Naqibullah Shorish (links).
Naqibullah Shorish (links).
Foto: http://www.aixpaix.de/afghanistan/milizen.html

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Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) wird hier verstanden als das Bemühen, den gewaltsamen Konflikt durch Verhandlungen beizulegen, Gewalt ohne Waffeneinsatz einzudämmen und die Ursachen und Folgen des Krieges friedlich zu bearbeiten.

In diesem Kapitel geht es um Verhandlungen der bzw. mit den Konfliktparteien, ZKB und zivilen Widerstand im Land, internationale Projekte der Konfliktbearbeitung, das Thema des Umgangs mit der Vergangenheit (dealing with the past) und diverse Vorschläge und Pläne, wie die Konflikte bearbeitet werden könnten.

 

Verhandlungen der /mit den Konfliktparteien

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Auch wenn nach den ersten Wahlen in Afghanistan formal die afghanische Regierung mit am Tisch saß, wenn über die weitere Entwicklung in Afghanistan beraten wurde, geben die Quellen wenig Material dafür her, dass sie wirklich Einfluss ausgeübt hat. Die Entscheidungen – bis hin zum Abzug im August 2021 – fällten in erster Linie die USA, in zweiter Linie die internationalen Konferenzen der Alliierten, an denen die afghanische Regierung zwar beteiligt war, aber anscheinend doch immer gezwungen wurde, den internationalen Mächten zuzustimmen. Die einzigen wirklichen Verhandlungen auf Augenhöhe haben, so ironisch das klingen mag, zwischen den USA und den Taliban stattgefunden, besonders in den Gesprächen in Doha, in denen dann der Abzug vereinbart wurde unter der Bedingung, dass die Taliban in Zukunft internationalen Terroristen keinen sicheren Hafen mehr bieten würden. Intraafghanische Verhandlungen sollten dem Abkommen von Doha vom Februar 2020 folgen, begannen auch am 12. September, aber führten bekanntlich nicht dazu, dass es ein power sharing zwischen der Regierung und den Taliban gab.

Auch vorher gab es gelegentlich Versuche solcher Verhandlungen, einige auch angestoßen aus Afghanistan selbst:

Otmar Steinbicker beschreibt, wie es nach einem Beschluss der afghanischen Friedens-Jirga von 2008 (s. unten) 2009 auf Initiative von Vermittlern aus der afghanischen und deutschen Friedensbewegung zu einem Waffenstillstandsangebot der Taliban für die Region Kundus und in Zusammenhang mit Gesprächen auf hoher NATO-Ebene zu einem zeitweisen einseitigen Waffenstillstand der Taliban in dieser Region kam. Diese Bemühungen scheiterten leider an fehlender Bereitschaft der NATO und auch der Bundesregierung. Der Verhandlungsführer der Taliban, Qari Bashir, wurde von der Bundeswehr auf die NATO-Fahndungsliste gesetzt und Anfang November 2009 bei einer Aktion von Spezialkräften der US-Armee und der afghanischen Armee getötet.

 

Zivile Konfliktbearbeitung und gewaltfreier Widerstand im Land

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Bekannt ist die Institution der Ratsversammlung, der Jirga. Auch die Besatzungsmächte bedienten sich dieser Institution zur Legitimation der Übergangsregierung unter Hamid Karzai 2002. Doch es gab auch Jirgen, die aus afghanischer Initiative heraus entstanden. Otmar Steinbicker schrieb dazu:

„Neben den traditionellen Konflikten gibt es auch ebenso traditionelle Formen ziviler Konfliktlösungen. Das waren und sind vor allem Versammlungen (Jirgen) von den Dorfältesten bis zu den Stammesführern der großen afghanischen Stämme. Die Afghanen haben in Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen gelernt, Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisslösungen zu beenden. Verhandlungen und Kompromisslösungen kamen und kommen nicht nur bei Streitigkeiten zwischen Stämmen und Nationalitäten zur Anwendung, sondern auch beim Streit zwischen Familien und Individuen – auch in Ermangelung eines allgemein akzeptierten Justizsystems, das auf römischem Recht basiert. Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisse zu lösen gehört also zum unmittelbaren Kern der afghanischen Kultur. Jeder Afghane kennt das und weiß damit umzugehen, gleich ob er zur Nordallianz oder zu den Taliban, zu dieser oder jener Nationalität, zu diesem oder jenem Stamm gehört. …
An diese afghanische Tradition der Konfliktlösung knüpfte sehr bewusst die am 8./9. Mai 2008 von mehr als 3.000 vorwiegend paschtunischen Stammesführern, religiösen Würdenträgern, Abgeordneten und Intellektuellen gegründete Nationale Friedens-Jirga Afghanistans an. Sie darf trotz Namensgleichheit nicht verwechselt werden mit der von Präsident Karsai einberufenen »Friedens-Jirga«.“

Das neu geschaffene Justizsystem in Afghanistan galt schnell als korrupt und wenig vertrauenswürdig. Viele Menschen haben sich deshalb eher einem Parallelsystem zugewandt, entweder Richtern, die von den Taliban eingesetzt wurden (und keine Bestechungsgelder nahmen, um ein Urteil zu fällen) oder anderen Autoritätspersonen (Älteste, Shuras etc.)

Ein interessantes Beispiel gewaltlosen Widerstands gegen Krieg wurde aus der Zeit der ersten Talibanherrschaft in den 1990er Jahren dokumentiert. Es ging dort um das Volk („Stamm“) der Jaghori, einer Gruppe der schiitischen Hazara, die eine Strategie entwickelten, sich gegen die Taliban zur Wehr zu setzen, ohne zu den Waffen zu greifen. Es gelang ihnen, ihre Lebensweise (einschließlich von Schulen für alle) zu bewahren.
 

Internationale Projekte der Konfliktbearbeitung

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Viele internationale NGOs sind in der Besatzungszeit nach Afghanistan gekommen, um dort auf der Graswurzelebene Projekte durchzuführen, die der Konfliktbearbeitung, Versöhnung oder der Stärkung bestimmter Gruppen (besonders Mädchen/Frauen) dienen sollten. Auch der deutsche Zivile Friedensdienst war beteiligt, allerdings nur mit seinem einzigen staatlichen Träger, dem DED (später GIZ). 2011 schrieb Jannika Röminger in ihrer Magisterarbeit zum ZFD in Afghanistan:

Hauptziele des Programms sind „der Aufbau [sowie] die Stärkung einer Friedenskultur“, zudem sollen Ansätze initiiert werden, „die den Versöhnungsprozess in der Post-Konflikt-Situation in Afghanistan fördern“. Um diese Ziele zu erreichen, wurden folgende drei Komponenten für das ZFD-Programm festgelegt: Bildungs- und Versöhnungsarbeit (zum Teil auch über Medien), Stärkung lokaler Konfliktbearbeitungsstrukturen sowie Konfliktberatung/Do No Harm (DNH) für die Entwicklungszusammenarbeit. In der Praxis impliziert dies ein weites Aufgabenspektrum. Zu den Arbeitsansätzen gehören unter anderem: inhaltliche wie konzeptionelle Beratung und Unterstützung von Organisationen, Mitarbeiterschulung, Stärkung lokaler Friedenspotentiale, Förderung von sozialen und kulturellen Veranstaltungen in Gemeinden, die zum Abbau von Vorurteilen gegenüber anderen Ethnien bzw. Religionen beitragen oder auch Verankerung von Menschenrechten und Einführung rechtsstaatlicher Strukturen. Zur Zielgruppe der ZFD-Maßnahmen gehören vor allem zivilgesellschaftliche Akteure der Graswurzelebene.
Staatliche wie private Bildungs- und Meinungsträger werden daneben aber auch adressiert. Regionaler Schwerpunkt liegt auf der Hauptstadt Kabul und dem Umland, sowie auf den Gebieten im Norden des Landes. Einige Projekte finden zudem in Mazar-e-Sharif statt. Einzelne Maßnahmen werden auch in den Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan durchgeführt.“ (S. 24)

Die Arbeit des ZFD setzte sich bis mindestens 2020 fort; ein Datum für das Ende des ZFDs der GIZ in Afghanistan ließ sich nicht eruieren; generell war die GIZ aber bis zum Abzug der internationalen Truppen 2021 im Land präsent.

 

Umgang mit der Vergangenheit – „Dealing with the past“

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Die "Joinet/Orentlicher-Prinzipien" der Vereinten Nationen (1997), die sich mit dem Umgang mit einer gewalttätigen Vergangenheit befassen, benennen die folgenden vier Rechte:

  • Recht auf Wahrheit, u.a.: Feststellen und Dokumentation dessen, was geschehen ist. Dazu gehört das Sammeln von Zeugenaussagen ebenso wie forensische Untersuchungen
  • Recht auf Wiedergutmachung, u.a.: Entschädigungszahlungen; medizinische Hilfe und Behandlung von Traumata; traditionelle Konfliktbearbeitungsmechanismen, die den Täter zwingen, das Opfer zu unterstützen
  • Recht auf Gerechtigkeit, u.a.: Öffentliche Anerkennung des Unrechts und Bitten um Entschuldigung; Strafverfolgung; Denkmäler; Gedenktage; Wahrheitskommissionen
  • Recht auf Nichtwiederholung, u.a.: Reform der Strukturen und Institutionen (Gerichtswesen, Polizei, Gefängnisse, Gesetze)

Zu dem Feld des Umgangs mit der Vergangenheit, oftmals mit dem englischen Begriff „dealing with the past“ bezeichnet, gehören dementsprechend viele Maßnahmen, die alle das letztliche Ziel haben, einen Friedensprozess zu ermöglichen und zu stärken.

Davon ist Afghanistan meilenweit entfernt. Eine Aufarbeitung des Krieges oder der Kriege in Afghanistan hat noch nicht begonnen, genauso wenig wie eine ehrliche und systematische Aufarbeitung des Krieges von Seiten der Alliierten. Auch die Öffentlichmachung von Kriegsverbrechen ändert an dem Bild nichts grundsätzlich. In Deutschland wurde jeder Versuch, mutmaßlichen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen durch die Bundeswehr nachzugehen, ein Riegel vorgeschoben. Rechtsanwalt Karim Popal, der die Kundus-Opfer in zahllosen Prozessen vertreten hat und zunächst in der Bundesrepublik Deutschland, danach vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagte, gelang es gerade mal, zu erreichen, dass die Bundesregierung an 90 Opferfamilien jeweils 5000 Dollar zahlte - als freiwillige Kompensation ohne Schuldeingeständnis.

Etwas mehr zu dem Bemühen um Aufarbeitung im Kapitel Evaluation.

 

Vorschläge und Pläne

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Von Seiten der Kritiker*innen aus der Friedensbewegung wurde immer wieder eingefordert, den Krieg zu beenden und die Gegensätze und Probleme, auch gerade den Konflikt mit den Taliban, auf gewaltfreiem Wege zu bearbeiten. Ein Beispiel ist das von Andreas Buro verfasste Monitoring-Dossier von 2008.

Eine Initiative, die in der deutschen Friedensbewegung bekannt wurde, kam von Naqibullah Shorish, dem Führer der Kharoti, einer der größten paschtunischen Gruppen („Stämme“) Afghanistans. Sein in der deutschen Friedensbewegung als „Shorish-Friedensplan“ bekanntgewordener Vorschlag, der auf 2011 datiert, hatte folgende Kernelemente und sah mehrere Phasen vor:

  1. Vertrauensbildende Maßnahmen. Dazu zählen die Anerkennung der UNO-Charta und der UNO-Menschenrechtscharta als Grundlage für die innen- und außenpolitische Zukunft Afghanistans ebenso wie die Bereitschaft zu einem sofortigen und allseitigen Waffenstillstand.
  2. Eine zweite „Petersberg-Konferenz“ unter Vorsitz der UNO, die eine Weichenstellung für eine Übergangsregierung und einen Zeitplan für einen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan festlegt.
    An dieser Konferenz sollen Angehörige der Konfliktparteien, wie z.B. Vertreter der NATO, Mitglieder der Kabuler Regierung und Vertreter des bewaffneten Widerstands sowie einflussreiche afghanische Stammesführer teilnehmen.
  3. Weitere Gespräche und Verhandlungen auf unterschiedlichen Ebenen, innerafghanisch, international und zwischen ISAF und Aufständischen.

Für die innerafghanischen Gespräche wird eine Jirga gebildet, der in der ersten Phase ausschließlich Stammesführer angehören, die alle Nationalitäten und zumindest die wichtigsten Stämme Afghanistans vertreten. Diese Jirga erarbeitet zuerst die Modalitäten für die innerafghanischen Gespräche und Verhandlungen und zieht danach Vertreter der unterschiedlichen Konfliktparteien hinzu.

Auf der internationalen Ebene wird eine internationale Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschikistan u.a.) unter der Obhut der UN vorbereitet.

Viele Beobachter*innen, so z.B. die International Crisis Group, machten zudem Vorschläge, WIE Verhandlungen mit den Taliban erfolgreich gestaltet werden könnten.

Auch nach dem Abzug der Alliierten und der erneuten Machtergreifung der Taliban wurden verschiedene Vorschläge gemacht, wie auf die Taliban eingewirkt werden könne. Manche (selbsternannten oder tatsächlichen) Kenner*innen der Situation hoben Möglichkeiten von Gesprächen mit der Führung der Taliban hervor, oftmals wird hierbei auch die Annahme geäußert, dass es gemäßigtere und radikalere Flügel bei den Taliban gäbe, was ausgenutzt werden könne.

 

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