Redebeitrag für den Ostermarsch Wedel am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Stoppt den Krieg! Waffenstillstand sofort!
Diplomatie statt weiterer Waffenlieferungen!

 

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde!

Ich freue mich, dass ich heute zu Euch, zu Ihnen sprechen darf, dass wir uns hier versammelt haben. Ein herzliches Dankeschön an die Veranstalterinnen und die Organisatoren.

Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen über 1 Jahr. Er verursacht weiterhin tägliches Leid, Tod und Verwüstung. Wir befinden uns seit langer Zeit in einer stetigen Intensivierung und in einer Eskalationsdynamik dieses Krieges, dessen Ende nicht absehbar ist.

Und trotzdem habe ich manchmal den Eindruck, dass mich oder auch andere, im Freundeskreis, auch in Teilen der Friedensbewegung, ein schleichender Gewöhnungsprozess erfasst. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir uns immer wieder das Leid und die Verzweiflung der unmittelbaren Opfer vor Augen führen. Dieser Krieg darf nicht noch Monate oder Jahre weitergehen. Als IPPNW fordern wir, alle Anstrengungen zu unternehmen, um zu einem sofortigen Waffenstillstand und nachfolgenden Friedensverhandlungen zu kommen!

Wenn ich heute über den Ukraine-Krieg spreche, möchte ich auch daran erinnern, dass es zahlreiche andere Kriege gibt, die aus den gleichen Gründen so rasch wie möglich beendet werden müssen, ich nenne hier stellvertretend Jemen und Syrien.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts, und eine deutliche Mehrheit aller Staaten hat ihn in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt. Gleichzeitig hat der Krieg eine komplexe Vorgeschichte, zu der auch gehört, dass die Staaten der NATO durch die Osterweiterung eine Mitverantwortung tragen, für die seit den 90er-Jahren zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der NATO.

Nun nimmt mit jedem Kriegstag die Unversöhnlichkeit weiter zu, die Fronten verhärten sich mehr und mehr. Und mit jedem Tag wächst das Risiko, dass sich der Krieg auf andere Staaten ausweitet oder vielleicht bis zum Atomkrieg eskaliert. Auch darum sagen wir: Waffenstillstand sofort!

Bevor ich auf die atomaren Gefahren zu sprechen komme, möchte ich noch einmal zurück zu den Opfern des konventionellen Krieges, wie er zur Zeit in der Ukraine wütet.

Der Angriff auf die Ukraine und die Opfer der militärischen Auseinandersetzung bringen uns in das Dilemma, abwägen zu müssen, einerseits zwischen dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie andererseits dem Recht der Ukraine zur Selbstverteidigung. Für mich persönlich, besonders in meiner Rolle als Arzt, steht dabei der Mensch mit seiner körperlichen und seelischen Gesundheit im Vordergrund.

Der US-Generalstabschef Mark Milley hat im November letzten Jahres die Zahl von jeweils rund 100.000 toten und verletzten Soldaten sowohl auf russischer wie auch auf Seiten der Ukraine genannt.

Seit Kriegsbeginn zählt die UNO nach Angaben vom 3. April 2023 22.607 zivile Opfer, davon 8.451 Tote und 14.156 Verletzte Allerdings wird angenommen, dass die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher sind.

Nach Angaben der WHO vom Januar gibt es 8,0 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in anderen Ländern Europas, das sind knapp 20% der Einwohnerschaft. Und es gibt 5,4 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine.

Es gibt keinen Krieg ohne Kriegsverbrechen. Human Rights Watch spricht von „mutmaßlichen“ Kriegsverbrechen.

Folter, Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen. Wahllose Angriffe auf zivile Gebiete und wiederholt auf die Energieinfrastruktur werden den russischen Streitkräften zur Last gelegt. „Es gibt allerdings auch Hinweise auf Kriegsrechtsverstöße durch ukrainische Streitkräfte, etwa Misshandlungen und mutmaßliche Hinrichtungen von Kriegsgefangenen, die ebenso Kriegsverbrechen darstellen würden.“

Eine Untersuchungskommission der UN kam zum Ergebnis, dass die russischen Streitkräfte für die überwiegende Mehrheit der von ihr festgestellten Verstöße verantwortlich waren.

