6x jährlich erscheint unser Magazin "FriedensForum" und berichtet über Aktionen und Themen der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeexemplar zu. Sichere dir hier dein Probeheft zum Thema "Entspannungspolitik".
Redebeitrag für den Ostermarsch in Bremerhaven am 19. April 2025
- Es gilt das gesprochene Wort –
Moin, liebe Freundinnen und Freunde des Friedens,
„Die USA haben beschlossen, Präzisionsraketen in Deutschland zu stationieren, ein guter Beschluss.“, so noch-Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz am 11. Juli 2024 in Washington am Rande eines Nato-Gipfels. Nachzulesen auf der offiziellen Internetseite der Bundesregierung.
Unsere Osterüberraschung: Wir teilen diese Einschätzung ausdrücklich - nicht !
Warum ? Das werde ich versuchen aufzuzeigen.
Man könnte es für ein Déjà-vu-Erlebnis halten. Das hatten wir doch schon einmal Anfang der 1980er Jahre, als US-amerikanische Pershing II-Atomraketen in Deutschland stationiert wurden. Es gibt aber gravierende Unterschiede.
Worin liegen nun die wichtigsten Unterschiede zum sogenannten Nato-Doppelbeschluss von 1979 ?
Es ist kein Beschluss der Nato und nicht einmal eine gemeinsame Entscheidung Deutschlands und der USA.
In Europa werden die neuen Waffen ausschließlich in Deutschland stationiert. Eine Verteilung des Risikos auf mehrere Länder, wie das in den 1980er Jahren der Fall war, findet nicht statt.
Es gab keine vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion darüber. Viele der hier Anwesenden werden sich noch an die Auseinandersetzungen über die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles erinnern, die zu den größten Demonstrationen führten, die dieses Land jemals gesehen hatte.
Damals wurde gleichzeitig die Aufnahme von Verhandlungen über die Begrenzung atomar bestückter Mittelstreckenraketen beschlossen, darum hieß es Nato-Doppelbeschluss. Diese Verhandlungen führten dann zum INF-Vertrag, dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme. 1987 wurde er zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen. Darin wurde die Vernichtung sämtlicher bodengestützter Atomraketen mittlerer Reichweite vereinbart. Im Ergebnis wurden ca. 3000 dieser Raketen vernichtet.
Heute ist von Verhandlungen keine Rede. Oberst a.D. Wolfgang Richter schreibt dazu: „Es gibt kein Angebot an Moskau, das erläutert, unter welchen Bedingungen die Stationierungsentscheidung revidiert werden könnte. Selbst die Möglichkeit eines Dialogs wird nicht erwogen.“
Oberst a.D. Wolfgang Richter hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung eine sehr fundierte Studie zur Stationierung von US Mittelstreckenraketen in Deutschland verfasst. Es gibt auch eine sehr empfehlenswerte Broschüre der Partei Die Linke dazu. Titel: Frieden schaffen mit Angriffswaffen ? Beides kann man sich aus dem Internet als pdf-Dateien herunterladen. Der ehemaliger Regierungssprecher und Staatssekretär in NRW, Wolfgang Lieb, hat im Online Magazin Telepolis einen lesenswerten zweiteiligen Artikel mit den wichtigsten Punkten veröffentlicht. Auf diese Quellen beziehe ich mich hauptsächlich.
Oberst a. D. Wolfgang Richter arbeitet als Experte für Nato-Russland-Beziehungen, Rüstungskontrolle und Fragen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik. Er hat zu diesen Fragen auch schon in seiner Zeit bei der Bundeswehr und bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) geforscht.
Diese Hinweise scheinen mir wichtig, um klarzustellen, dass dieser Mann ein echter Experte in diesen Fragen ist und keiner dieser Kaffeesatzanalysten, die uns dauernd im Fernsehen präsentiert werden. Motto: Ich sehe da in 4 Jahren die Russen kommen.
Wie bzw. womit wird die Stationierung der neuen Raketen begründet ?
Aus Zeitgründen gehe ich nur auf eine regierungsamtliche Erklärung ein. Es gibt eine Reihe anderer Begründungen, die sich meist leicht widerlegen lassen.
