Redebeitrag für den Ostermarsch Berlin am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Es ist wunderbar, dass wir zu so vielen hier versammelt sind. In dieser Zeit brauchen wir einander; tief verunsichert müssen wir miteinander reden, miteinander analysieren.

30 Jahre hat der Krieg in Afghanistan gedauert, gerade ist er vorbei, gerade sind auch die deutschen Soldaten als Geschlagene zurückgekommen – und schon sind wir in einem neuen Krieg. Aber nicht der Krieg in Afghanistan, nicht der Krieg im Irak, nicht der Krieg im Jemen, nicht der in Vietnam – alle diese Vorgängerkriege sind nie mit dem Begriff „Zeitenwende“ belegt worden. „Zeitenwende“ ist allein dem Krieg in der Ukraine vorbehalten. Ich möchte mit Ihnen heute darüber nachdenken, was diese Zeitenwende für unser Land bedeutet. Und das in tiefem Mitgefühl mit allen Menschen, die von diesem Krieg betroffen sind, die sterben, die vor ihm fliehen müssen, in Mitgefühl mit den russischen Müttern, die ihre Söhne verlieren und den ukrainischen Müttern, die ihre Söhne verlieren.

Als „Zeitenwende“ bezeichnet, wird diesem aktuellen Krieg in der Ukraine eine singuläre, eine epochale Bedeutung beigemessen. Alle Grundfesten seien nicht nur erschüttert, sie haben sich als nicht haltbar erwiesen, sie sind zusammengebrochen. Alles Gewesene gilt nicht mehr.

Doch stimmt das so? Ist seit dem 24. Februar etwa aus dem weltweiten Kriegsbündnis NATO ein Bündnis für Frieden und Völkerverständigung geworden? Oder verweigert seitdem die Bundesregierung den Kriegsdienst?

Wir als Friedensbewegung haben guten Grund, unsere Positionen selbstkritisch zu hinterfragen, vor allem, weil es uns nicht gelungen ist, diesen Krieg zu verhindern. Doch wir haben keinen Grund, uns einzureihen in die Schlange der bigotten reuigen Sünder à la Josef Fischer oder Frank-Walter Steinmeier. Unvergessen, wie Josef Fischer den Bombardements auf Belgrad als „Sühne für Ausschwitz“ eine fast religiöse Weihe verlieh.

Nein, im Krieg geht es nicht um das Gute, nicht um hehre Werte. Das hat uns Egon Bahr, der Architekt des Ausgleichs zwischen Ost und West gelehrt, er wäre in diesem Frühjahr 100 Jahre alt geworden. Er hatte gesagt: Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren anstatt über Interessen zu reden, dann ist es höchste Zeit den Raum zu verlassen.

Verlasse wir also den Raum wertebasierter Selbstbeweihräucherung und schauen, was sich in unserem Land in der proklamierten „Zeitenwende“ verändert.

Entsorgt werden die Mittel, die statt Krieg Ausgleich und Verständigung ermöglichen. Doch eine gemeinsame europäische Sicherheit ist nicht an zu viel Vertrauen, sie ist nicht an zu viel Diplomatie gescheitert, sondern an zu wenig Diplomatie und zu wenig Berücksichtigung der jeweiligen Interessen.

In der „Zeitenwende“ gelten Hass und Rassismus als politisch korrekt. Dafür steht beispielhaft jene Dame, die bei Lanz den Russen attestierte, sie sähen zwar wie Europäer aus, seien aber gar keine. War die Decke über dem Bild von „den Russen“ als „minderwertig“ und „Untermenschen“ wirklich so dünn? Dieser Hass, dieser Rassismus ist furchtbar!

In Teilen der Bundesrepublik hat die Polizei Ostermärschen die Auflage gemacht, dass keine sowjetischen Fahnen getragen werden dürften. Die Fahne, die auf dem Brandenburger Tor am 08. Mai 1945 gehisst wurde, darf auf Friedensdemonstrationen nicht gezeigt werden. Das kann doch nur heißen: Die Erinnerung an die Befreiung vom Faschismus auch und ganz wesentlich durch die Rote Armee soll gelöscht, der Schmerz um die 27 Millionen Bürgerinnen der Sowjetunion, darunter Ukrainer, Weißrussen, Russen soll dem Vergessen anheimfallen. Aber für uns gilt: Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen!

Und ausgerechnet jene Polizei, die darauf angesetzt wird, sowjetische, übrigens auch russische Fahnen als verbotene Symbole ausfindig zu machen, soll nicht in der Lage gewesen sein, das sowjetische Ehrenmal in Berlin Treptow vor NAZI-Schmierereien und Aufrufen zum Mord an jedem Russen zu schützen? Wenn etwas eine Schande von und für Berlin ist, dann die Hakenkreuze und Mordaufrufe in Treptow. Allein schon deshalb sollten wir uns alle am 08. Und 09. Mai an den Ehrenmalen Unter den Linden und in Treptow wieder treffen.

