Ein Laden in Kabul 2005.
Ein Laden in Kabul 2005.
Foto: Sita Magnuson, CC BY-NC-ND 2.0

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Die Situation in Afghanistan zwischen dem Angriff der Alliierten im Oktober 2001 und der erneuten Machtergreifung der Taliban Ende August 2021 war durch verschiedene, auch widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet. Von Demokratisierung bis Gesundheitsvorsorge, vom Bildungssystem bis zu Menschenrechten kann eigentlich immer geschrieben werden: „Ja, es hat Verbesserungen, teilweise auch bedeutsamer Art, gegeben, aber…“

Die folgenden Themen werden in diesem Kapitel angeschnitten:

Staatsaufbau
Zivilgesellschaft in Afghanistan
Ökonomie und Armut
Drogenhandel
Schulen
Medien
Gesundheit

Menschenrechte
Nach dem Abzug

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Staatsaufbau

Hier geht es zu Quellen zum Thema Staatsaufbau.

Nach dem Sturz der Taliban und der ersten Petersberger Konferenz wurde schrittweise ein neues politisches System mit einer neuen Verfassung eingeführt. Dabei spielten zwei sog. Loya Jirgas eine wichtige Rolle. Zu diesen Loya Jirgas (Paschtu für „große Volksversammlung“), die es schon seit Jahrhunderten in Afghanistan gab, wurden traditionell die Führer der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen („Stämme“) eingeladen. (Frauen, die auch schon vor der Zeit der Taliban wenig politische Rechte besaßen, waren außer 1964 und 1977 in der Zeit der Demokratisierung des Landes nicht beteiligt).

In der Petersberger Konferenz Ende 2001 wurde verabredet, eine neue Regierung und deren zunächst übergangsmäßig benannten Präsidenten Karzai durch eine Loya Jirga 2002 legitimieren zu lassen, bis dann 2004 erste Wahlen stattfinden sollten. Die Loya Jirga 2002 wurde in einem komplizierten, an das Wahlsystem der USA erinnernden und wohl auf eine "Demorkatisierung" des Prozesses zielende Prozedur bestimmt: Lokale Ratstreffen (Shura) benannten Delegierte, die dann auf Provinzebene die Delegierten für die Loya Jirga benennen sollten. Außerdem wurden von einer ernannten Wahlkommission weitere Vertreter*innen, u.a. aus der Zivilgesellschaft, bestimmt.

Auch nach 2002 wurden mehrfach solche Großen Volksversammlungen einberufen, so z.B. im Rahmen des Prozesses einer neuen afghanischen Verfassung 2004. 2011 kamen mehr als 2000 Vertreter*innen zusammen (2002 und 2004 waren es nur einige Hundert), um sich mit der Zeit nach dem Ende der offiziellen Besatzung 2014 zu befassen.

Bei den ersten Präsidentschaftswahlen am 9. Oktober 2004 wurde erwartungsgemäß der Übergangspräsident Hamid Karzai bestätigt. Acht Millionen (von geschätzt 32 Millionen) Einwohner*innen, darunter auch 41% Frauen, beteiligten sich.

Mit einem Jahr Verspätung fanden am 28. September 2005 dann auch Parlaments- und Provinzwahlen statt. Knapp 2.800 Kandidat*innen bewarben sich um 249 Sitze, nur 10%  traten für eine Partei an.

Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen am 20. August 2009 wurde Karzai nochmal im Amt bestätigt; Parlamentswahlen gab es am 10. September 2010 und dann erst wieder 2018.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 durfte Karzai wegen der Begrenzung auf zwei Amtsperioden nicht mehr antreten. Zwei Konkurrenten erklären sich zum Sieger: Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah. Nach langer Vermittlung durch die USA wurde Ghani Präsident und Abdullah Regierungschef. Der Streit zwischen den beiden wiederholte sich bei den letzten Präsidentschaftswahlen am 28. September 2019.: Ghani gewann knapp vor Abdullah, der erneut das Wahlergebnis nicht anerkannte und vorübergehend eine Parallelregierung in Nordafghanistan bildete. Erst 2020 kam es zu einer Einigung der beiden.

2019 ging es – mit 3.200 Delegierten - um das Thema der Friedensverhandlungen mit den Taliban.