Über die Verluste unter Soldaten liegen keine zuverlässigen Zahlen vor, da sie nicht von unabhängiger Seite überprüfbar sind.

Der "Spiegel" hat Angaben aus verschiedenen Quellen vom 24. Februar bis Dezember 2022 ausgewertet und schrieb (27.12.22):

„Eine seriöse Aussage zu den Opferzahlen in der Ukraine zu treffen, ist eigentlich nicht möglich. Und es zeigt sich auch, wie mit den Angaben gezielt Politik gemacht wird – vom ersten Tag der Invasion an: Geringe Todeszahlen sollen dabei helfen, militärische Stärke zu demonstrieren und die Moral der Truppe so wie der heimischen Bevölkerung aufrechtzuerhalten, während jene der gegnerischen Seite gedrückt werden soll.“

In der Schlacht um Bachmut werden tausende Soldaten auf beiden Seiten getötet, verstümmelt und verletzt. In der Lauenburgischen Landeszeitung (Funke-Mediengruppe) vom 25. Januar des Jahres berichtete ein ukrainischer Soldat: „Die Russen haben Wellen von Soldaten direkt in unser Feuer gejagt. Sie sind über die Körper ihrer toten Kameraden auf unsere Stellungen zugestapft.

Wenn wir geschossen haben, haben sie sich nicht einmal geduckt.“

Der Soldat übte ebenso scharfe Kritik an der ukrainischen Militärführung: "Sie schicken Leute ins Gefecht, die gerade mobilisiert wurden und kaum Training hatten.“

Aus seinem Bataillon seien von ursprünglich 500 Männern nur noch 70 einsatzfähig.

Als IPPNW fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand!

Ich komme jetzt zur Atomkriegsgefahr:

Der russische Präsident hat wiederholt, wenn auch indirekt, mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Das folgende Szenario wurde Anfang März des letzten Jahres, also kurz nach dem Kriegsbeginn, in einer amerikanischen Fachzeitschrift veröffentlicht: „Sowohl aus der Europäischen Union als auch aus den Vereinigten Staaten kommen weiterhin frische Waffen und andere Hilfsgüter in die Ukraine und ermöglichen es den ukrainischen Streitkräften, weiter zu kämpfen.“ Der Krieg würde zu einem für beide Seiten schmerzhaften Patt führen. „Dennoch kann man davon ausgehen, dass es für Putin keine Option ist, den Krieg mit der Ukraine zu verlieren […] Eine Entscheidung Putins, taktische Atomwaffen einzusetzen, scheint vielleicht nicht mehr völlig abwegig zu sein."

Es ist durchaus möglich, dass die Entwicklung eine entsprechende Richtung nehmen könnte. Die Nato-Staaten scheinen bereit - wenn auch in unter-schiedlichem Umfang - die Ukraine auf Jahre hinaus mit Waffen zu beliefern. Allerdings ist die US-Regierung, die dafür im letzten Jahr noch "Himmel und Erde" in Bewegung setzen wollten, angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in ihrer Rhetorik leiser geworden.

Die Militärdoktrinen der NATO und auch Russlands schließen den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht aus. Der Einsatz von Nuklearwaffen ist nach der russischen Doktrin z.B. möglich, wenn die Existenz der Russischen Föderation auf dem Spiel steht, unabhängig davon, ob diese Bedrohung militärisch oder ökonomisch zustande kommt. Das Risiko steigt, wenn Russland in die Defensive gerät. So steht es im Friedensgutachten 2022 der 4 führenden Friedensforschungsinstitute Deutschlands. Im Falle einer Eskalation könnten NATO-Einrichtungen in Deutschland und hier stationierte US-Kernwaffen früh zu möglichen Zielen werden.

All dies ist ein weiterer Grund für einen Waffenstillstand jetzt!

Was wären die Folgen einer Atombombenexplosion in Hamburg?

Atombomben haben ein extremes Zerstörungspotenial. Bei der Explosion entstehen Temperaturen doppelt so heiß wie die der Sonne. Die radioaktive Strahlung führt zum raschen Tod oder durch den Fallout über Jahrzehnte zu Krebserkrankungen, Fehlgeburten, Missbildungen oder genetischen Schäden. Davon ist das ganze Ökosystem betroffen.

