Kurz- und mittelfristige Perspektiven
9. Mai 2022. Fahneninschrift "Für unser sowjetisches Vaterland" bringt den gegenwärtigen Geschichtsmarasmus in Russland ziemlich genau auf den Punkt
9. Mai 2022. Fahneninschrift "Für unser sowjetisches Vaterland" bringt den gegenwärtigen Geschichtsmarasmus in Russland ziemlich genau auf den Punkt
Mos.ru, CC BY 4.0

Die Einstellung der Kriegshandlungen lässt auf sich warten. Die Ukraine geht als Sieger hervor, wird aber wahrscheinlich territoriale Verluste im Osten hinnehmen müssen. Was die nähere Zukunft angeht, sind die Würfel gefallen: Die Ukraine wird EU-Mitglied, das russische Regime geht unter. Das ist der sechste Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen". (6/7)

                                                        * * *

Die aktiven Kriegshandlungen im Osten der Ukraine werden mindestens bis zum Hochsommer dauern, dann geht  der Konflikt aller Wahrscheinlichkeit nach in die Phase eines langwierigen Positionskrieges über. Dafür sprechen allenfalls zwei Umstände: die Unmöglichkeit der Kompromissfindung und die daraus resultierende Ziellosigkeit jeglicher Friedensverhandlungen. Das Märztreffen der beiden Delegationen in Istanbul hatte aus russischer Sicht nur zum Ziel, den ins Stocken geratenen Aufmarsch als Zugeständnis zu verpacken bzw. mehr Zeit für die Truppenneuaufstellung zu gewinnen. Eine russische Anekdote bringt die gegenwärtige Situation perfekt auf den Punkt: „Mit Bolschewiken habe ich nur noch in der Agrarfrage eine kleine Unstimmigkeit. Sie möchten, dass ich in der Erde liege und ich, dass sie es tun“. Kein Friedensvertrag ist in Sicht.

Putin will eine bedingungslose ukrainische Kapitulation sowie die Anerkennung der russischen Souveränität über alle – sowohl 2014 als auch jetzt – annektierten Gebiete erzwingen. Die Ukraine will nicht klein beigeben, 82% der Ukrainer lehnen territoriale Zugeständnisse im Austausch für den sofortigen Frieden ab [1]. Die eigenen militärischen Erfolge lassen die Forderungen nach der Rückeroberung aller von Russland okkupierten Gebiete lauter werden. Zwar kommt die Einnahme des die Krim und Südrussland verbindenden Landweges dem ursprünglichen Ziel des Machtwechsels in der Ukraine nicht mal annähernd nahe. Dieser wäre im Übrigen 2014 ohne große Schwierigkeiten umzusetzen, als sich das Land in einem völlig demoralisierten Zustand befand und über keine funktionierende Armee verfügte. Doch kann man nach der Angliederung der neu okkupierten Landstriche an Russland – äußerst wahrscheinlich direkt durch ein pseudojuristisches Prozedere, da ein inszeniertes Referendum im Gegenteil zur Krim-Annexion zu gefährlich wäre – behaupten, dass ein Rückeroberungsversuch dem Angriff auf die territoriale Souveränität Russlands gleichkommt und mit allen Mitteln, inklusive Massenvernichtungswaffen, bekämpft werden darf. Zudem ist die Verteidigung immer einfacher als der Angriff.

Da es bei der „Sonderoperation Z“ keinen Plan B gab, will jetzt Putin mit seiner Kriegstaktik der verbrannten Erde eine humanitäre Katastrophe herbeiführen, die Ukraine durch die Zerstörung ihrer kritischen Infrastrukturen ausbluten lassen und zur Unterzeichnung des Friedensvertrags unter seinen Bedingungen zwingen. Die Ukraine und ihre Verbündeten – das ist heute die ganze zivilisierte Welt – hoffen wiederum, dass Russland das Geld für die Kriegsführung ausgeht und es den Rückwärtsgang einlegen muss. Mit bis zu zehn Millionen ukrainischen Flüchtlingen in Europa, der Blockade der Getreideausfuhr sowie wachsenden Energiekosten will Putin die EU destabilisieren und seine Einwohner zur Wahl neuer, russlandfreundlicherer Regierungen zwingen. Entsprechende Botschaften werden von höchsten russischen Regierungsbeamten transportiert, die als informelle Putin-Sprecher fungieren [2]. Im Gegensatz zum russischen Volk, welches nie gut lebte und zu leiden gewöhnt ist, ließe sich der Westeuropäer nach Putins Logik die Verschlechterung seiner Lebensqualität infolge der Sanktionspolitik eigener Regierung nicht gefallen. Putin hat auch zwei wichtigste Ressourcen, die den westlichen Staatschefs abhandenkommen: Zeit (er braucht sich nicht um die Wiederwahl zu kümmern) sowie die unendliche Geduld und Klaglosigkeit des russischen Volkes, dem er keine Rechenschaft ablegen muss.