Afghanistan wurde als zentral von einem Präsidenten regierter Staat und einer Nationalversammlung als Parlament konzipiert. Die ersten Präsidentschaftswahlen fanden 2004 statt; die erste Wahl zur Nationalversammlung im Herbst 2005. Nach 2014 gab es keine Wahlen mehr. Die Nationalversammlung Afghanistans bestand aus zwei Kammern: dem Wolesi Dschirga (Haus des Volkes, Unterhaus) und dem Meshrano Dschirga (Haus der Ältesten, Oberhaus). Das Unterhaus bestand aus 250 Abgeordneten, die direkt in den Provinzen gewählt wurden. Wie beim Präsidenten dauerte eine Legislaturperiode fünf Jahre. Mindestens 64 Abgeordnete sollten Frauen sein. Das Oberhaus bestand aus lokalen Würdenträger*innen und Expert*innen, die von Provinzräten, Bezirksräten und dem Präsidenten ernannt werden sollten. Seine Hauptaufgabe war die Genehmigung von Gesetzen, Verträgen und Haushaltsplänen, die vom Unterhaus verabschiedet bzw. ratifiziert wurden.

Die Verfassung teilte Afghanistan in 34 Provinzen ein. Jede Provinz wurde von einem Provinzrat regiert, dessen Mitglieder für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt wurden. Provinzgouverneure wurden vom Präsidenten ernannt.

Die politische Realität in Afghanistan in der Zeit zwischen 2002 und 2021 war allerdings, dass die Regierung niemals das gesamte Land kontrollierte, die Wahlen von schweren Manipulationen geprägt waren und das System als durch und durch korrupt galt. Millionen von Hilfsmitteln wanderten in private Kanäle und keine der Wahlen konnten als „frei und fair“ eingestuft werden.

Hier geht es zu Texten zum Thema Korruption.

Andreas Wilde schrieb 2018:

„Auch die zwei großen Loya Jirgas (große Ratsversammlungen von Stammesältesten, Lokalfürsten und anderen Vertretern) 2002 und 2003 sowie drei Präsidentschaftswahlen (2004, 2009 und 2014) und zwei Parlamentswahlen (2005 und 2010) haben Afghanistan keinen dauerhaften Frieden gebracht. Bei den Wahlen ließ sich das sogenannte ethnic voting beobachten, also die Vergabe von Wählerstimmen nach ethnischer Zugehörigkeit von Wählerschaften an Kandidaten der eigenen Volksgruppe.“

 

Zivilgesellschaft in Afghanistan

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Es gibt unterschiedliche Definitionen davon, was Zivilgesellschaft ist. Hier soll sie als der Sektor von nicht-staatlichen und nicht der Wirtschaft zugehörigen Gruppen, Organisationen und Verbänden verstanden werden. Dazu gehören auch religiöse Bewegungen, Moscheen, Gewerkschaften usw.-  es wäre ein Missverständnis, Zivilgesellschaft mit NROs modernem Zuschnitts gleichzusetzen.

Zu den afghanischen Organisationen kamen zahlreiche internationale NROs. Einen Überblick für 2009 gibt ein Papier der Asian Development Bank.

Im Westen besonders bekannt wurde RAWA, die 1977 gegründete Revolutionary Association of the Women of Afghanistan.

Auch Organisationen der Zivilen Konfliktbearbeitung arbeiteten mit lokalen Partnerorganisationen zusammen (s. das Kapitel über Zivile Konfliktbearbeitung).

Auch im Ausland lebende Afghan*innen organisierten sich und mischten sich mit verschiedenen Erklärungen in den Wiederaufbauprozess ein

Berichte über Afghanistan enthielten immer wieder Informationen über Demonstrationen und Proteste von afghanischen Bürger*innen – gegen die korrupte Regierung ebenso wie gegen die Besatzer. Sie setzten sich zunächst auch nach der Machtergreifung der Taliban fort, wurden aber anscheinend schnell unterdrückt.

 

Ökonomie/Armut

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Der öffentliche afghanische Haushalt war in den letzten zwanzig Jahren völlig abhängig von der internationalen Hilfe und dem Geld, das die Besatzungsarmeen im Land ausgaben.

Zwischenzeitlich hat die Hilfe bis zu 97% des gesamten BIP ausgemacht. Für die letzten Jahre wird, Zahlen der Weltbank folgend, von  43 % des BIP und rund 75% der öffentlichen Ausgaben gesprochen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass nicht alles Geld, das „für“ Afghanistan ausgegeben wurde, auch „in“ Afghanistan blieb, denn die meisten Berichte beziehen auch die Summen ein, die als Gehälter oder andere Kosten dem Geberland zugute kommen. (siehe Clark 2020:,7-8)

Adam Pain (2012, auch von Clark 2020 zitiert, schrieb: :

Between 2000 and 2009, an estimated total of $274.7 billion in aid and military funding was spent in Afghanistan. An estimated 9.6 percent of this was ODA [official development assistance], 88.6 percent ($243.3 billion) was spent on foreign military operations and a further 5.6 percent ($16.1 billion) on security-related aid that is not ODA eligible.“ (In diesen Zahlen muss allerdings irgendwo ein Fehler sein, denn zusammengerechnet kommt der Autor auf 103,8%.)

Nur selten dabei explizit erwähnt werden die Einnahmen aus dem Drogenhandel (s. unten). Wenn sie mit einberechnet werden, dann ergab sich 2016 folgendes Bild:

"The gross value of Afghanistan’s opiate economy in 2016 was estimated at slightly over three billion US dollars. (This economy covers the cultivation, production and trafficking to the borders. It includes the total value of the domestic opiate market, as well as the value of opiate exports, before they leave the country.) This gross value was equivalent to around 16 percent of Gross Domestic Product (GDP) which the Central Statistics Organization (CSO) of the Afghan government (quoted by UNODC here,) estimated at 18.54 billion USD for 2015/16. (The World Bank estimate, which covers the western calendar year, was valued at 19.2 billion for 2015.)"

Obwohl Afghanistan Rohstoffe besitzt (etwas Öl und Gas und verschiedene Erze wie Kupfer, Eisen, Kobalt, Gold, Uran, Steinkohle, Zinn, Blei, Quecksilber, Lithium sowie seltenen Erden (Cerium, Lanthan und Neodym), wurden diese während der Besatzungszeit nicht oder kaum ausgebeutet; Berichten zufolge versickerten entsprechende Initiativen – u.a. auch von China, das eine Lizenz für eine Kupfermine erworben hatte – im Sand der Korruption.

Im Herbst 2021 berichten die Medien viel über die katastrophale Wirtschaftslage in Afghanistan nach der erneuten Machtübernahme der Taliban. Aufgrund ausbleibender Gehälter und einem Einbruch bei verfügbarer Arbeit haben viele Menschen schlicht nicht das Geld, sich Lebensmittel zu kaufen.

Übersehen wird dabei aber, dass es auch in der Besatzungszeit bereits erhebliche Probleme gab: Armut und Unsicherheit bei der Versorgung mit Lebensmitteln nahm nach 2002 zu,  Fehlernährung (Unicef schätzte die Zahl der Kinder, die unter Fehlernährung litten, auf 600.000 in 2018) und Kinderarbeit waren hoch.

Zu den menschgemachten Probleme der Wirtschaft kamen auch immer wieder Naturkatastrophen. 2021 war Afghanistan von einer massiven Dürre betroffen, aber auch in früheren Jahren gab es immer wieder Dürre, Überschwemmungen und Erdbeben.

 

Drogenhandel

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Vor dem Einmarsch der USA war der Opiumanbau fast auf Null (s. Feroz 2021:203). Nach der Eroberung durch die Alliierten stieg er massiv an, auch weil er aufgrund der Wirtschaftslage für viele Bauern die einzige Option war, zu überleben. Fast jedes Jahr wurden neue Höchstzahlen gemeldet, u.a. auch von der Antidrogenagentur der Vereinten Nationen. UNODC
https://www.unodc.org/afghanistan/en/index.html

Nach Schätzungen von UNODC produzierte Afghanistan von 2006 bis 2016 jedes Jahr zwischen 3.300 und 7.400 metrischen Tonnen Rohopium und wurde damit zum Weltmarktführer in dieser Droge. Der Wert betrug in 2016 rund 3 Milliarden USD.

2017-2019 ging die Produktion etwas zurück, blieb aber auf hohem Niveau.

Der Großteil der Drogen wurde – trotz militärischer Einsätze gegen die Opiumfelder und einer Kampagne der UNODC zur Bekämpfung des Opiumanbaus – ins Ausland verkauft.

 

Schulen

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Beim Wiederaufbau wurde auf das Bildungssystem von Seiten der internationalen Geldgeber recht viel Gewicht gelegt; besonders die Einrichtung von Mädchenschulen war vielen Organisationen ein Anliegen. (Wobei es auch koedukative Schulen gab.)