Bei der Detonation einer Atombombe mit durchschnittlicher Sprengkraft von 100 Kilotonnen über dem Hamburger Hauptbahnhof würden 111.000 Menschen sofort umkommen.

Im Zentrum entstünde ein Feuerball mit einem Radius von 380 Metern, in dem alles verglüht. In diesem Bereich liegen die Einkaufszonen der Mönckeberg- und der Spitalerstraße, die Lange Reihe, das Schauspielhaus und vieles mehr.

Die Explosion würde eine gewaltige Druckwelle erzeugen. Sie würde zum unmittelbaren Tod führen oder Verletzungen an Lungen, Ohren und inneren Organen verursachen. In einem Radius von über drei Kilometern käme es zum Einsturz der meisten Gebäude und zu nachfolgenden Bränden. Jeder Mensch in dieser Zone würde verletzt, viele würden sterben. Betroffen wären das Marienkrankenhaus, die Kliniken St. Georg und Fleetinsel Hamburg, sowie das Krankenhaus Jerusalem.

Durch die Hitzewelle würden die Menschen bis zu einer Entfernung von 4,4 km schwere, oft tödliche Verbrennungen erleiden. In dieser Zone liegen drei weitere Kliniken. Es wäre mit 370.000 Verletzten zu rechnen, aber ein Fünftel aller Krankenhäuser wäre zerstört, es würden nur noch etwa 10.000 Krankenhausbetten zur Verfügung stehen – für 370.000 Verletzte. Ein großer Teil des Gesundheitspersonals wäre tot oder verletzt. Die meisten Bombenopfer blieben sich selbst überlassen.

Wir Ärztinnen und Ärzte werden Euch und Ihnen nicht helfen können!

Ein regionaler Atomkrieg mit dem Einsatz von 100 Atomwaffen hätte zusätzlich weltweit katastrophale Auswirkungen auf das Klima und die Landwirtschaft. Massen an Ruß würden in die Atmosphäre befördert. Sie würden den Planeten in kurzer Zeit abkühlen, und Milliarden von Menschen wären von Hungersnöten bedroht.

Der Einsatz von 1.000 Atombomben würde unseren Planeten unbewohnbar machen. Derzeit gibt es weltweit knapp 13.000 Atomsprengköpfe.

Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden!

Am 25. März 2023 hat Präsident Putin die Stationierung von taktischen Atomwaffen in Belarus angekündigt, die ab 1. Juli erfolgen könnte, nach der Fertigstellung eines Depots. Trägersysteme wie Flugzeuge und Iskander-Raketen sind bereits vorhanden.

Die Atomwaffen würden in russischem Besitz bleiben. Putin verwies darauf, dass die USA ebenfalls Atombomben bei ihren Verbündeten stationiert hätten.

Die IPPNW verurteilt die Ankündigung, Atomwaffen in Belarus zu stationieren. Gleichzeitig rufen wir die Bundesregierung auf, das Verbot von Atomwaffen anzuerkennen und die nukleare Teilhabe zu beenden.

Es ist höchste Zeit, dass auch Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt und die US-Atomwaffen aus Deutschland abziehen lässt!

ICAN – die Internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen – geht noch einen Schritt weiter: „Die nukleare Teilhabe sollte im Interesse der Deeskalation in ganz Europa beendet werden.“

Ich möchte hier auch daran erinnern, dass es zu einem Atomkrieg aus Versehen kommen kann, durch Fehlalarm, durch Unfall, durch technische Fehler, durch Missverständnisse.

Der Königsweg zur Verhütung eines Atomkriegs ist die Abschaffung aller Atomwaffen. Der Atomwaffenverbotsvertrag ist das völkerrechtliche Instrument zur Abschaffung von Atomwaffen. Die Mehrheit aller Staaten will den Besitz von Atomwaffen und die Drohung mit ihnen nicht länger tolerieren!

Die internationale IPPNW forderte im Februar erneut von allen Atomwaffenstaaten eine Erklärung, auf den Einsatz von Atomwaffen zu verzichten und zudem ihre Nuklearstreitkräfte zu deaktivieren, um das Risiko eines Raketenstarts aufgrund eines Fehlalarms zu vermeiden.