Das sind kurzfristige Perspektiven. Obwohl für die Ukraine erhebliche territoriale Verluste im Osten dazukommen und nun ein Fünftel ihres Staatsgebiets von Russland okkupiert ist [3], kann – behält man die ursprünglichen Kriegsziele Russlands im Kopf – nicht von einer Niederlage gesprochen werden. In diesem Krieg kann und wird es nur einen Verlierer geben: Das faschistische russische Regime, dessen Krämpfe sich abzuzeichnen beginnen. Unfreiwillig beschleunigte Putin mit seinen Fehlkalkulationen und gescheitertem Blitzkrieg die sowieso unausweichlichen Entwicklungen, für die es ohne diesen Krieg womöglich noch einiger Jahrzehnte bedürfte.

Im Kampf gegen die russische Invasion wurde die Ukraine – und anders hätte es nicht kommen können, wenn man es mit den sogenannten westlichen Werten ernstmeint – überall auf der Welt zu einer absoluten Sympathieträgerin. Zwar qualifiziert ein demokratisches und damit dem russischen diametral entgegengesetztes politisches System (immerhin gab es in der unabhängigen Ukraine freie Wahlen) ein armes und hochkorrumpiertes Land nicht automatisch für die EU-Mitgliedschaft. Die nach der Maidain-Revolution beschlossenen Reformen gingen langsam vonstatten und zeitigten nicht die gewünschte Wirkung. Mittelfristig scheint aber die EU-Mitgliedschaft der Ukraine infolge ihres in Form eines Verteidigungskrieges ausgetragenen Kampfes für die europäische Zukunft mehr oder weniger gesichert zu sein.

Die Prognose des französischen Vizeministers für europäische Angelegenheiten, bis zur ukrainischen EU-Vollmitgliedschaft werden es 15 oder 20 und keine paar Jahre sein [4], ist angesichts der Menge der noch zu leistenden Arbeit zutreffend. Zu leisten wäre auf jeden Fall die Bekämpfung der alle gesellschaftlichen Sphären durchziehenden Korruption [5], die tatsächliche Unabhängigkeit der Justiz sowie die Eliminierung der für Osteuropa symptomatischen Gattung „Oligarch“. Wie gesagt: Seit dem Euromaidan 2014 wurde da einiges getan, doch kann die Ukraine nach dem Kriegsende die für den Beitrittskandidaten obligatorischen Koppenhagener Kriterien nicht erfüllen. Die Neuauflage des Marshallplans für den Wiederaufbau des Landes wird es garantiert geben. Das birgt Konfliktpotential: Der neue Churchill namens Wolodimir Selenskyj wird ein Teil der Souveränität an die Kreditgeber abgeben müssen, bei einem Wiederaufbauprogramm dieser Größe bekommt die Ukraine all die dafür notwendigen Milliarden nie direkt ausgehändigt. Es zu tun, wird ihm und seiner Regierung garantiert nicht leichtfallen. Doch kann es gut sein, dass er 2024 gar nicht erneut zu den Präsidentschaftswahlen antritt und glatt als Nationalheld in die ukrainische Geschichte eingeht, um sich dann genau wie Churchill der Literatur zu widmen.