Auf seiner Sommerpressekonferenz am 24. Juli 2024 erklärte Bundeskanzler Scholz zur Stationierung der neuen US-Mittelstreckenraketen in Deutschland:
Die Entscheidung diene dazu, dass Deutschland und die NATO-Staaten nicht angegriffen werden und kein Krieg stattfindet. „Wir brauchen auch Abschreckungsmöglichkeiten über das, was wir an Marschflugkörpern zum Beispiel heute schon haben und zwar auch mit konventionellen, langreichenden Wirkmitteln.“
Der Grund sei, dass sich Russland massiv über alle Rüstungskontrollvereinbarungen der letzten Jahrzehnte hinweggesetzt habe, erläuterte Scholz. „Wir alle wünschen uns, dass wir mal wieder in einer Welt leben, in der Rüstungskontrolle eine große Bedeutung hat.“ Nachzulesen auf der offiziellen Internetseite der Bundesregierung.
Wirkmittel ist im militärischen Bereich ein gebräuchlicher Euphemismus für tödliche Waffen.
Bundeskanzler Scholz beschreibt hier das, was von ihm, Verteidigungsminister Pistorius und anderen immer wieder als Fähigkeitslücke bezeichnet wird.
Zu der Erklärung von Scholz möchte ich zwei Anmerkungen machen und auf zwei Rückfragen eingehen:
Scholz bringt hier die Nato ins Spiel, die zu dieser Entscheidung gar nicht befragt wurde.
Ein Bundeskanzler sollte sich Rüstungskontrolle nicht nur wünschen. Von wem denn ? Vom Osterhasen ? Er hätte eine entsprechende Politik machen müssen. Das ist bzw. war in Kürze wohl sein Job. Von diplomatischen Initiativen war bei der noch amtierenden Regierung allerdings wenig positives zu bemerken. So ging im Ukrainekrieg keine einzige Friedensinitiative von Deutschland oder der EU aus, sondern von China, Südafrika, Brasilien und Donald Trump. Vom Verhalten zum Gazakrieg ganz zu schweigen.
1. Frage: Besteht tatsächlich eine solche Fähigkeitslücke ?
Oberst a.D. Richter hält die behauptete Fähigkeitslücke nicht für gegeben. Beide Seiten verfügen über ein breites Spektrum an land-, luft- und seegestützten Waffensystemen. Generell seien die Luft- und Seestreitkräfte der Nato denen Russlands qualitativ und quantitativ überlegen. Die Annahme, dass letztendlich eine Fähigkeitslücke entsteht, weil die Nato in Europa russische Ziele nur mit luft- und seegestützten Marschflugkörpern und nicht auch mit landgestützten Systemen unter Bedrohung halten kann, überzeugt nicht.
2. Frage: Hat Russland sich massiv über Rüstungskontroll-vereinbarungen hinweggesetzt ?
Der INF-Vertrag, von dem bereits die Rede war, wurde am 2. April 2019 von US-Präsident Trump gekündigt. Es gab vorher gegenseitige Vorwürfe der USA und Russlands den Vertrag verletzt zu haben. Wolfgang Lieb merkt im 2.Teil seines Artikels dazu an: „Wenn es Differenzen in der Wahrnehmung und der Interpretation von vertraglich geregelten Sachverhalten gibt, versuchen Vertragspartner üblicherweise Streitfragen in Verhandlungen zu klären. So verlangen es auch die Verträge.“
Laut Spiegel vom 20. Januar 2019 warfen deutsche und amerikanische Rüstungskontrollexperten der US-Regierung vor, eine Chance verpasst zu haben, den INF-Vertrag zum Verbot landgestützter Atomwaffen zu retten.
Der ehemals höchste deutsche Militär, General Harald Kujat, bezeichnete das Ende des INF-Vertrages in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 16. Februar 2019 als „Bankrotterklärung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.“
Die Kündigung des INF-Vertrages war allerdings eine Voraussetzung, um die neuen US-Waffensysteme in Deutschland stationieren zu können.
Auch andere Abrüstungsvereinbarungen wurden von den USA gekündigtg Z.B. der Open-Sky-Vertrag.und der ABM-Vertrag, der Vertrag zur Begrenzung Antiballistischer Raketenabwehrsysteme.
