Iran des Nordens oder Back in the USSR
So geht Entschleunigung: Siemens zieht sich aus Russland zurück. Die umgebauten ICEs fahren bald nicht mehr
So geht Entschleunigung: Siemens zieht sich aus Russland zurück. Die umgebauten ICEs fahren bald nicht mehr
Sergey Korovkin 84 - Own work, CC BY-SA 3.0

Russland wird von Spitzentechnologien abgeschnitten und kehrt allmählich in die spätsowjetische Stagnationsepoche zurück. Doch kann das von Putin zwangsverordnete Digital Detox auch guttun. Das ist der fünfte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen". (5/7)

                                                        * * *

Der am 16. Mai verkündete Rückzug der Firma McDonalds vom russischem Markt entbehrt nicht einer starken symbolischen Wirkung: Vor 32 Jahren – die Sowjetunion konvulsierte noch vor sich hin – wurde McDonalds zum Zeichen der neuen Zeiten. Bei der Eröffnung der ersten Filiale im Zentrum Moskaus standen Menschen stundenlang Schlange, um für einen Big Mac mehr auszugeben als für eine monatliche Busfahrkarte. 2022 standen sie auch lange Schlangen, um zum letzten Mal in absehbarer Zeit ebendiesen Big Mac zu verschlemmen. Eine Epoche geht zu Ende.

Der wenig früher angekündigte Rückzug von Siemens – immerhin war die deutsche Firma fast 170 Jahre in Russland präsent – dürfte zur Folge haben, dass die umgebauten ICEs nicht wie früher im Zweistundentakt zwischen Moskau und Petersburg verkehren. Statt vier wird man dafür wohl zehn Stunden brauchen. Die späten Sowjetzeiten, deren ständige Begleiter technischer Rückstand, Tauschhandel mit Bückwaren und natürlich Schlangestehen waren, kehren allmählich zurück. Die Erfahrung ist bei den älteren und abgehärteten Vertretern der Gattung Homo Soveticus reichlich vorhanden: Im Arbeiter-und-Bauern-Staat verbrachte man ein Viertel der Freizeit in der Warteschlange [1].

Die Konjunkturprognose ist mies, für 2022 ist selbst nach offiziellen Angaben mit einer BIP-Senkung um die 10% zu rechnen [2], was an sich mehr ist als im Staatsbankrottjahr 1998. Die weiteren Folgen werden unmittelbar daran geknüpft sein, wie das künftige Öl-Embargo aussehen wird. Stand heute [Mitte Mai] versteht man noch nicht exakt, welche Importkategorien Russland ersetzten könnte. Fest steht nur, dass in jeder Lieferkette, selbst in der einfachsten, immer ein westliches Teilchen drin ist. Holländische Krankheit lässt grüßen: Man konnte alles im Ausland kaufen und sah für sich keinerlei Anreize die Abhängigkeit von Importen zu verringern. Das Land ist reich an sehr vielen unterschiedlichen Rohstoffen, deren Export die Haupteinnahmequelle für das Staatsbudget ist. Es gibt in Russland aber keine konkurrenzfähige Industrie.

Die Abkoppelung fast aller russischen Banken vom Zahlungssystem SWIFT hat zur Folge, dass die Finanzinstitutionen weltweit ihre Arbeit mit Russland komplett einstellen. Mit russischen Kreditkarten kann man im Ausland nicht mehr bezahlen. Die Finanzierung für die russischen Staatsunternehmen wurde enorm erschwert. Ein folgenreicher Schritt ist das durch die EU verhängte Verbot der Flugzeuglieferungen, welches die gesamte Luftfahrttechnik umfasst sowie deren Wartung und Versicherung [3]. Die bestehenden Verträge wurden auch gekündigt, Russland muss also die geleasten Flugzeuge zurückgeben. Obschon es die russische Regierung den Fluggesellschaften erlaubte, diese Flugzeuge in ihrem Besitz beizubehalten, sind sie ohne Wartung und Ersatzteile bald flugunfähig. Da die Boeings und Airbusse die absolute Mehrheit der russischen Flugzeugflotte ausmachen, bedeutet das für die zivile Luftfahrt mittelfristig das Aus. „Der russischen Luftfahrt werden Flügel gebrochen“, schreibt eine bedeutende russische Wirtschaftszeitung [4].

Der Wechselkurs des Rubels entspricht nicht mehr dem tatsächlichen Marktkurs, da der Währungshandel in Russland eingeschränkt wurde. Die nach dem Kriegsausbruch ausgebrochene Panik und Hamsterkäufe bekämpfte die russische Zentralbank mit einer Reihe von restriktiven Maßnahmen: Der abhebbare Maximalbeitrag in Dollar und Euro wurde reduziert, die Überweisungen ins Ausland limitiert. Damit hörte der Rubel auf, eine frei konvertierbare Währung zu sein. Genau wie zu Sowjetzeiten gibt es mehrere Kurse: einen offiziellen und daneben viele tatsächliche. In Banken und Wechselbuden wird man Rubel in Dollar mit dem offiziellen Währungskurs nicht mehr tauschen können. Die Inflationsrate beträgt bis zum Jahresende voraussichtlich 20%. Die Realeinkommen werden ohne Mitberechnung von Folgen des Ölembargos um 7% sinken. Damit kehren die Werte zum Niveau des Jahres 1999 zurück [5].