Auf Russland wiederum rollt erneut die Zeit der Wirren zu. Der kleptokratische Autoritarismus, welcher den russischen Eliten Anfang der 1990er Jahre als optimale Regierungsform für ihre Status- und Vermögenserhaltung vorkam sowie sie dazu bewog, Putin als Garant ihrer Interessen an die Macht zu führen, war von vornherein eine Sackgasse. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verpasste Russland die Chance, sich seiner Vergangenheit zu stellen und diese schonungslos aufzuarbeiten. Für diese totalitäre Vergangenheit hätte man Buße tun müssen. Dann hätte man den Verlust im Kalten Krieg anders interpretieren können, nämlich als die Befreiung vom Totalitarismus und das Ende der kommunistischen Unterjochung. Der politische Wille war aber nicht da: Dutzende Millionen Menschen verloren ihren sozialen Status und waren verarmt. Gleich mit Putins erster Amtsperiode trieb man die Atomisierung der russischen Gesellschaft voran, politische und gesellschaftliche Teilhabe waren unerwünscht. Die Ukrainer dagegen nahmen am Schicksal ihres nun unabhängigen Landes aktiv Teil und führten zwei Revolutionen herbei.

Putins Regime machte den 9. Mai – der sogenannte „Tag des Sieges“ im „Großen Vaterländischen Krieg“ – zu seiner Hauptlegitimationsquelle. Im Angesicht von 27 Millionen sowjetischen Toten im Zweiten Weltkrieg hätte es eher „Tag der Trauer“ sein müssen, doch wurden stattdessen abscheuliche Parolen wie „Wir können es mal wieder“ in Umlauf gebracht. Auch erwähnte man irgendwie nicht, dass die sowjetischen Helden vom Brandenburger Tor direkt in den GULAG fuhren. Der Siegeskult ebnete dem russischen Faschismus den Weg.

Putin ist der letzte russische Monarch. Er führte nochmal eindrücklich vor Augen, was ein Despot ohne Mechanismen demokratischer Kontrolle anrichten kann. Jetzt verurteilte er Russland zur Buße, er zwang ja Russland zur Buße. Das gesellschaftliche Leben eines jeden Landes wird von den kreativen paar Prozent der Nation bestimmt bzw. vorangetrieben, von daher sind die jetzigen Zustimmungswerte für Putins Politik völlig unerheblich. Deutschland und Japan – obschon die japanische Vergangenheitsbewältigung der deutschen in ihrer Intensität nicht gleichkommt – machen vor, wie sich eine totalitäre Diktatur in eine demokratische, wohlhabende und weltweit bewunderte Nation verwandeln kann. Bis Russland diesen Weg beschreitet, bleibt es ein Pariastaat ohne Verbündete. Die schonungslose  Aufarbeitung sowjetischer Vergangenheit wird von Phantomschmerzen des verletzen Nationalstolzes begleitet, doch ist dieser Weg unausweichlich. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis man damit anfängt. Zweifle aber nicht daran, dass Russland irgendwann eine parlamentarische Demokratie sein wird sowie sein totalitäres Erbe aufarbeitet und überwindet.  

 

 

 

Alexander Zaslawski

 

 

Über diesen Blog:

Das ist der sechste Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen", welche ich im Rahmen meines Praktikums beim Netwerk Friedenskooperative erstelle. Ich freue mich über Anregungen, Feedback und Kritik. Ich bin unter a [dot] zaslawski [at] friedenskooperative [dot] de zu erreichen.

 

Fußnoten:
[1] https://focus.ua/amp/voennye-novosti/516637-82-ukraincev-ne-podderzhivayut-otkaz-ot-territoriy-radi-zaversheniya-voyny-socopros-kmis

[2] Es reicht, einen Blick in die Telegramm-Kanäle von Dmitrij Medwedew (der ehemalige Präsident hat einen unbedeutenden Posten inne und spielt im Gefüge der russischen Macht keine große Rolle, geriert sich aber als Hardliner) oder dem Duma-Sprecher Slawa Wolodin zu werfen

[3] https://forbes.ua/inside/ploshcha-okupovanoi-ukraini-vtrati-rosiyskoi-tekhniki-ta-17-dib-stolichnikh-trivog-10-faktiv-pro-tri-misyatsi-viyni-vid-forbes-infografika-24052022-6167

[4]https://www.derstandard.de/jetzt/livebericht/2000135939042/gefangenenaus...

[5]  https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/315529/ranking-korruption-und-r...