Die „Zeitenwende“ hat uns die Erweiterung des Bundeskabinetts um ein Propagandaministerium unter der Leitung des Rüpels Andrej Melnyk beschert, Verehrer des Nazikollaborateurs Bandera. Seitdem gilt der Grundsatz: Dämonisiere Deinen Feind, entmenschliche ihn. Ganz auf dieser Linie ist der russische Präsident Putin inzwischen ein wahlweise Irrer, Vergewaltiger, Kriegsverbrecher, Mörder. Dessen Kriegsziele werden ins Monströse verzerrt. So behauptet Michael Roth etwa, Sozialdemokrat, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und ehemaliger Staatsminister im Außenministerium, es sei Putins Ziel, „das ukrainische Volk faktisch zu vernichten, die Ukraine von der Landkarte verschwinden zu lassen.“ Mit so einem Monster kann man natürlich nicht verhandeln. Da gibt es nur eins: Das Monster muss militärisch besiegt werden.

Wie und warum ist es so weit gekommen? Weitgehend bekannt sind die Pläne von US-Strategen wie Friedman oder Brszinski mit ihrem Kern: Eine Verbindung zwischen dem russischen Osten und dem Westen Europas müsse unterbunden und eine eurasische Zusammenarbeit von Lissabon bis Wladiwostok verhindert werden.

Aber das kann doch nicht unser Interesse sein. Wir können Russland nicht aus dem gemeinsamen Kontinent vertreiben. Wir müssen hier mit ihm leben und am besten in Frieden.

Die „Zeitenwende“ entpuppt sich als Wende zum bellizistischen, zum Zeitalter des Krieges. Es wird aufgerüstet bis es (zusammen-)kracht. Da sind zunächst die 100 Milliarden Euro extra für die Bundeswehr plus jährlich über 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts, das ergibt in der Summe eine Steigerung des Rüstungshaushalts um sagenhafte 45 Prozent.

Die Logik des Krieges dominiert die Politik und durchdringt das gesellschaftliche Leben. Ein Beispiel: In der TV-Sendung Hart aber fair vom 11.04 wurde nicht gefragt: Wie kann Frieden in der Ukraine geschaffen werden, sondern (wörtlich): Was muss geschehen, damit die Ukraine siegen kann?

Siegfrieden hieß dieses Konzept im I. Weltkrieg und wir wissen, wie es endete: In einem zehrenden, zermürbenden Krieg mit ungeheuren Opfern auf beiden Seiten – und endlichen in einem Frieden, der nicht tragfähig war und schon bald in einem noch größeren Krieg zerplatzte.

Heute sind wir schon in einer Spirale zum Siegfrieden: Erst will die Bundesregierung keine Waffen liefern, dann Waffen zur Verteidigung, es folgen leichte, jetzt schwere Waffen... Die nächste Stufe ist vorgezeichnet: Über die Waffenlieferungen ist Deutschland bereits Kriegspartei und unser Land steuert auf die direkte eigene militärische Intervention zu.

Schon jetzt wird dieser Krieg allumfassend geführt als militärischer Krieg, Krieg um die Köpfe, als Krieg, dessen Schlachtfeld zwar die Ukraine ist, der aber vor allem in seinen Wirkungen schon nicht mehr regional begrenzt ist und als Wirtschaftskrieg, in dem es darum geht, wie unsere Außenministerin so treffend wie abstoßend sagte: Russland soll ruiniert werden. Ruiniert, kaputt gemacht, zerschlagen werden. Das soll beim Siegfrieden herauskommen!

Dazu bedarf es eines Klimas der Unversöhnlicheit.

Auf Sieg zu setzen, hat einen hohen Preis: Die Verlängerung des Krieges, noch mehr Opfer sowie das Risiko eines Kontrollverlustes, das etwas Schreckliches passiert, was so eigentlich nicht geplant war. Das gilt für beide Seiten.

Das Setzen auf Sieg ist das genaue Gegenteil einer emanzipatorischen Friedenspolitik, für die wir uns einsetzen. Denn es gehört zum Wesen des Krieges, das er die Normen der Zivilisation aufhebt. Krieg ist ein Rückfall in Barbarei – nicht nur in der Ukraine. Das wissen wir auch aus den Kriegen, deren Zeugen wir waren, aus den Kriegen etwa in Vietnam, im Irak, Afghanistan, Libyen, Mali, Jemen usw. usf.

Wir wissen auch recht genau, was heute und sofort zu tun wäre: Zuallererst: Keine Waffenlieferungen, keine Aufrüstung, keine hunderte von Milliarden für Mord und Zerstörung, sondern für Frieden, Bewahrung der Natur und ein gutes Leben für alle. Wir wissen, dass wir Vermittler zwischen den Kriegsparteien brauchen, die Wege zu Verhandlungen und einem Kompromissfrieden ebenen. Und wir wissen leider auch, dass wir derzeit noch zu schwach sind, diese einfachen Dinge durchzusetzen.

Was uns bleibt, ist dennoch viel: Wir können uns dem Mainstream entgegenstellen, wir können NEIN sagen zu dem rasend gewordenen Willen zu immer mehr Zerstörung und Hass.

Wo unsere Politiker offensichtlich dabei sind, dem Kompass für verantwortliches Handeln zu verlieren, können wir die eingeleiteten Entwicklungen vom Ende her denken und fragen: Wollen wir den 3. Weltkrieg? Wollen wir „die Russen“ ins Meer treiben? Nein und abermals Nein! Wir wollen aufzuklären, Ideen zum Frieden entwickeln, dem Hass und der Verleumdung Menschenliebe und Respekt entgegensetzen. Das ist ein Leben, das sich lohnt! Und es ist unsere Osterbotschaft im Jahr 2022.