Redebeitrag für den Ostermarsch Rhein-Ruhr in Essen am 17. April 2022

 

- Sperrfrist: 17. April 2022, Redebeginn: 10 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

ich begrüße euch ganz herzlich heute Morgen hier in Essen mit einem „Frohe Ostern“ und freue mich, dass ihr gekommen seid, um heute per Fahrrad von Essen über Gelsenkirchen, Wattenscheid, Herne und bis Bochum für den Frieden zu demonstrieren.

Für die, die mich noch nicht kennen, möchte ich mich kurz vorstellen: Alfred Keienburg heiße ich, bin der Vorsitzende des Diözesanverbandes Essen von pax christi und Mitglied im Essener Friedensforum.

Wir Christen feiern heute das Fest der Auferstehung Jesu, das Fest, dass der Tod nicht das letzte Wort hat und dass das Leben über den Tod siegen wird. Und ich denke, dass wir, unabhängig davon, ob wir Christen sind oder nicht, genau dies mit unserer Beteiligung am Ostermarsch, mit unseren Protesten und mit unseren Forderungen zum Ausdruck bringen wollen.

Unser Ostermarsch findet in diesem Jahr mitten im Angriffskrieg statt, den russisches Militär auf Befehl Putins gegen die Ukraine und seine Menschen führt. Ich bin darüber erschüttert und verurteile ihn aufs Schärfste. Mit meinen Gedanken und Gebeten bin ich bei der ukrainischen Bevölkerung, die furchtbare Tage des Krieges und des Leidens durchlebt. Die Zivilbevölkerung leidet am stärksten. Sie ist weitgehend schutzlos der Gewalt ausgeliefert. Das Leid, das der Krieg mit sich bringt, wird auch noch lange nachwirken, auch wenn dieser Krieg hoffentlich bald endet. Krieg ist immer ein Verbrechen, und dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen und tritt das Völkerrecht und die Menschenrechte mit Füßen. Dieser Krieg zerstört den demokratischen Aufbau der Ukraine, er zerstört Menschenleben und die Infrastruktur des Landes. Er zerstört Vertrauen. Er zerstört die Umwelt. Dieser Krieg wirft die wachsende ukrainische Zivilgesellschaft massiv zurück.

Mit diesem Angriffskrieg isoliert sich die russische Regierung selbst und fügt Russland und allen Bemühungen um Entspannung und Verständigung schweren Schaden zu. Dieser Krieg schadet auch massiv der russischen Bevölkerung. Er zerstört die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die für die russische Bevölkerung ein wichtiger Zukunftspfeiler ist. Und er zerstört für viele Bürgerinnen und Bürger Russlands das Verhältnis zur Ukraine, denn für sie ist es ein Krieg unter Geschwistern. Und mein Mitgefühl haben alle Menschen in Russland, die verzweifelt ertragen müssen, dass die russische Regierung Krieg führt, ohne dass sie es verhindern können. Ich sehe mit großem Respekt und Anerkennung auf die Menschen, die öffentlich gegen den Krieg protestieren; wohlwissend, dass sie dafür mit harten Repressionen bestraft werden können.

Ich und viele meiner Friedensfreundinnen und Friedensfreunde bei pax christi konnten uns nicht vorstellen, dass es zu diesem Krieg kommen kann. Wir haben seit Jahren aus der Ukraine, aus Polen und aus dem Baltikum die Sorgen und Warnungen vor Übergriffen der Putin-Regierung auf frühere Gebiete der Sowjetunion gehört. Wir haben es gehört und nicht geglaubt. Das schmerzt, weil wir dadurch wohl auch die Angriffe russischer Truppen in Tschetschenien und Georgien wahrgenommen, aber zu wenig beachtet und nicht ausreichend Schlussfolgerungen daraus gezogen haben. Militärische Erfahrungen aus diesen Kriegen und aus Syrien werden jetzt in der Ukraine eingesetzt.