In einem Bericht von 2020 des Österreichischen Roten Kreuzes heißt es zusammenfassend für die Schulsituation:

"In Afghanistan gibt es insgesamt 14.888 allgemeinbildende Schulen (darunter 6.211 sechsjährige Grundschulen, 3.856 Untere Sekundarschulen und 4.821 Obere Sekundarschulen) sowie 162 Berufsschulen und 1.068 islamische Schulen.Nach Angaben des Bildungsministeriums sind über neun Millionen Kinder und Jugendliche in Schulen eingeschrieben. Etwa 39 Prozent davon sind Mädchen.Immer noch gehen etwa 40 Prozent der Kinder (50 Prozent der Mädchen) im schulfähigen Alter nicht oder nicht regelmäßig in die Schule.

Die Schulpflicht beginnt im Alter von sechs Jahren und dauert insgesamt neun Jahre: sechs Jahre Grundschule und drei Jahre Untere Sekundarschule. Mit Stand Juni 2018 gehen 3,7 Millionen afghanische Kinder zwischen sieben und 17 Jahren nicht in die Schule, was auf anhaltende Konflikte, große Armut und die Diskriminierung von Mädchen zurückzuführen ist.  Zwar sieht das Gesetz kostenlose Bildung bis hin zur Universität vor und für den Besuch öffentlicher Schulen muss kein Schulgeld bezahlt werden, jedoch können viele Kinder nicht zur Schule gehen, weil sie zum Familieneinkommen beitragen müssen. Barrieren für den Bildungszugang sind neben der weit verbreiteten Armut und Formen von Diskriminierung  die  schlechte  Sicherheitslage  v.a.  in von  den Taliban  kontrollierten Gebieten,  Kinderarbeit,  sowie  ein  Mangel  an  Schulen,  ein  langer  Weg  zur  Schule  oder  unzureichende Transportmöglichkeiten  in  manchen  Gebieten.  Bei Mädchen  spielen auch  kulturelle  Faktoren  und  traditionelle Ansichten sowie frühe Ehen eine negative Rolle beim Zugang zu Bildung. "

Nach Zahlen von 2018 waren sogar 60% der Kinder, die nicht in die Schule gehen, Mädchen, Human Rights Watch  2017 sprach von rund zwei Drittel der Mädchen, die keine Schulbildung erhielten.

In der Materialsammlung können auch Berichte über sog. „Geisterschulen“ (Schulen, die angeblich gebaut aber nie in Betrieb genommen wurden), militärische Nutzung von Schulgebäuden und vor allem auch die Probleme von Mädchen beim Schulbesuch nachgelesen werden.

 

Medien

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Nach 2001 stieg die Zahl von Presseerzeugnis, Radio und Fernsehstationen stieg schnell an, bis 2007 waren z.B. 500 Printmedien, 70 Radio- und 18 Fernsehstationen neu entstanden.

Von Außenstehenden wurde allerdings der Vorwurf erhoben, dass die meisten dieser Medien Sprachrohre der einen oder anderen nationalen Gruppe waren.

In den späteren Jahren, besonders nach 2014, kam es zu massive Bedrohungen von Journalist*innen. Besonders Journalistinnen sahen sich schon vor der erneuten Machtübernahme der Taliban schwerem Druck ausgesetzt.

Reporters Without Borders gab Afghanistan für 2021 den Rang 122 von 180 in Bezug auf Medienfreiheit. Das bezieht sich auf die Zeit vor der Machtergreifung der Taliban. Jetzt dürfte das Land weiter abgerutscht sein.

 

Gesundheit

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Auch in das Gesundheitssystem sind nach 2001 viele Mittel geflossen. Dennoch lassen Berichte darauf schließen, dass es außerhalb der großen Städte nicht gut funktionierte.
(Einen Überblick von 2014 gibt es hier und hier.

In der Quellensammlung stechen neben der Unterversorgung im ländlichen Raum folgende Themen besonders hervor:

 

Menschenrechte

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Die Situation der Menschenrechte in Afghanistan verbesserte sich nach dem Sturz der Taliban, aber es stand um sie weiterhin nicht gut.

