ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch in Heidelberg am 11. April 2020

 

Mehr Pflegekräfte, mehr Frieden - mehr von uns ist besser für alle!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Unser Gesundheitssystem! Unser deutsches Gesundheitssystem! Wie ein Mantra wird es derzeit beschworen, wird es gelobt, werden die Beschäftigten, die Krankenschwestern, die Pfleger*innen, die Ärzt*innen „wertgeschätzt“ und gepriesen. Ja, was derzeit als die höchstealler Lobpreisungengilt, diese Berufsgruppen werden zusystemrelevanten „Helden des Alltags“ erkoren. Wehe dem Land, das Helden braucht! -Ja fürwahr, dann leben wir in finsteren Zeiten. Täglich werden die Zahlen der Infizierten,der intensiv Beatmenden genannt und verglichen mit den Zahlen der Betten unddenIntensiv-und Beatmungsgerätenmit den Zuständen in anderen Ländern. Immer noch, wir schreiben den 11.04. und haben Kontaktbeschränkunge nund das ist gut so angesichts des Virus.

Doch wir in Deutschland trotzen der Pandemie, zumindest stärker als Italien oder Spanien oder Frankreich oder den Briten, ja sogar stärker, als die USA. Wir hier stehen vergleichsweise gut da und dort stehen die anderen. Hier die kleine bundesrepublikanische Sicherheit und dort die verschiedenen nationalen Katastrophen. Stellt sich die Frage, warum wir es (wieder mal) etwas besser getroffen haben (vgl. die Bankenkrise), warum unser Gesundheitssystem noch nicht zusammengebrochen ist?

Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht und auch die Virolog*innen und Epidemiker*innen wissen es vermutlich nicht so ganz genau. Vermutlich sind es viele Gründe, die wir sicherlich in zukünftigen Studien wortreich erklärt bekommen. Denn eigentlich hätte es auch ganz anders kommen können.

Denn seit mindestens drei Jahrzehnten steht unser Gesundheitssystem unter massivem neoliberalem Beschuss. Aus einer Säule kollektiver und solidarischer Daseinsvorsorge (mit all ihren Schwächen) sollte eine Säule der renditeorientierten Kapitalverwertung und der Finanzspekulation entstehen und ist es großenteils, zum Nachteil der Daseinsvorsorge, auch geworden. Begleitet von nicht enden wollenden Berichten in den Medien über die überforderten Pflegekräfte und der Arbeit am Limit in den Krankhäusern und den Pflegeeinrichtungen und dem allgegenwärtigen lnvestitionsstau wurde das System umgebaut. Wer nur die Berichte zum Thema Pflege wahrgenommen hat, konnte glauben, hier sei ein Problem erkannt, und an dessen Beseitigung werde mit Hochdruck gearbeitet.

Doch leider gilt: Mediale Präsenz ist nicht identisch mit der Dringlichkeit politischer Abhilfe. Manche Themen sind einfach nur wichtig, aber nicht dringlich. Manche Themen begleiten uns als mediales Dauerrauschen und nichts geschieht oder nichts, was in die richtige Richtung geht. So auch beim Thema Gesundheitswesen. Denn parallel zu all den aufrüttelnden Berichten wurde unser Gesundheitswesen neoliberal zugerichtet und deformiert. Gesundheit ist längst eine Ware und wird es jeden Tag mehr. Dazu ein paar Zahlen.

Die Anzahl der Krankenhäuser sinkt kontinuierlich. lm Jahr 1990 gab es noch ca. 2.300 Einrichtungen. Heute sind es ca. 1900. Dabei sinkt besonders die Anzahl der öffentlichen Krankenhäuser, um fast 50%! Der Anteil der Häuser in privater rägerschaft hat sich dagegen von 15,5 % (1992) auf 37,1% (2017) erhöht, also mehr als verdoppelt.

Gegenüber 1991 haben wir heute eine um ein Viertel verringerte Anzahl von Betten. Gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegefälle jedes Jahr kontinuierlich. Seit 2007, dem Tiefpunkt der Anzahl der Pflegekräfte, hat die Zahl wieder leicht zugenommen, ist aber immer noch unter dem Stand von 1990!

Weniger Krankenhäuser, weniger Betten weniger Pflegekräfte, aber mehr Pflegefälle und eine fast halbierte Verweildauer der Patient*innen. Die Rationalisierungswellen werden auf dem Rücken der Patient*innen und Beschäftigten ausgetragen. Und zugleich steigt die Zahl der Privatisierung im Gesundheitswesen Der Krankenhausbetreiber Fresenius forderte von seinen Krankenhäusern im Jahr 2017 15% Dividendenrendite. 15 %, die erwirtschaftet werden, um damit die Aktionäre zu befriedigen. 15%, die aus dem laufenden Krankenhausbudget herausgenommen werden - Jahr für Jahr. 15%, das würde ich mir als Zins auf meinem Sparbuch auch gerne wünschen. Fresenius ist übrigens der größte Klinikbetreiber europaweit, mit mittlerweile ca. 110 Krankenhäusern allein in Deutschland.

Die Bertelsmannstiftung schlägt in einer Studie vom Sommer 2019 vor: die Anzahl der Krankenhäuser auf 600 zu reduzieren. Welcher Wahnsinn! Mögen wir verschont bleiben von Blitz und Hagel, Erdbeben und Tsunamis und von Krieg und Pestilenz und von der Bertelsmannstiftung.

Warum nun aber stehen wir in der Coronakrise vergleichsweise (zu denken ist nur an Italien oder Spanien) gut dar? Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Ich will hier nur einen Grund benennen, hier und heute anlässlich des Ostermarsches der Friedensbewegung. Ich will ihn benennen, weil darauf in den vergangenen Tagen nirgendwo hingewiesen wurde.

Seit nunmehr 30 Jahren mobilisieren die Gewerkschaften aktiv den Bereich der Pflege. Seit Beginn der 90er Jahre wurden immer wieder große Kampagnen und große Tarifauseinandersetzungen - erst von der ÖTV und dann verstärk von der Gewerkschaft
ver.di - hochgefahren. „Der Druck muss raus!”, „Der Deckel muss wegl", „Wir sind mehr wert!”, „Mehr von uns wäre besser für alle!". Große Streiks in der Charité und vielen Krankhäusern bundesweit wurden möglich. Die ersten Streiks in kirchlichen Krankhäusern überhaupt wurden kürzlich organisiert. Und im Mittelpunkt stand für die Beschäftigten nicht die Bezahlung für die Pflegekräfte, die ist bekanntlich grotten schlecht. Nein, für mehr und besser qualifizierte Pflegekräfte und für mehr Personal allgemein wird permanent gekämpft.

Auch um jedes Krankenhaus, das geschlossen und viele Krankenhäuser, die privatisiert werden sollen, gab und gibt es Widerstand. Sicherlich wäre noch mehr Widerständigkeít vorstellbar. Die Gewerkschaft könnte noch massiver gegen die Deformierung des Gesundheitswesens auftreten. Aber es ist nun einmal leichter einige Tausend Kolleg*innen in einer großen Metallbude zum Streik aufzurufen, als tausende von Beschäftigten in unzähligen kleineren und mittelgroßen Pflegeeinrichtungen zu mobilisieren. Denn es ist einfacher das Band bei Audi steht still und tausend Autos werden nicht produziert, als tausend Pflegebedürftige allein zu lassen. Aber ich bin sicher, ohne die Aktionen der Gewerkschaften und der Aktiven der Gesundheitsberufe würden wir heute dort stehen, wo andere Länder angekommen sind.

Wir wissen: Atomkraftwerke werden dort abgeschaltet, wo es eine starke Anti-AKW Bewegung gibt, Frauenrechte werden dort durchgesetzt, wo es eine starke feministische Bewegung gibt, die Rechte von Behinderten und von Schwulen werden verbessert, wo es Behinderten- und Schwulenbewegungen gibt, die Klimakrise wird seit dem Augenblick wahrgenommen, seitdem es eine weltweite Klimabewegung gibt. Die Situation der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ist nicht so desaströs wie in anderen Ländern, weil es hier europaweit vergleichsweise starken Widerstand gegen die neoliberalen Tendenzen im Gesundheitswesen gab und gibt.

Nur wer sich wehrt, lebt nicht verkehrt!

Erfolge der Friedensbewegung sind abhängig von ihrer Mobilisierung und Aktivierung. Aufklärung und Empörung allein genügen nicht. Die Massen müssen und sie können organisiert werden. Das lehrt die Anti-Atom-, die Klima- und die gewerkschaftliche
Bewegung für ein gesundes und öffentliches Gesundheitswesen. Ein gutes Gesundheitswesen ist Teil einer solidarischen Daseinsvorsorge. Ein friedliches Europa und eine friedliche Welt, ist die Beste aller Vorsorgen für unser aller Dasein auf diesem
Planenten. Das ist Anspruch und Ansporn auch für die Friedensbewegung. Empörung war gestern - Organisíerung ist heute.

 

Ulrich Wohland ist aktiv beim Heidelberger Friedensratschlag.

 

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