Das im russischen gesellschaftlichen Diskurs omnipräsente Wort „Importsubstitution“ ist natürlich eine Mär. Die russischen Chiphersteller wurden von den taiwanischen Fabriken und westlichen Technologien abgeschnitten, was die Produktion moderner Elektronik unmöglich macht. Am Tag der Invasion verhängte das Bureau of Industry and Security, eine mit nationaler Sicherheit und hohen Technologien befasste amerikanische Behörde, weitreichende Exportverbote mit dem Ziel, russische Verteidigungsindustrie, Raumfahrt und Seeverkehr hart zu treffen sowie Russland vom Technologieexport abzutrennen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Das Exportverbot von Halbleitern, Computern, Telekommunikationsgeräten, Lasern und Sensoren hat in der heutigen Realität gravierende Konsequenzen.

Anfang Mai wurde in Russland Parallelimport (sprich: Piratenwirtschaft) legalisiert. Für die Einfuhr vieler Warenkategorien, allen voran Technologiegeräte, Haustechnik und Luxuswaren, ist jetzt keine Erlaubnis des Herstellers notwendig. Die Lieferkette wird man in viele Kleinteile unterteilen müssen, damit das Schema weniger auffällig ist. Die auf diesem Wege eingeführten Waren werden aber deutlich teurer, da die Zwischenhändler bezahlt werden müssen.

Westliche Firmen verlassen jetzt Russland aus freien Stücken, sie müssen nicht dazu gezwungen werden. Die schiere Präsenz auf dem russischen Markt bedeutet einen auf absehbare Zeit nicht wieder gutzumachenden Reputationsschaden, welcher schwerer wiegt als die möglichen finanziellen Verluste. Auch mit den westlichen Investitionen ist es jetzt vorbei. Vor dem 24. Februar war Russland in wirtschaftlicher Hinsicht ein Hochrisikoland, doch konnte es mit seiner guten Zahlungsbilanz, insgesamt hohen Rohstoffpreisen, hohem Bildungsgrad und Entwicklung in der IT-Branche einige Investoren locken.

Kurzfristig können die Sanktionen weder Putins Kriegsambitionen in der Ukraine herunterstufen noch Russland von der eigenen Waffenproduktion abhalten. Diese Waffen sind zwar im Vergleich zu denen der NATO-Länder wie aus der Steinzeit, doch sind auch diese todbringend. In zirka fünf Jahren, welche die Ukraine nicht hat, wird Russland der NATO-Allianz militärisch nichts entgegensetzen können. In zehn Jahren – wenn es überhaupt so weit kommt – gibt es genau wie in der Endphase der Sowjetunion nur noch Stillstand und Stagnation. Und natürlich wird es aus wirtschaftlichen Gründen keinen Aufstand gegen Putins Herrschaft geben, zumal die Revolutionen in Russland immer in den Hauptstädten stattfanden. Moskau wird man wohl bis zuletzt über Wasser halten. Die Effekte westlicher Sanktionspolitik kann man mit der Sterilisation eines laut schreienden und stets nervenden Katers vergleichen.

Der letzte russische Monarch verurteilte die russische Nation zu einer digitalen Entgiftung (neudeutsch: Digital Detox). Das Leben in Russland der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts verliert an Turbulenz und entschleunigt sich. Ist das nicht die Chance, zu den Ursprüngen zurückzukehren und auf einer zehn statt vier Stunden dauernden Zugreise zwischen den russischen Hauptstädten den Lieblingsphilosophen Putins – den er zwar nie las und dessen Zitate er einfach in seine Reden einfügen ließ – Nikolai Berdjajew aufzuschlagen? Immerhin schrieb Berdjajew: „In der Seele des russischen Volkes gibt es dieselbe Unermesslichkeit, Grenzenlosigkeit, Bestrebung nach Unendlichkeit wie im russischen Flachland [6]“. Jetzt wird man mehr Zeit haben, dieses vorbeiziehende Flachland zu beobachten. Wer weiß, vielleicht macht man sich dabei den einen oder anderen Gedanken darüber, warum es so kommen musste.  

 

 

 

Alexander Zaslawski

 

 

Über diesen Blog:

Das ist der fünfte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen", welche ich im Rahmen meines Praktikums beim Netwerk Friedenskooperative erstelle. Ich freue mich über Anregungen, Feedback und Kritik. Ich bin unter a [dot] zaslawski [at] friedenskooperative [dot] de zu erreichen.

 

Fußnoten:
[1] https://vn.ru/news-bitva-za-pivom-istoriya-ocheredey-v-sssr/

[2] https://www.russland.capital/russisches-bip-wird-um-mehr-als-10-prozent-...

[3] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2022:049:FU..., Seite 31 (Article 3c)

[4] https://www.kommersant.ru/amp/5236969?fbclid=IwAR2GwIvk6nVMdbq52aRV_T7sM...

[5] https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2022/03/17/914056-tsmakp-vliyanie-sanktsii

[6] https://ru.wikiquote.org/wiki/%D0%9D%D0%B8%D0%BA%D0%BE%D0%BB%D0%B0%D0%B9...