Die umfangreichsten Berichte zur Menschenrechtslage finden sich bei diesen Institutionen:

Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC)
Amnesty International Jahresberichte, z:B. den von 2020.
Human Rights Watch

 

Menschenrechte: Frauen, Kinderprostitution, LGBTQI

Besondere Aufmerksamkeit galt und gilt bei der Betrachtung Afghanistan stets den Frauen, die unter den Taliban praktisch aller Menschenrechte und bürgerlicher Freiheiten beraubt wurden. Sie profitierten von der Besatzung durch die Alliierten und das neu eingerichtete Regime, da viele einschränkende Gesetze abgeschafft und Institutionen (Schulen, Universitäten, Sportvereine) für Frauen geöffnet wurden. Vor allem im städtischen Umfeld wuchs in den letzten zwanzig Jahren eine neue Generation von jungen Frauen heran, die eine höhere Schulbildung erhielt, vielleicht sogar studierte, einen Beruf ergriff, Sport ausübte, in Journalismus, Schauspiel und vielen anderen Feldern aktiv war. Dennoch lässt sich festhalten, dass Frauen trotz der neuen afghanischen Verfassung von 2004 und einem Gesetz zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 weiter schweren Einschränkungen ausgesetzt waren.

Die zahlreichen Berichte, die im Laufe der 20 Jahre über die Situation der Frauen in Afghanistan geschrieben wurden, sind voll von der Kontinuität von Einschränkungen und schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen. (Die hier unten angegebenen Links sind nur Beispiele). Physische Gewalt (von Schlägen bis zur Verbrennung und Amputationen) war allgegenwärtig; Vergewaltigungen waren die zweithäufigste Form der Gewalt gegen Frauen. Dazu kam die Straflosigkeit der Täter (nicht nur, wenn die eigenen Ehemänner oder Verwandte die Täter waren)

Die Zahl von Kinderheiraten, wobei zumeist das Mädchen die Minderjährige war, blieb auf hohem Niveau. (Allerdings gab es auch den umgekehrten Fall, in dem Jungen mit älteren Frauen verheiratet wurden.)

Dazu kamen erzwungene Jungfräulichkeitsuntersuchungen und anderer sexueller Missbrauch durch die Polizei.

Zur Verletzung der Menschenrechte von Frauen gehörte auch ökonomische Gewalt – etwa der Verkauf von Eigentum gegen den Willen der Frau oder das Verbot, arbeiten zu gehen. Derselbe Bericht von der AIHRC benennt verbal-psychologische Gewalt als dritthäufigste Form der Gewalt.

 

Viele Frauen wanderten auch in der Besatzungszeit wegen „moralischer Vergehen“ ins Gefängnis. Dazu gehörte auch, den Ehemann zu verlassen.

Die Situation von LGBTQI-Menschen in Afghanistan war ebenfalls schlecht und ist es wohl immer gewesen. Eigentlich war Pädophilie unter Strafe gestellt, dennoch wurden sexuelle Handlungen von erwachsenen Männern mit Kindern, vor allem auch Jungen im Rahmen von Zwangsprostitution der sog. „tanzenden Jungen“, geduldet. Beziehungen zwischen zwei erwachsenen Partnern waren der Verfolgung ausgesetzt.

 

Menschenrechte: Folter, Situation in Gefängnissen

Bei der Menschenrechtsfrage geht es aber nicht nur um Frauenrechte. Ein wichtiges Thema in Afghanistan war, neben den unter Kriegsverbrechen in Kapitel 2 beschriebenen Überfällen und Morden, die weitverbreitete Folter von Seiten der afghanischen Sicherheitskräfte. Sie zog sich über alle Jahre bis 2021 hinweg.

Folter und Mord und auch die Verwendung von Kindern als Selbstmordattentätern  wurden natürlich auch von den verschiedenen Rebellengruppen, auch den Taliban, begangen und erschienen in den jährlichen Berichten der verschiedenen Menschenrechtsorganisationen.

 

Menschenrechte: Ethnische und religiöse Minderheiten

Die Verfolgung von Minderheiten in Afghanistan betraf und betrifft vor allem die schiitischen Hazara, die wohl knapp unter 20% der Bevölkerung ausmachen.

Die meisten Angehörigen anderer Minderheitengruppen hatten das Land schon in der Zeit des Bürgerkriegs oder der Talibanherrschaft vor 2001 verlassen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen über die ethnische oder religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung Afghanistans; insgesamt, so wurde geschätzt, beträgt ihre Zahl aber nur 1% der Gesamtbevölkerung.

Die Verfassung von 2004 erklärte den Islam zur Staatsreligion, aber anderen Religionen wurde das Recht zur Religionsausübung gewährt, allerdings im Rahmen des islamischen Rechts, das z.B. den Übertritt zu einer anderen Religion unter schwere Strafe stellt. Nach 2001 haben viele Angehörige der Minderheiten der Sikhs und Hindus das Land verlassen. Die Ernennung eines Hindus zum Botschafter 2014 fand viel Aufmerksamkeit im Land.  