Als IPPNW sehen wir JETZT die Notwendigkeit für einen Waffenstillstand!

"Friedensfähig ist nur, wer über die Kriegslogiken hinaus denkt und diplomatische Optionen entwickelt, Gewaltkonflikte zumindest einzufrieren, um sie mittel- bis langfristig zu lösen“ (Friedensgutachten 2022).

Die IPPNW hat erstmals im Juli letzten Jahres ein Papier mit dem Titel "Waffenstillstand und Frieden für die Ukraine“ herausgegeben und nach dieser ersten Version drei weitere, jeweils aktualisierte, zuletzt am 24. Februar dieses Jahres. Es ist eine Sammlung von Vorschlägen und Möglichkeiten für einen Waffenstillstand sowie von Wegen zu einer Lösung der Konflikte zwischen Russland und der Ukraine einerseits und Russland und der NATO andererseits.

Im Verlauf der Zeit sind neue Vorschläge dazu gekommen, und die Dynamik des Krieges mit seiner Eskalation hat neue Gesichtspunkte in den Fokus gerückt.

Bei der Suche nach einem Waffenstillstand und Frieden ist es wichtig, den Weg im Auge zu haben und nicht primär ein vorgegebenes Endresultat. Der Prozess ist wichtig: kleine Schritte, die für beide Seiten hinnehmbar sind. So kann ein Minimum von Vertrauen hergestellt werden.

In unserer Sammlung finden sich zwar Friedenspläne mit detaillierten Empfehlungen, sie stammen allerdings aus dem 1. Halbjahr 2022, später hat sich die Diskussion darauf konzentriert, Vorschläge für den Einstieg in Gespräche zu machen und mögliche Mediator*innen zu identifizieren.

Bisher haben weder das Warten auf ein militärisches Patt noch Waffenlieferungen oder Sanktionen ein Zeitfenster für Waffenstillstandsgespräche eröffnen können. Somit stellt sich die Frage, ob und wie auf die Kriegsparteien diplomatisch Druck ausgeübt werden kann, sich zu Verhandlungen und zu Kompromissen bereit zu finden, auch wenn diese von beiden Seiten aus der jeweils unterschiedlichen Perspektive als schmerzhaft empfunden werden.

Grundsätzlich ist vorstellbar, dass China oder Indien auf die russische Regierung einwirken; die EU und die USA sind gefragt, mit der Ukraine zu sprechen. In Betracht kommen auch andere Länder, z.B. Brasilien und Südafrika.

Wie schwierig sich die Suche nach einer Vermittlung gestalten kann, haben wir diese Woche am Beispiel Chinas erlebt. Es war klar, dass China eines der wenigen Länder ist, wenn nicht sogar das einzige weltweit, das einen ausreichenden Einfluss auf Russland und diesen Konflikt haben kann.

Während Frankreichs Präsident Macron und Chinas Staatschef Xi rasche Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau gefordert haben, schließt die russische Regierung eine Vermittlung durch China derzeit aus.

China hatte am 24. Februar einen 12-Punkte-Friedensplan veröffentlicht, zu dem sich Bundeskanzler Olaf Scholz schon vor der Veröffentlichung skeptisch geäußert hatte. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat noch am gleichen Tag erklärt, China hätte nicht viel Glaubwürdigkeit, weil es die russische Invasion in die Ukraine nicht verurteilt hätte.

Dass der Weg von Verhandlungen nicht leicht sein würde, war und ist klar. Gut ist, dass über Waffenstillstand und Friedensverhandlungen diskutiert wird. Im Sommer letzten Jahres erschien es Vielen noch illusorisch, sich über einen Waffenstillstand Gedanken zu machen.

Das ist ein wichtiger, wenn auch nur ein erster Schritt. Und auch wenn in der Friedensbewegung noch vieles besser laufen könnte, zu diesem Wandel habt Ihr, haben wir unseren Teil beigetragen. Dafür danke ich Euch!

Und dafür, dass Ihr heute hier seid, und dass Ihr mir so lange zugehört habt!

Stoppt den Krieg!

 

Ralph Urban ist Mitglied des Vorstandes der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs/ Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW)

 

Anmerkung: