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Krieg in Tschetschenien - Inhalt


vom:
13.04.1999


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Krieg in Tschetschenien:

  Hintergrund/Informationen

ORGANISATION FÜR SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA (OSZE), - Hilfsgruppe für Tschetschenien

Tschetschenien, Frühling 1998: die Bevölkerung ist erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt

OSZE

1. Hintergrund
Schon seit 1957 und bis zur offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 war Tschetschenien-lnguschetien eine der am wenigsten entwickelten und ärmsten Regionen der früheren Sowjetunion. Nach einer Reihe von wirtschaftlichen Indikatoren, die von den sowjetischen Behörden veröffentlicht wurden, war sie regelmäßig auf dem letzten oder zweitletzten Platz. Die Säuglingssterblichkeit war außergewöhnlich hoch, die durchschnittliche Lebenserwartung niedrig, Analphabetismus sowie Arbeitslosigkeit waren hoch im Vergleich mit dem Rest des Landes. Die Infrastruktur war schlecht entwickelt, und das Gesundheitssystem war schon lange vor dem Untergang der Sowjetunion heruntergekommen und funktionsuntüchtig. Der dann folgende wirtschaftliche Zusammenbruch, zusammen mit einem drei Jahre dauernden korrupten und gesetzlosen Regime, brachte Tschetschenien den wirtschaftlichen Ruin. Der Krieg mit Rußland von 1994 bis 1 996 resultierte in einer fast vollkommenen physischen Zerstörung der Republik, und große Teile der Bevölkerung konnten ihre elementarsten Bedürfnisse nach ausreichender Nahrung, sauberem Wasser und den nötigsten Medikamenten nicht mehr decken.

2. Gegenwärtige Situation
Tschetschenien ist in einem bösen Kreislauf gefangen, in dem immer mehr Menschen krank werden und immer weniger Krankenschwestern und Medikamente zur Verfügung stehen. Die wirtschaftlichen Aktivitäten sind nahe Null: die,weiße Wirtschaft ist nahezu nicht existent, was heißt, daß sehr wenig Geld für den Wiederaufbau des Landes in die tschetschenischen Staatskassen fließt. Die Tschetschenen behaupten, daß die Russen keine Kriegsentschädigungen zahlen und damit eine der wichtigsten Bedingungen des Khasav Yurt Vertrages nicht erfüllen. Es gibt im Lande keine ständige Präsenz internationaler humanitärer Organisationen, es gibt zur Zeit keinen Aufbau oder Wiederaufbau, und es gibt keine ausländischen Investitionen im Lande. Die Schattenwirtschaft blüht, und die Großzahl der Bevölkerung konnte bisher durch den Verkauf ihres persönlichen Hab und Guts einen akzeptablen Lebensstandard halten. Allerdings schafft eine negative Wirtschaft kein neues Geld, und die Geldspirale hat die Tendenz, sich nach oben hochzuschrauben, wodurch, wie im Falle von Tschetschenien, immer mehr Leute mit leeren Händen dastehen.

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3. Sozialversicherung / Sozialleistungen / Ausbildung / Infrastruktur
Diese Stagnation, dieser wirtschaftliche Zerfall hat katastrophale Auswirkungen auf die Qualität und Verfügbarkeit der elementaren Sozialleistungen und auf die Infrastruktur.

a) Öffentliches Gesundheitswesen
Das öffentliche Gesundheitswesen ist in seiner Funktion vollkommen gestört. Die Infrastruktur ist nahezu zerstört, Medikamente stehen nicht zur Verfügung, elementare lmpfprogramme mußten wegen fehlender Mittel eingestellt werden, und medizinisches Personal zieht sich aus dem Beruf zurück, weil keine Gehälter mehr bezahlt werden. Das, was noch funktioniert, ist so korrupt, daß nur die Reichen sich eine richtige medizinische Behandlung leisten können.

b) Sozialhilfe
Rußland sollte den Rentnern in Tschetschenien Renten zahlen. Nach Informationen von den Hilfsgruppen hat die russische Regierung den tschetschenischen Rentnern in den letzten drei Monaten ungefähr 7$ gezahlt. Es ist eine Untertreibung, zu sagen, daß dies genug sei, um die minimalen Bedürfnisse zu decken. Dies ist die einzige Sozialhilfe, die es zur Zeit in Tschetschenien gibt.

c) Schulwesen
Die Grundausbildung funktioniert irgendwie, obwohl das Fehlen von elementarem Schulmaterial, wie z.B. Bücher, die Qualität des Lernens erheblich beeinflußt. Was weiterführende Schulen angeht, so existieren diese. Die Universität funktioniert noch, aber zusätzlich zu dem fehlenden Material hat sie noch das Problem, nicht genügend qualifizierte Studenten zu bekommen. Die Jugendlichen können sich keine Weiterbildung leisten und müssen zum Familieneinkommen beitragen.

d) lnfrastruktur / Dienstleistungen
Die Infrastruktur, die im Krieg nicht zerstört wurde, verfällt wegen fehlender Instandhaltung. Am schwerwiegendsten ist der totale Zusammenbruch des Wasser- und Abwassersystems in der Hauptstadt Grozny. Zusammen mit ungenügender Müllentsorgung und daher einem zunehmenden Ratten- und Tollwutproblem führt dies zu einem ernsthaften Risiko für große Teile der Bevölkerung. Auch der Zustand der Hauptstraßen wird immer schlechter, und dies schafft Probleme für den Warentransport nach Tchechenien.

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4. Anzeichen für erhöhte Gesundheitsrisiken/das Entstehen einer ernsten Lage
Es gibt mehrere sichtbare Anzeichen dafür, daß der Sommer 1998 ein Wendepunkt sein könnte, und zwar insofern, als das, was vorher ein steiler, aber beständiger Abstieg in der allgemeinen Gesundheitssituation der tschetschenischen Bevölkerung war, sich jetzt dramatisch ändern könnte:

a) Die Anzahl der Frühgeburten hat sich seit Kriegsende nicht verändert. Es sind immer noch ca. 40%, ein Anzeichen dafür, daß die Mütter noch unter dem gleichen Stress leiden wie während des Krieges

b) Die Sterblichkeitsrate für Neugeborene ist 1 59/1000 für Säuglinge unter einem Jahr. Die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen bis zu einem Monat ist 26,7/1000.11 % der Säuglinge werden mit Defekten geboren, die Anzahl steigt. Zahlen Mitte 1997. Die Müttersterblichkeit ist 84/10.000 (Mitte 1997). Diese Zahlen stammen

c) vom obersten Kinderarzt, der außerdem berichtet, daß 80% der Mütter, die in Krankenhäusern/Kliniken gebären, an pathologischen Zuständen leiden.

d) 30.000 Menschen sind als tuberkulosekrank registriert - die Anzahl steigt. Dies deutet auf Fehlernährung/Unterernährung, überfüllte Unterkünfte ohne ausreichende Heizung hin. Es ist anzunehmen, daß es, zusätzlich zu den registrierten 30.000 noch eine große Anzahl von Menschen nicht registriert bzw. diagnostiziert ist.

e) Eine Zunahme der ernsten Durchfallerkrankungen, Zunahme der Menschen, die an Darmparasiten und Hautkrankheiten leiden. Dies ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß die Hygiene/der Zugriff zu sauberem Wasser abnimmt, und daß die Möglichkeit des Ausbruchs von wasserbedingten Krankheiten/Epidemien mit dem kommenden heißen Sommer erheblich zunehmen wird. Zusammen mit den wachsenden Ratten-/Tollwutproblemen aufgrund ungenügender Müllentsorgung zeichnet sich damit ein düsteres Bild für den Sommer 1998 ab.

5. Anfälligkeit: die tschetschenische Bevölkerung in Gefahr
Das schlimmste mögliche Szenarium für den kommenden Sommer ist der Ausbruch von ansteckenden Krankheiten, vor allem Cholera, Diphtherie und Typhus. Die Wahrscheinlichkeit, daß solche Krankheiten ausbrechen, ist sehr hoch, wenn man weiß, daß das meiste Trinkwasser durch lecke Abwasserrohre verseucht ist, und daß die Leute normalerweise ihr Trinkwasser nicht abkochen. Wenn solche Krankheiten ausbrechen, kann man davon ausgehen, daß die tschetschenische Bevölkerung nicht sehr resistent ist, und daß Epidemien ausbrechen werden. Diese Annahme basiert auf den folgenden Anfälligkeitsfaktoren: ein durch den Krieg mental ausgehöhltes Volk, große Teile der Bevölkerung, die an psychosomatischen Krankheiten leiden, große Teile der Bevölkerung, die unterernährt sind, große Teile der Bevölkerung, die körperbehindert sind (hier muß man auf den akuten Bedarf an Prothesen hinweisen, große Teile der Bevölkerung sind Vertriebene, große Teile der Bevölkerung leben in überfüllten und/oder unzulänglichen Behausungen, das soziale Netz löst sich auf, große Teile der Bevölkerung haben Tuberkulose und/oder andere Krankheiten. Weiterhin ist anzunehmen, daß große Teile der Bevölkerung zwei oder mehreren dieser sehr schwerwiegenden Anfälligkeitsfaktoren ausgesetzt sind. In dieser Hinsicht ist es schwer, zwischen den anfälligsten Gruppen und den weniger anfälligen zu unterscheiden, aber die Hilfsgruppe schätzt, daß Kinder, alte Menschen und Frauen insgesamt am anfälligsten sind.

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Wenn wir einräumen, daß das Potential für den Ausbruch von Epidemien vorhanden ist und wissen, daß das Gesundheitswesen zusammengebrochen ist, es keine lmpfprogramme gibt, Medikamente rar sind und nur denen zugänglich, die sie bezahlen können, und daß humanitäre Hilfe nicht anwesend ist, befürchten wir, daß eine äußerst ernste Situation in Tschetschenien bevorsteht.

6. Empfehlungen der Hilfsgruppe
Wir bitten die humanitären Organisationen, nach Tschetschenien zurückzukehren, sobald die Sicherheitslage sich verbessert. Wir bitten sie, Pläne und Vorräte für den Ernstfall vorzubereiten, um für das oben Beschriebene vörbereitet zu sein. Die Gruppe bestätigt, daß die Sicherheitslage noch eine Zeitlang ungewiß sein könnte, ist jedoch der Meinung, daß es mit entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen bald wieder möglich sein wird, in der Republik zu arbeiten, ohne das Personal einem unnötigen Risiko auszusetzen. Wir würden zur Verfügung stehen, jede Organisation zu beraten, die plant, die Arbeit in Tschetschenien zu beginnen oder wieder aufzunehmen.

Die Hilfsgruppe empfiehlt die folgenden Aktivitäten als Prioritäten für humanitäre Organisationen:

    -Reparatur des Wasser- und Abwassersystems, mit Priorität in Grozny
    -öffentliche Gesundheitserziehung

    -Wiederaufnahme der elementaren Impfprogramme
    -Gesundheitserziehung auf Gemeindebasis in Sammelzentren und abgelegenen Regionen/Dörfern
    -Wiedereinrichtung von Polykliniken/ambulanten Stationen
    -die Lieferung von Medikamenten gegen Darm- und Haut-Parasiten

    -Antituberkulose-Arbeit mit dem Schwergewicht auf der Ausbildung von medizinischem Personal (WHO-Normen/DOT), Medikamenten und öffentlicher Gesundheitserziehung
    -Lieferung von Ersatzteilen/technische Beratung für die Landwirtschaft

    -Räumung von Minen
    -einkommenerzeugende Projekte/Projekte für Mikro-Darlehen
7. Zweck des Berichtes
Mit diesem Bericht möchten wir die internationale Gemeinschaft, die internationalen Organisationen und Nicht-Regierungsorganisationen darauf aufmerksam machen, daß sich in sehr naher Zukunft eine humanitäre Katastrophe in Tschetschenien ereignen könnte. Soziale und wirtschaftliche Anzeichen deuten darauf hin, daß die tschetschenische Gesellschaft sich auf dem endgültigen Countdown zu diesem Stadium befindet. Die Hilfsgruppe befürchtet, daß eine ständige Verschlechterung des Lebensstandards, ständiger Nahrungsmangel, mögliche Ausbrüche von Epidemien und die Hoffnungslosigkeit der Menschen ganz allgemein im Extremfall zu weiteren Unruhen und dem Zustand der Gesetzlosigkeit führen könnten. Wir schließen diesen Bericht mit einem Aufruf an die internationale Gemeinschaft, damit zu beginnen, Geld nach Tschetschenien zu lenken, das an die Wiederherstellung der Infrastruktur gebunden sein soll. Wir werden auch ausländische Firmen ermutigen, in Tschetschenien zu investieren. Die wichtigste Maßnahme ist die, daß die Menschen Arbeit und eine wirtschaftliche Grundlage bekommen, um ein normales Leben zu führen.

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Unautorisierte Übersetung aus dem englischen. Einzig verbindlich ist das englische Orginal. Übers. 80/3 pu, 07.07.98


Internet: http://www.osce.or.at
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