Redebeitrag für die Antikriegstagsveranstaltung am 1. September 2022 in Aachen

 

- Es gilt das gesprochene Wort! -
- Sperrfrist: 1.9. 2022, Redebeginn: 17 Uhr -

 

Liebe Freundinnen nd Freunde,

laut Kanzler Scholz erleben wir gerade durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende. Wörtlich sagte er in seiner Regierungserklärung am 27.2. im Bundestag:

"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ ... „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf...“

Hier sagt Herr Scholz die Unwahrheit: Genau vor 23 Jahren, am 24. März 1999 begann mit dem Luftkrieg der NATO gegen Serbien, die Zeitenwende, die Zeitenwende für Deutschland, denn der Überfall auf Serbien war der erste Krieg, den Deutschland nach 1945 führte.

Schon 1999 hat also eine deutsche Regierung als militärische Macht das Recht gebrochen – folgenlos, ohne Sanktionen, ohne Verurteilung zu Schadenersatzzahlungen an Serbien für Schäden in Milliardenhöhe und 2500 Tote und mehrere tausend Verletzte.

Wir verweisen nicht auf den illegalen Krieg der NATO gegen Serbien, um abzulenken vom Angriffskrieg Russlands, der schon viele tausend Tote und riesige materielle Schäden verursacht hat. Wir Kriegsgegner verurteilen den Krieg Russlands ebenso wie wir damals den Krieg der NATO verurteilt haben.

Es ist aber völlig unzulässig, dass Politiker und Medien zu den verbrecherischen Kriegen der NATO in Serbien, im Nahen Osten oder Afghanistan schweigen, während sie Russland ruinieren wollen mit den härtesten Sanktionen, die es je gab.

Diese Heuchelei und Verharmlosung der ungesühnten NATO-Verbrechen lehnen wir ab! Karlspreisträger wie Tony Blair, Clinton, Bush oder Kissinger hätten nie ausgezeichnet werden, sondern vors Kriegsverbrechertribunal gestellt werden müssen!!

Und heute: Ohne große Proteste der grünen und sozialdemokatischen Anhängerschaft kann Kanzler Scholz das größte Rüstungsprogramm der bundesdeutschen Geschichte unter johlendem Beifall des Bundestages durchs Parlament bringen.

Alles was bis dahin auch in der SPD-Fraktion umstritten war, wird über Nacht durchgedrückt: Von Kampfdrohnen über die milliardenteuren F-35 Kampfflugzeuge bis hin zu jährlichen Rüstungsetatsteigerungen in Höhe von 2 Prozent gemessen am jährlichen Bruttosozialprodukt und zusätzlich 100 Mrd. Sonderschulden.

Wie kann so etwa sein? Glaubten etwa alle in den SPD-und Grünen-Fraktionen die These vom „ersten Krieg auf europäischem Boden nach 1945?“

Glaubten sie Kanzler Scholz, der als Kriegsgrund in seiner Rede sagte, der Angriffskrieg erfolge seitens Putins „aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellen sein eigenes Unterdrückungsregime infrage?“

Einmal abgesehen davon, dass es in der Ukraine unter der Herrschaft der letzten Präsidenten die „Freiheit“ nur selektiv gab. Nationalistischen Bewunderer des faschistischen Milizenführers Bandera oder die Verantwortlichen für den Maidan-Putsch gegen eine gewählte Regierung oder die nationalistischen Mörder von 42 prorussischen Ukrainer:innen im Gewerkschaftshaus in Odessa haben und hatten Handlungsfreiheit..Dagegen wurde die Freiheit von russischsprachigen Ukrainer:innen und auch politisch linksstehenden Vereinigungen, Zeitungen und Sendern massiv beschnitten.

Es sind ganz andere Gründe als die Attraktivität der angeblich so freiheitlichen Gesellschaft in der Ukraine, die Russland zu diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt haben, denn dieser Krieg hat eine Vorgeschichte, für diesen Krieg hat der Westen eine Mitverantwortung, auch das gehört zur historischen Wahrheit:

Zum einen der jahrelang betriebene Versuch des Westens, die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die westliche politische Ordnung einzugliedern und zwar als Vorposten von NATO und EU gegen Russland.

Die NATO folgte damit dem Drehbuch von Zbigniew Brzezinski, dem langjährigen Nationalen Sicherheitsberater der US-Regierung und Autor des Buches „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft „ 1997. Darin steht:

„Das Beunruhigendste war [für Russland] der Verlust der Ukraine. Das Auftreten eines unabhängigen ukrainischen Staates [...] stellte für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. Da mehr als 300 Jahre russischer Reichsgeschichte plötzlich gegenstandslos wurden, bedeutete das den Verlust einer potentiell reichen industriellen und agrarischen Wirtschaft sowie von 52 Millionen Einwohnern, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen.“ [136]

„Da die EU und die Nato sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationen werden möchte. Es ist davon auszugehen, dass sie, um ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte. Obwohl dies Zeit brauchen wird, kann der Westen – während er seine Sicherheits- und Wirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut – schon jetzt das Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für eine sukzessive Eingliederung der Ukraine ins Auge fassen. [...] Der springende Punkt ist: Ohne die Ukraine kann Russland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Russland durchaus zu Europa gehören kann.“ [178]

Milliarden von Dollar und Euros haben die USA und die EU in die Ukraine gepumpt, um eine der weiteren orangenen Revolutionen zum Regime Change zu etablieren. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte im März 2022: "Seit Jahren trainieren die NATO-Alliierten zigtausende ukrainische Soldaten". Viele von ihnen seien jetzt an der Front im Einsatz. Außerdem hätten die Alliierten die Armee seit 2014 massiv aufgerüstet: Waffen geliefert, darunter Panzer- und Luftabwehrwaffen, Drohen, Munition und Treibstoff. „

Russland sah dadurch zunehmend seine Sicherheitsinteressen bedroht, vor allem seit Selenskyi im Februar 2022 eine mögliche Atombewaffnung ankündigte.

Der zweite Grund für die russische Intervention waren die seit 2014 andauernden Kämpfe der Ukraine gegen die abtrünnigen Gebiete im Donbass mit 14 000 Toten, davon fast 10.000 Menschen aus Luhansk und Donezk. Die völkerrechtlich bindenden Verträge Minsk 1 und Minsk 2, die u.a. die regionale Autonomie des Donbass vorsahen, wurden von der ukrainischen Regierung ignoriert und torpediert.

All diese Fakten aber wurden von der Ampelregierung und ihren Anhänger:innen weggewischt. Stattdessen wird mit zweierlei Maß gemessen: Die NATO-Kriege mit deutscher Beteiligung etwa in Afghanistan werden bis heute verteidigt. Nach 20 Jahren Kriegsbeteiligung in Afghanistan miteinem verheerenden Ergebnis setzt Deutschland in der Ukraine wieder auf Kriegsbeteiligung statt auf politische Gepräche und Verhandlungen.

Die Lehre aus Afghanistan, wo 6 Mio vom Hungertod bedroht sind, heißt Verhandlungen statt Kriegsbeteiligung, die Eskalation durch Waffenlieferungen muss gestoppt werden!! Der Krieg Russlands wird als quasi singuläres Ereignis vom Westen verurteilt. Russland soll ruiniert werden und die Schleußen für antirussische Ressentiments werden weit geöffnet. Es kommt einem vor, als dürfe heute jeder rauskrakelen, was er schon immer gegen „die Russen“ von sich geben wollte.

Werden Massaker entdeckt, braucht es kein Beweise oder Untersuchungen, die „russischen Horden“ waren es (FAZ „Flucht vor den russischen Horden“ 10.5.22)

Im Fernsehen darf eine Frau Florence Gaub, stellvertretende Direktorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien bei ZDF-Lanz im April 2022 sagen. "Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind im kulturellen Sinne". Russen hätten einen anderen Bezug zu Gewalt und Tod. (...) "Es gibt (bei Russen) nicht diesen liberalen und postmodernen Zugang zum Leben. Das Leben als ein Projekt, das jeder für sich individuell gestaltet. Sondern das Leben kann halt einfach auch mit dem Tod recht früh enden."

Das erinnert an die Nazi-Presse, die die Stalingrad Niederlage u.a rassistisch begründete: So schrieb die SS-Zeitung „Das schwarze Korps“ am 29.10. 1942 über die Gründe der Niederlage:

„Die sowjetischen Soldaten gehören einer anderen Art an. Sie entstammten einem „niederen, dumpfen Menschentum“, das nicht in der Lage sei, den Sinn des Lebens zu erkennen und das Leben zu schätzen. Aufgrund dieser fehlenden menschlichen Qualitäten kämpften die Rotarmisten mit einer Todesverachtung, die dem kulturell hochstehenden Europäer fremd sei. Bei der Stärke der sowjetischen Soldaten handele es sich um „die Macht der entfesselten Minderwertigkeit“. (in „Die Stalingrad Protokolle“, Jochen Hellbeck, 2012, S. 15).

Gerade angesichts der deutschen Geschichte müssen wir allen russophoben Kampagnen und Maßnahmen entgegentreten, sei es der Ausschluss russischer Sportlerinnen, die Absetzung von Theaterstücken russischer Autoren oder wie jetzt gefordert das Einreiseverbot für russische Touristen.

Vielfach wird heute gesagt, es liege bei der Ukraine zu entscheiden, wann der Krieg beendet wird. Dies unterstellt eine politische Autonomie, die nicht existiert. Schon vor dem Krieg hing das Land am westlichen Finanztropf, momentan wäre es ohne die massive Hilfe des Westens wehrlos, der demzufolge – allen voran die USA – eine gewichtige Stimme hat. Folglich könnte er die Logik des Krieges durchbrechen, um mit der Ukraine und Russland den Weg zu einem Verhandlungsfrieden zu finden. Die derzeitige Politik der Bundesregierung ist aber „Wir lassen kämpfen bis zum letzten “Ukrainer“.

Wir fordern

  • Waffenstillstand und Verhandlungen - Waffenlieferungen eskalieren und verlängern den Krieg - nur Diplomatie, Dialog und Kooperation können den Krieg in der Ukraine und die Kriege überall auf der Welt beenden und weitere verhindern
  • Gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Ukraine
  • Keine 2% des Bruttoinlandsprodukts für den jährlichen Rüstungshaushalt sowie Umwidmung des 100 Milliarden Aufrüstungspakets in ein Investitionsprogramm für Soziales, Umwelt, Gesundheit und Bildung
  • Stopp der katastrophalen Wirtschafts- und Finanzblockaden, unter denen die Menschen weltweit leiden

Treten wir ein für „Friedenslogik statt Kriegslogik! Für eine Zivile und soziale Zeitenwende!

 

Rudolf Gottfried ist aktiv beim Antikriegsbündnis Aachen.