Die Dinge liegen also offenbar nicht ganz so, wie Herr Scholz, und nicht nur er, den Sachverhalt darstellt.
Wolfgang Lieb berichtet in seinem Artikel von zwei Stimmen aus dem Verteidigungsministerium, die ein etwas anderes Licht auf den Sachverhalt werfen:
In einem Erklär-Video sagt der wichtigste politische Berater im Verteidigungsministerium, Jasper Wierk: „Es sollen mit der Stationierung der US-Mittelstreckenraketen Raketenabschussrampen in der Tiefe Russlands zerstört werden können, bevor Putin selbst seine Raketen startet.“
Nebenbei angemerkt: Mich beeindruckt es immer wieder, was der Universalbösewicht Putin so alles kann und macht.
Der Brigadegeneral Maik Keller wird von Lieb mit den Worten zitiert: „Das kann man sich so vorstellen, wenn ein Bogenschütze auf einen schießt, kann man versuchen, den Pfeil zu treffen und ich kann versuchen, den Bogenschützen auszuschalten, bevor er uns bedroht, das heißt einem Angriff entsprechend zu begegnen, bevor auf uns geschossen wird, um es einmal ganz platt zu sagen.“
Lieb bezeichnet dies als gefährliche Erstschlag-Logik.
Oberst a.D. Richter stellt fest: Die neuen Waffen eignen sich für einen Überraschungsangriff.
Was ist besonders an den neuen Waffen ?
Die für Deutschland vorgesehenen landgestützten US-Tomahawk Marschflugkörper können wegen ihrer bodennahen Flugweise, wenn überhaupt, erst sehr spät vom Radar erfasst werden. Sie schleichen sich an.
Zu den neuen Waffen gehört auch eine Hyperschallrakete namens Dark Eagle. Eine Hyperschallrakete erreicht mindestens fünffache Schallgeschwindigkeit.
Eine Besonderheit aller Hyperschallraketen ist, dass sich ihre Flugbahn nicht vorausberechnen lässt. Bei ballistischen Raketen liegt die Flugbahn nach dem Abschuss fest. Raketenabwehrsysteme können sie vorausberechnen und so die Rakete abschießen. Hyperschallraketen ändern ihre Flugbahn und setzen lenkbare Gleitkörper mit Sprengköpfen ab. Sie sind daher kaum abzuwehren.
Sowohl der Stationierungskritiker Jochen Luhmann vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie, als auch die Befürworter Jonas Schneider und Torben Arnold vom SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) geben für Dark Eagle in ihren Veröffentlichungen eine Geschwindigkeit von Mach 17, also 17-fache Schallgeschwindigkeit - an. Das sind 20 991 km pro Stunde oder 5 831 Meter also fast 6 Kilometer in einer Sekunde.
Statt in 80 Tagen um die Welt bräuchte Dark Eagle dafür nur 2 Stunden.
Die Strecke von dem voraussichtlichen Stationierungsort Grafenwöhr bis Moskau würde damit in weniger als 6 Minuten zurückgelegt. Von der ukrainisch-russischen Grenze wären es nur noch 2 ½ Minuten. Das ist vielleicht auch ein Hinweis darauf, warum Russland gereizt auf eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine reagiert.
Mit einer Reichweite von ca. 3000 km kann sie Ziele bis weit hinter Moskau erreichen.
Weil die neuen Waffen sich für Überraschungsangriffe eignen, sieht Richter als Folge einen instabilen, steten Alarmzustand in Moskau, der zu Fehlalarmen und präventiven Kurzschlussreaktionen führen kann. Wörtlich führt er aus: „Moskau wird die neue Bedrohung aus Deutschland nicht als defensive Abschreckung auffassen, sondern als Aufbau der Fähigkeit zum regionalen Überraschungsangriff gegen strategische Ziele und somit als (weitere) Unterminierung des strategischen Gleichgewichts.“
„Mit der direkten Bedrohung strategischer Ziele in Russland von deutschem Boden aus wird nun in einem Konfliktfall Deutschland und nicht die USA zu einem zentralen und vorrangigen Ziel für russische Raketenangriffe.“
An anderer Stelle stellte er dazu fest „ Die Russen glauben (ja) , dass sie in einer „Kuba-Situation“ sind, in der das strategische Gleichgewicht durch die regionale und grenznahe Stationierung solcher Waffen unterminiert wird, da sie ebenfalls strategische Ziele treffen können.“
Zur Erinnerung: Während der Kuba-Krise von 1962 stand die Welt mehrere Wochen am Rande eines Atomkrieges. Man kann sich darüber z.B. auf Wikipedia informieren.
Die gängige Erzählung über die Kubakrise geht in der Ultrakurzfassung ungefähr so: Die Sowjets wollten Atomraketen auf Kuba – also direkt vor der Haustür der USA – stationieren. Das konnten die Amis natürlich nicht zulassen. Präsident John F. Kennedy hat den Sowjets die Faust gezeigt. Die haben den Schwanz eingezogen und ihre Raketen wieder mit nach Hause genommen.
Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Die Amis hatten nämlich vorher Mittelstreckenraketen in Italien und der Türkei stationiert. Die Sowjetunion reagierte darauf.
Die Kuba-Krise wurde letztlich durch Verhandlungen auf höchster Ebene zwischen dem damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy und dem damaligen Generalsekretär der KPDSU Nikita Chruschtschow beigelegt. Am Ende wurden alle Raketen beider Seiten abgezogen.
Die Beilegung der Kuba-Krise führte auch zu ersten Verhandlungen über Rüstungskontrollen und später zu Abrüstungsmaßnahmen.
Verantwortlichen Politikern war damals klar, dass nicht mehr, sondern weniger Raketen mehr Sicherheit bringen.
Wenn wir nicht durch russische Raketen bedroht werden wollen – was wohl für uns alle zutrifft – dann wird das nur gehen, wenn auch die Bedrohung Russlands durch westliche Raketen beendet wird, so wie es mit dem INF-Vertrag und in der Kuba-Krise gelungen war. Das kann aber nur durch Verhandlungen, die auf Augenhöhe und unter Beachtung der Interessen aller Beteiligten erfolgen, gelingen.
Darum ist und bleibt die Forderung nach Verhandlungen, mit der die Aktivisten unserer Initiative Mut zum Frieden hier jeden Freitag vertreten sind, für alle Konflikte aktuell und notwendig. Das sind für mich die wahren Helden des Alltags, die eine eigene NZ-Reihe verdient hätten. Dank euch !!
Diplomatische Initiativen zu ergreifen, ist ein Arbeitsauftrag an unsere Politiker: Macht endlich das, wozu euch das Grundgesetz verpflichtet, nämlich dem Frieden der Welt zu dienen, wie es in der Präambel heißt. Um das laut und deutlich öffentlich zu machen sind wir hier, denn: Wir sind schließlich das Volk !!!
Ein chinesisches Sprichwort sagt: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Ein erster Schritt in Richtung Friedenssicherung wäre der Verzicht auf eine weitere Eskalation durch die in ihrer Rückwirkung für uns sehr gefährliche Stationierung neuer US-Raketen in Deutschland.
Ich habe nun sehr viel, zu dem Thema gesagt, aber auch vieles aus Zeitgründen weglassen müssen. Das Thema wird uns aber leider noch eine Weile erhalten bleiben.
Bevor ich hier abtrete möchte ich noch einen Blick auf diesen Ort werfen, an dem wir uns befinden. Ihr schaut auf die Große Kirche. Ich schaue auf das ehemalige Karstadt-Gebäude. In meiner Kindheit war die Kirche noch eine Ruine. Das spätere Karstadt-Gelände war ein Trümmerfeld. Das war ein Ergebnis der Bombennacht vom 18.September 1944 in Bremerhaven. In dieser Nacht wurde das Stadtzentrum zu 97% zerstört.
In Anbetracht dessen möchte ich zum Abschluss noch einen Ausschnitt aus Bertold Brechts Rede für den Frieden von 1952 vorlesen:
Lasst uns die Warnungen erneuern,
und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!
Denn der Menschheit drohen Kriege,
gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind,
und sie werden kommen ohne jeden Zweifel,
wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten,
nicht die Hände zerschlagen werden.
Packen wir´s an !
Ich danke euch für eure Geduld.