang gerauscht.

Auch hier gilt: Krieg hat nicht das Übel verhindert, Krieg war das Übel. Krieg ist das Übel.

Politisch müssen wir vermutlich Wege suchen, die UNO zu stärken, eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Weltpolizei entwickeln, die bei lokalen Konflikten ein Mandat hat.

Das sind Themen und Fragen, denen sich die Politiker widmen müssten. Dafür haben wir sie gewählt.

Ich stehe hier als Pfarrer, als christlicher Theologe. Ich bin der Botschaft Jesu Christi verpflichtet, auch seiner Ethik, die in der Bergpredigt am deutlichsten wird. Dort heißt es:
Liebt eure Feinde. Tut Gutes denen, die euch hassen. Segnet, die euch verfolgen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben: was tut ihr damit besonderes. Und: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin. Und wenn dich einer zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, gehe zwei.

Das ist keine Haltung von Schwächlingen und Feiglingen. Das ist erst recht kein Aufruf zur Passivität. Unrecht einfach tatenlos hinnehmen ist die schlimmste Form, mit Unrecht umzugehen. So würden wir das Unrecht stützen und fördern. Gewaltfreies Handeln, so wie es von Jesus gelehrt wird, braucht Mut, Einsatz und höchste Kreativität.

Diese Worte, diese Haltung der Bergpredigt ist Grundlage meines Denkens. An ihr versuche ich mein Handeln auszurichten. Ich sehe sie auch als einen wesentlichen Teil der Botschaft Jesu für diese Welt. Er redet von der grenzenlosen Menschenliebe Gottes, wie sie erfahrbar wird, was für Folgen sie hat. Diese Botschaft ist lebenswichtig. Nicht nur für meine private Frömmigkeit. Sie ist lebenswichtig – für die Welt.

Jesus hat sie gelebt. Er hat es gewagt, sogar in den Feinden, sogar in seinen Todfeinden noch ein Abbild Gottes zu sehen. (Auch das ist gemeint, wenn wir sagen: Er hat die Welt „erlöst“. Erlöst auch aus der Spirale der Gewalt.)

Heute, der Karsamstag, ist für die Christen ein großer Trauertag. Wir trauern um den ermordeten Jesus, der für seine Idee der Gottes- und Nächsten- und Feindesliebe sogar in den Tod gegangen ist. Der Karsamstag ist für uns ein stiller Tag, an dem wir das Geschehen betrauern und bedenken. Es ist auch der Tag, an dem uns die Frage gestellt ist, ob wir dieser Botschaft – es gibt einen Weg zum Frieden ohne Gewalt – wirklich trauen und uns wagen, einen ähnlichen Weg zu gehen.

Christen feiern morgen Ostern. Das ist das Fest der Hoffnung und der Zuversicht. Wir feiern, dass die Botschaft Jesu, dass die Botschaft der Liebe siegt. Trotz allem haben nicht Gewalt und Folter in unserer Welt das letzte Wort, sondern Menschlichkeit und Nächstenliebe. Das trägt mich.

Dieser Traum wird weiterleben. Dafür stehen wir. Dafür setzen wir uns ein.

Ich danke Ihnen.

 

Harald Fischer ist Gemeindepfarrer der Kath. Pfarrgemeinde Sankt Familia.