Scham, Untertauchen, Defensivhaltung
Zwei Welten prallen in Hannover aufeinander: pro-russischer Autokorso und alternative russische Fahne
Zwei Welten prallen in Hannover aufeinander: pro-russischer Autokorso und alternative russische Fahne
Hangover Ucraine - Own work, CC BY-SA 4.0

Was tun, wenn im Namen deines Heimatlandes ein Vernichtungskrieg begonnen wird? Das ist der dritte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen". (3/7)

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Über die russische Diaspora und die ihr gegenüber seit Kriegsbeginn vorherrschende Haltung zu sprechen erscheint in den Zeiten des unermesslichen Leids von Menschen in der Ostukraine nolens volens als eine undankbare Aufgabe. Zwangsläufig läuft man Gefahr, propagandistische Narrative über die „Russophobie“ aufzugreifen und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Trotzdem sehe ich mich als Auslandsrusse veranlasst, ein paar Worte darüber zu verlieren. Zumal ich ein in vielerlei Hinsicht repräsentativer Vertreter der russischen „Generation Z“ bin, der in einer Moskauer Mittelschichtsfamilie aufwuchs und kurz nach der Schule Putins Russland den Rücken gekehrt hat.

Es wäre womöglich keine Übertreibung zu sagen, dass der im Namen des russischen Staates begonnene Krieg jeden betrifft, der nur mittelbar einen Russland-Bezug hat. Egal, wie reflektiert und aufgeklärt die Allgemeinheit ist: Jeder im Ausland lebende und halbwegs reflektierte Russe soll deutlich machen, dass 1.) er nicht auf Putins Seite steht, 2.) diesen und Handlungen der russischen Armee aufs Schärfste verurteilt, 3.) den Krieg beim Namen nennt, 4.) sich wie jeder zivilisierte Mensch heutzutage mit der Ukraine solidarisiert. Das ist für viele das absolute Minimum, welches es zu erfüllen gilt, damit man nicht beargwöhnt wird. Selbst danach schwingt die russische Herkunft immer mit. Das ist verständlich, zumal hier unterbewusste Mechanismen im Spiel sind. Die Deutschen mussten es während des Zweiten Weltkrieges sowie eine Weile danach auch erleben, den dimensionalen Unterschied zu beklagen bringt hier natürlich nichts. Zudem reimt sich die Geschichte bekanntlich nur.

Jeder, der sich zu einer Stellungnahme genötigt fühlt – sei es eher freiwillig durch Gewissensbisse oder eher unfreiwillig durch Gesinnungsprüfung – vollzieht diese auf eigene Weise und mit unterschiedlicher Intensität. Für manche gelingt es, ein ukrainisches Fähnchen auf das Profilbild zu platzieren, damit auf Anhieb sichtbar wird: Ich bin auf der richtigen Seite. Andere gehen demonstrieren und engagieren sich für geflohene Menschen. Noch andere treten ein Praktikum in einer Friedensorganisation an. Es gibt aber auch welche, die in die Defensive gehen und sich als Opfer der Russophobie wähnen, jenes von der russischen Propaganda in Umlauf gebrachten Wortes, das alle persönlichen Missgeschicke der im Ausland lebenden Russen durch ihre Herkunft zu erklären hilft. Viel mehr als die russische Trikolore zu schwenken, Sowjetlieder zu singen und in Autokorsos durch die deutschen Städte zu hupen bleibt den Putin-Jüngern nicht. Doch dürfte die Zahl der Auslandsrussen, die im Metaversum der russischen Propaganda Zuflucht fanden, genauso überschaubar sein wie die derer, die in Russland den Krieg in vollem Maße begreifen. Es ist menschlich verständlich, dass diese wundersamen Menschen medial viel beleuchtet werden: Zu widerlich ist ihre „Meinung“, sie erscheint heute fast verbrecherisch.