Doch genauso schmerzlich ist, dass die Warnungen und Analysen aus der Friedensbewegung zur EU- und NATO-Politik ignoriert worden sind. Die Eskalation ist nicht gestoppt und damit die Gewaltspirale nicht verhindert worden. Die politisch Verantwortlichen haben in den letzten Jahrzehnten das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit nicht verfolgt, zu dem sie sich im Vertrag zur deutschen Einheit von 1990 verpflichtet hatten. Die Visionen Gorbatschows vom gemeinsamen Haus Europas und Willy Brandts Grundsatz, dass die eigene Sicherheit untrennbar mit der Sicherheit des Gegners verbunden ist, sind nicht beachtet worden.
Eine Entschuldigung darf dies aber nicht sein und wir müssen mit aller Klarheit und Entschiedenheit als Friedensbewegung deutlich machen, dass all diese politischen Fehler „des Westens“ Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in keiner Weise rechtfertigen können. Ich sage dies sehr deutlich, weil ich bei einigen Analysen und Kommentierungen den Eindruck habe, dass am Ende doch die Schuld für diesen Angriffskrieg eher auf Seiten „des Westens“ verortet wird.

Entspannungspolitik statt Aufrüstung und Waffenlieferungen ist jetzt mehr als notwendig, um diesen Krieg und seine Schrecken so schnell wie möglich zu beenden.

Mich schmerzt, in wie großer Zahl bisher friedensbewegte Menschen den Waffenlieferungen, auch von schweren Angriffswaffen, an die Ukraine, der Einrichtung einer Flugverbotszone oder gar der direkten Kriegs-Beteiligung das Wort reden und damit die drohende Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen ignorieren. Junge Menschen, die den Kriegsdienst verweigert haben, gehören leider auch dazu. Und auch bei uns, bei pax christi, gibt es und gab es Diskussionen über die richtige Antwort auf diesen russischen Angriffskrieg, denn nach dem Völkerrecht ist eine Verteidigung gegen einen Aggressor mit militärischen Mitteln erlaubt.

Doch hier halte ich mit dem Bundesvorstand von pax christi fest an der Option der Gewaltfreiheit, sich für eine Welt ohne Gewalt und Waffen einzusetzen. Friede im Sinne Jesu verzichtet auf Gewalt und fängt dort an, wo die Nächstenliebe die Feindesliebe miteinschließt. Es gilt, zu einer gewaltfreien Friedenskultur beizutragen, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und die Gewaltspirale zu beenden. Der vehement vorgetragenen Meinung der Mehrheit in Politik und Medien, mit Gegengewalt auf erfahrene Gewalt reagieren zu müssen, folgen wir nicht. Was aber nicht heißen darf, sich passiv der Gewalt unterzuordnen, sondern aktiv und gewaltfrei mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und der sozialen Verteidigung in den Widerstand zu gehen. Und zu diesen Mitteln gehören für mich auch Sanktionen, auch solche, die uns sehr, sehr schmerzlich treffen können, wie ein Embargo gegen Öl- und Gaslieferungen aus Russland.

Was geschähe, wenn die Ukraine auf den Widerstand „bis zur letzten Patrone“ verzichten würde? Wieviel Leid, Flucht, Tod, Zerstörung und Grauen des Krieges könnten durch eine solche Antwort der Ukraine verhindert werden? Muss das Recht, sich verteidigen zu dürfen, immer mit Gewalt und kriegerischen Mitteln geschehen? Für gelungene zivile und soziale Verteidigung gibt es genügend Beispiele, dass ziviler gewaltfreier Widerstand erfolgreich war und nicht solche Verwüstungen, Gräuel und menschliches Leid zur Folge hatte, auch wenn Opfer und menschliches Leid zu beklagen waren.

Doch will ich mir hier nicht anmaßen vorzuschreiben, wie sich die ukrainische Bevölkerung zur Wehr setzen soll.

Nur Entspannungspolitik, Friedenslogik statt Kriegslogik, kann diesen Konflikt entschärfen: die Gesprächskanäle nach Russland müssen aufrechterhalten werden. Die Politik darf den Dialog nicht aufgeben. Auf allen diplomatischen Wegen muss nach deeskalierenden Lösungen gesucht werden. Nach wie vor ist der Aufbau einer gemeinsamen, gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur Europas unter Einbezug der Ukraine, Russlands und Belarus die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Europa. Auch die Aufrechterhaltung bestehender Partnerschaften aus der Ukraine und Russland, alle individuellen, beruflichen sowie organisatorischen Kontakte in die Ukraine und Russland sollten wiederbelebt bzw. beibehalten werden.

