Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2023 in Frankfurt und am 9. August in Marburg

 

- Sperrfrist: 6.8., Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –

 

78 Jahre nach dem Inferno in Hiroshima und Nagasaki - Was tun gegen die fortbestehende Atomkriegs-Gefahr?

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Shigemi Ideguchi, Überlebender in Hiroshima, hat seine persönliche Erfahrung veröffentlicht. Er schrieb:

„Krankenschwestern (auf dem Weg zum nahegelegenen Hospital, MJ) bewegten sich wie Samen des Löwenzahns, Nachtwandlerinnen gleich, zwischen ihren am Boden liegenden Kolleginnen, wie Geister zwischen umgeworfenen Grabsteinen. Manche blieben, vielleicht erblindet, stehen, manche bewegten sich orientierungslos auf der Stelle. Keine hatte die Kraft, den anderen zu helfen. Keine weinte oder schrie. Bis gerade waren sie noch in Reih und Glied marschiert, nun waren sie wie Grashüpfer überall verteilt.

Das waren Höllenbilder ohne Höllenlärm.
Das waren Höllenbilder in angstvoller Stille."

Vor 78 Jahren wurden in Hiroshima und Nagasaki die schrecklichsten Massenvernichtungswaffen eingesetzt, die bis heute entwickelt wurden - zynisch „Little Boy“ (Hiroshima) und „Fat Man“ (Nagasaki) genannt.

Hier soll an die über 200.000 Menschen erinnert werden, die durch die infernalische Hitzewelle, die gewaltige Druckwelle, die unmittelbare Strahlung und den späteren radioaktiven Staub-Regen, dem „Fallout“, grausam ums Leben kamen.
Die Sprengkraft der Bombe in Hiroshima entsprach 13 Kilotonnen TNT, d.h. der Wirkung von 13.000 Tonnen des bis dahin stärksten bekannten Sprengstoffs. (Eine Tonne TNT reicht aus, um ein Hochhaus zu sprengen!) Zum Vergleich: in den späteren Jahren wurden Bomben entwickelt, die bis zu 20 Megatonnen Sprengkraft entfalten konnten, d.h. noch einmal 1000-fach stärkere Explosionswirkung entfalten können! Die auf der Welt heute vorhandenen Arsenale mit über 13.400 Nuklearwaffen unterschiedlichster Bauart reichen aus, die Lebensbedingungen für große Teile der Menschheit zu vernichten.

Der Horror von Hiroshima und Nagasaki konnte nicht verhindern, dass nach dem 2. Weltkrieg – mit Beginn der Ost-West-Blockkonfrontation- keineswegs gerade diese grauenhaften Massenvernichtungsmittel abgerüstet wurden, sondern im Gegenteil zunächst auch Großbritannien seinen Willen zur Nuklearrüstung erklärte, und dann ab 1949 die Sowjetunion, dem Beispiel der USA folgend, mit dem Aufbau eines gigantischen Atomwaffenarsenals begann. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ war im Kalten Krieg die Parole, englisch die „Mutual Assured Destruction“, abgekürzt MAD, zu deutsch also: verrückt.

In den 50er Jahren regte sich auch in Deutschland der zivile Widerstand gegen die geplante Nuklearrüstung der neu gegründeten Bundeswehr. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Folgen der Atomwaffentests in der Atmosphäre – global starke Zunahme von Krebserkrankungen durch Strahlung und Fallout – führten 1963 zum internationalen Teststopp-Abkommen, dem Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser, und damit zum weitgehenden Ende der oberirdischen Nuklear-Explosionen in der Atmo-sphäre. Bis 1996 hatte Frankreich noch oberirdisch getestet, China mindestens bis 1980. (Unterirdisch gingen Tests weiter.)

Erfolge zivilgesellschaftlicher Bewegungen

Eine neue Massenbewegungen gegen die Atomrüstung begann in Europa zu Beginn der 80er-Jahre, als die NATO die sogenannte „Nachrüstung“ plante – die Stationierung
von US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing 2 und Cruise Missiles mit nuklearen Sprengköpfen. Die Sowjetunion hatte ihrerseits SS-20 Raketen in Osteuropa aufgestellt. Die berechtigte Furcht vor einem Nuklearkrieg der Supermächte auf mitteleuropäischem Territorium trieb Hunderttausende zu Demonstrationen auf die Strassen. Diese machtvolle internationale Bewegung trug erheblich dazu bei, dass schließlich 1987 zwischen den USA und der SU das Mittelstrecken-Raketenabkommen INF (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zu einer realen, kontrollierten Abrüstung und Abzug auf beiden Seiten der Blockgrenzen führte, also auf westlicher Seite in den Stationierungsstaaten Italien, Deutschland, Belgien und Niederlande, in Osteuropa in Polen und der DDR.
…und Rückschläge:

Dieses INF-Abkommen wurde von den USA am 2. August 2019 gekündigt, in der Regierungszeit von Präsident Donald Trump. Die Aufstellung neuer ultraschneller US-Raketen im Deutschland oder auch unmittelbar an den russischen Grenzen ist geplant - die Kommandozentrale wird in Wiesbaden errichtet. Weitere Kündigungen von Rüstungskontrollabkommen mußten wir in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen:

  • 2002 Rücktritt der USA vom ABM-Vertrag, dem Anti Ballistic Missile Treaty – die strikte Begrenzung von Raketen-Abwehrsystemen wurde damit aufgehoben, und entsprechende Aufrüstung in Osteuropa installiert. Als Stationierungsländer bekannt sind Stützpunkte in Polen und Rumänien.
  • Im Mai 2020 wurde das Open Skies-Abkommen zur Vertrauenensbildung durch gegenseitige Luftüberwachung durch die US-Regierung gekündigt, Russland folgte diesem Schritt nach.
  • In schwierigen Verhandlungen konnte eine Verlängerung des New START-Abkommens zwischen USA und Russland zur Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen erreicht werden, das nun aber im Kontext des Ukrainekriegs von der russischen Regierung ausgesetzt wurde.

Völkerrecht und Diplomatie als Werkzeuge gegen den Nuklearkrieg

Zwei Beispiele in den letzten 20 Jahren haben das Zusammenwirken von Bürgerbewegung und Regierungen demonstriert: diese brachten diplomatische Mittel gegen das drohende Grauen nuklearer Vernichtung zum Einsatz, jeweils im Rahmen und mit Unterstützung der Vereinten Nationen:

Zum einen das von der Vollversammlung der UN veranlasste Gutachten des Internationalen Gerichtshof in Den Haag aus dem Jahr 1996, der eindeutig zu den „Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts“ feststellte:
- die völkerrechtlich verbindliche Verhandlungs-Pflicht zur Realisierung vollständiger nuklearer Abrüstung („atomare Nulllösung“). Er hat in seiner Entscheidung mit den Stimmen aller seiner Richter entschieden: „Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“
Genau dies ist bis heute nicht geschehen, im Gegenteil werden bestehende Rüstungskontrollverträge immer weiter demontiert:

  • Einsatz von Waffen muss zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden.
  • Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden.
  • Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Der IGH hat daraus einen weiteren Schluss gezogen: „Aus den oben ... erwähnten Anforderungen ergibt sich, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts“.

Das zweite, aktuelle Beispiel für das Zusammenwirken von Friedensbewegung und Diplomatie ist der von der UN-Vollversammlung und von nun bereits 92 Regierungen beschlossene Atomwaffenverbotsvertrag, der eben auch die Unterstützung zahlreicher Bürgermeister, der Mayors for Peace, darunter zu unserer Freude auch der Stadt Marburg und ihres Oberbürgermeisters. Wir hoffen sehr, dass aus den Kommunen weiterhin ein kontinuierlicher Impuls an die entscheidenden Stellen der Bundesregierung gesendet wird, nicht weiter abseits zu stehen bei der aktiven Prävention einer entsetzlichen Katastrophe, die uns alle bedroht.

In jedem Jahr stellt das Gremium der besorgten Atom-Wissenschaftler den Grad der Gefährdung durch einen Nuklearkrieg fest – und stellt die Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr danach neu. 2023 sind wir nur noch 90 Sekunden vom doomsday entfernt- so nah wie noch nie zuvor, und zwar aktuell nach Einschätzung der Wissenschaftler nicht nur wegen des drohenden Nuklearkriegs, sondern nun auch wegen der globalen Klimakatastrophe, deren Vorboten wir schon überall wahrnehmen. Das ist die globale Katastrophe, die die Nationen nur gemeinsam durch einschneidende Veränderungen unserer Wirtschafts- und Lebensweise bewältigen können – 10 Milliarden Euro zum Kauf neuer Bombenflugzeuge für den Transport noch raffinierterer Nuklearbomben führen uns da in die absolut falsche Richtung. Ich meine: sicherer wird unser Leben dadurch nicht werden!

Verhandeln statt schießen – einen anderen vernünftigen und humanen Ausweg gibt es da nicht. Lebensnotwendig ist, und daran müssen wir alle arbeiten: eine erneuerte, starke internationale Bewegung – hin zu einer anderen Wende, um die tiefe globale Krise zu überwinden.

 

Matthias Jochheim ist aktive beider IPPNW.