In den Jahren vor 2021 machten vor allem Terroranschläge des afghanischen Zweigs des Islamischen Staats Schlagzeilen. Sie griffen vielfach schiitische Moschen und andere Einrichtungen an.

 

Nach dem Abzug

Hier geht es zur Literatursammlung über die Situation im Land nach dem Abzug.

Die Taliban konsolidierten im August schnell ihre Macht. Ihre ersten Maßnahmen galten den Einrichtungen, die den Geboten des Islam, wie sie ihn verstehen, entgegenstanden, und das 2001 aufgelöste Ministerium zur Erhaltung der Tugend und Unterdrückung des Lasters wurde neu eingerichtet.

Im September stellten die Taliban ihre neue Regierung vor. Spätere Berichten sprechen von einem Machtkampf innerhalb der Taliban. International ist die Regierung – anders als zurzeit der ersten Herrschaft der Taliban - noch von keinem Staat anerkannt worden (Stand: Ende Dezember 2021). Ende Dezember lösten die Taliban mit der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) eine der letzten Institutionen des zwischenzeitlichen Regimes auf. Die IEC war 2006 geschaffen worden, um die Durchführung demokratischer Wahlen zu organisieren.

Die politischen Maßnahmen der neuen Regierung bezogen sich in erster Linie auf das, was sie als nötig zur Bewahrung der islamischen Ordnung ansahen. So dürfen Mädchen und Frauen nicht mehr zusammen mit Männern in Schulen und Universitäten unterrichtet werden; mit wenigen Ausnahmen dürfen Männer nur Männer und Frauen nur Frauen unterrichten. Vom Besuch weiterführender Schulen wurden Mädchen de facto ausgeschlossen. Ende Dezember wurde Frauen verboten, ohne Begleitung eines männlichen Verwandten weiter als 72 km zu reisen.

Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich extrem rasch. Das Land hing von den internationalen Zahlungen ab, und diese wurden eingestellt; nur die humanitäre Hilfe, vor allem über UN-Organisationen abgewickelt, lief weiter. Viele Menschen verloren ihre Arbeit oder bekamen keine Gehälter mehr bezahlt. Die Folge: kein Geld, Lebensmittel zu kaufen. Die vorausgesagte Hungerkatastrophe in dem Winter 2021/22 ist zwar durch Dürre verschärft worden, geht aber in erster Linie darauf zurück, dass die Menschen keine Lebensmittel kaufen können. Auch das Bankensystem funktioniert nicht mehr. Die UN Agentur OCHA schätzt die Zahl der Hilfsbedürftigen 2022 auf 22,4 Millionen Menschen, was fast 60 % der Bevölkerung sind.

Das Leid der Menschen wird durch die sich stark verschlechterte Gesundheitsversorgung noch verschärft. Viele Einrichtungen schlossen, haben kein Personal mehr und auch keine Medikamente und Geräte.

Die allgemeine Sicherheitslage im Land hat sich offenbar verbessert, aber der IS-Ableger in Afghanistan hat besonders die schiitischen Hazara zum Angriffsziel genommen, kämpft aber auch weiter gegen die Taliban. Viele Hazara fliehen aus dem Land, da sie sich auch von den Taliban nicht beschützt sehen.

Was die Frage der Übergriffe von Taliban auf Kollaborateure mit dem alten Regime angeht (was auch die sog. „Ortskräfte“ der internationalen Truppen einschließt), so ist die Lage nicht ganz eindeutig. Nach einem Bericht der UN sind seit der Machtergreifung der Taliban bis Anfang Dezember 2021 ca. 100 ehemalige „Ortskräfte“ getötet wurden. Dazu kamen mindestens acht afghanische Aktivisten und zwei Journalisten sowie mindestens 50 mutmaßliche Mitglieder des IS. Doch es wird gefürchtet, dass die Dunkelziffer hoch ist.

Sehr viele Menschen versuchen seit August, das Land zu verlassen; Zahlen sind aber derzeit keine bekannt. Das UNHCR rechnete im August mit bis zu 500.000 Menschen. Die meisten Nachbarstaaten haben ihre Grenzen geschlossen, auch andere Staaten wie die Türkei nehmen niemand mehr auf. In Europa ist man lediglich bereit, ehemalige „Ortskräfte“ aufzunehmen, bis zu 40.000 dürften kommen. Dem UNHCR zufolge befinden sich zudem 3,5 Millionen Afghan*innen derzeit innerhalb ihres Landes auf der Flucht - darunter fast 700.000 Menschen, die seit Januar 2021 geflohen sind.

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