Unsere Unterstützung haben alle, die vor diesem Krieg fliehen und versuchen, die Ukraine zu verlassen. Wir sind dankbar für die offenen Grenzen und freuen uns über die große Hilfsbereitschaft, die Geflüchtete aus der Ukraine erfahren. Wir fordern alle Regierungen auf, dafür zu sorgen, dass diese offenen Grenzen unterschiedslos für alle Menschen gelten, die diesem und anderen Kriegsgebieten zu entkommen versuchen. Rassistische Zurückweisungen sind ein Skandal und müssen eingestellt werden. Alle Menschen, die vor diesem und anderen Kriegen fliehen, haben ein Recht auf Asyl, Schutz und Aufnahme in sicheren Gebieten. Wir fordern das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sowohl in Russland als auch in der Ukraine und dass ihnen und allen Deserteuren Asyl gewährt wird.

Sehr besorgt macht mich, macht uns der Paradigmenwechsel, den Bundeskanzler Scholz für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik als Zeitenwende verkündet hat. Wir verstehen den Anspruch an die deutsche Politik, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen. Wir sehen, dass in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen wurden. Es fehlt eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsstruktur unter Einbezug aller europäischen Länder außerhalb der EU. Es ist ein Fehler deutscher Politik, diese seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion nicht angestrebt und mitaufgebaut zu haben.

Die von Bundeskanzler Scholz angekündigten massiven Umlenkungen von Steuergeldern ins Militär sind ein Schritt in die falsche Richtung. Stattdessen sollte die zivile Konfliktbearbeitung weiter ausgebaut werden. Es geht um die wichtige Expertise des zivilen Friedensdienstes, um Konfliktprävention und Konfliktnachsorge. Es geht um den Vorrang für zivil, um faire Weltwirtschaftsstrukturen und die Globalisierung von sozialer, kultureller und medizinischer Infrastruktur. Es geht um die Anerkennung und den klugen Ausgleich zwischen den Interessen von Industrieländern und rohstoffexportierenden Staaten. Es geht um die Förderung der Widerstandskraft pluralistischer, liberal-demokratischer Gesellschaften gegenüber den Zumutungen autokratischer und rassistischer Gesellschaftsvorstellungen. Und beim Vorrang für zivil geht es nicht zuletzt auch um die Verwirklichung der Menschenrechte und die Einhaltung der vereinbarten Klimaziele.

Die von Scholz angekündigte Einhaltung und Überschreitung des 2%-Ziels der NATO für den deutschen Rüstungshaushalt und die zusätzlichen 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr sind kein Beitrag zur Entspannung, sondern das Gegenteil und entbehren jeglicher Fundierung. Diese horrenden Rüstungsausgaben schaffen keine Sicherheit, sondern entziehen den wahren Herausforderungen wie soziale Gerechtigkeit, Bildung und Klimaschutz die notwendigen Finanzen. Das alles war und ist ein Förderprogramm für die Rüstungsindustrie. Frieden schaffen geht anders. Die ethisch und sachlich begründete Kritik und Ablehnung der Anschaffung bewaffneter Drohnen, der nuklearen Teilhabe und der Anschaffung neuer, für Atomwaffen geeigneter Kampfflugzeuge ändert auch Putins Krieg gegen die Ukraine nicht. Hier werden opportunistisch Stimmungen ausgenutzt und die Glaubwürdigkeit der Politik aufs Spiel gesetzt.

Zusammengefasst: Krieg ist niemals eine Lösung! Er schafft im Gegenteil Grundlagen für neue Konflikte. Zum Schluss kurz einige unserer Forderungen beim und mit dem Ostermarsch:

  • sofortige Einstellung der russischen Kampfhandlungen und Rückzug aus der souveränen Ukraine!
  • Abrüstung statt Aufrüstung!
  • Rüstungsexportstopp
  • UNO-Vermittlung in Krisengebieten, vor allem in kriegführenden Ländern!
  • Keine Bewaffnung von Drohnen, Entwicklungsstopp von autonomen Waffen!
  • Schluss mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr!
  • Fluchtursachen weltweit angehen, wirtschaftliche Ausbeutung beenden!
  • Vertrauensbildende Maßnahmen, Aufbau einer kollektiven Friedensordnung unter Einschluss von Russland und China statt Eskalation der Spannungen!
  • Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages durch die Bundesregierung!
  • Zivile Konfliktlösungen - Förderung sozialer und ökologischer Entwicklung

Die Waffen nieder, Nie wieder Krieg!

Ich danke für eure Aufmerksamkeit.

 

Alfred Keienburg ist Vorsitzender pax christi Diözesanverband Essen und Mitglied im Essener Friedensforum.