Es ist wahrlich keine gute Zeit, um Russe zu sein. Wenngleich die Anfeindungen gegen die Menschen russischer Herkunft natürlich keinen Massencharakter haben, sind für manche die alltäglichen Ein- und Beschränkungen eher selbst auferlegt. Viele wollen nicht als Russen erkannt werden, empfinden das Vorzeigen des russischen Passes als peinlich, wollen sich schnellstmöglich einbürgern lassen. Da hilft das Tragen eines Buttons mit der ukrainischen Fahne auch kaum. Die Krux, aus jenem Land zu stammen, muss man heute einfach tragen. Im Übrigen ist die schwierigste aller Sanktionen die Abneigung gegenüber allem Russischen, vor allem gegen die große russische Kultur. Für die im Ausland lebenden Menschen, die sich dieser Kultur zugehörig fühlen (es sind Emigranten aus der ganzen Ex-Sowjetunion), ist es sehr wichtig zu zeigen: Putin ist nicht Russland. Erinnern wir uns daran, was der Duma-Sprecher Slawa Wolodin 2014 sagte („Gibt es Putin – gibt es Russland, gibt es Putin nicht – gibt es Russland nicht“ [1]), kann man die Parole weiterdenken: Dieses Russland ist kein echtes Russland.

So ist das nur folgerichtig, dass eine von den im Ausland lebenden russischen Intellektuellen und Kulturschaffenden ins Leben gerufene Stiftung „Echtes Russland“ heißt [2]. Der vom russischen Diktator entfesselte Krieg sei ein Schlag für all diejenigen, die sich der russischen Kultur zugehörig fühlen und Russisch sprechen. Das Wort „russisch“ sei jetzt in der ganzen Welt toxisch geworden. Zuerst wolle man den ukrainischen Flüchtlingen, dann denen helfen, die aus Russland fliehen. Durchaus edle Absichten, zumal die jetzt auswandernden Russen auf sich alleine gestellt sind. Für die Zukunft der Ukraine werden jedoch die gesperrten Milliardenvermögen russischer Oligarchen, die jede Stiftung und Wohltätigkeitsorganisation wie Tropfen auf dem heißen Stein erscheinen lassen, eine entscheidende Rolle spielen [3]. Da sich ebendiese Oligarchen auf Kosten der Allgemeinheit und im Zuge der verbrecherischen Privatisierung der 1990er Jahre bereicherten, wäre es nicht falsch zu sagen, dass die Russen den Marshallplan für die Ukraine maßgeblich mittragen sollten. Nur unfreiwillig, wie es in Russland leider fast überall so ist.

Einige lassen die Gedanken in die Zeit nach Putin schweifen, fassen schon ein anderes Russland ins Auge: eine parlamentarische Demokratie europäischen Musters. Sogar eine neue, weiß-blau-weiße Flagge wurde entworfen, da sich die heutige Fahne absolut diskreditierte und auch sichtbar sein muss, dass Menschen russischer Herkunft bei den Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine dabei sind. Die Farbauswahl ist eine Anspielung auf die Nowgoroder Republik, den mittelalterlichen russischen Staat, der als Wiege der russischen Demokratie gilt. Zudem ist die Fahne ähnlich aufgebaut wie die weiß-rot-weiße belarussische Flagge, die von der Opposition ebenso in Anlehnung auf die Vergangenheit und als Gegenentwurf zum sowjetisch angehauchten Staatslogo aufgegriffen wurde. Die Symbolik eines Landes zu zeigen, welches es nie gab und – seien wir realistisch – nie geben wird, zeugt von einer enormen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Dieser für finstere Zeiten nicht unübliche gedankliche Eskapismus darf nicht von der Tatsache wegführen, dass die Auslandsrussen auf Putins Handlungen keinerlei Einfluss haben. Natürlich wurde die Fahne in Russland zügig verboten.  

Bei allem Verständnis für den Schmerz der Ukrainer – es führt kein Weg daran vorbei, dass manche jetzt ihrem Russenhass freien Lauf lassen. Die Äußerungen des ukrainischen Botschafters Melnyk, alle Russen seien im Moment Feinde für die Ukraine, sowie seine Weigerung, zwischen „guten“ und „schlechten“ Russen zu unterscheiden, kann man angesichts seiner Rolle noch verstehen. Schließlich befindet er sich in einem asymmetrischen Kampf um die Meinung der deutschen Öffentlichkeit und darf auf Provokation setzten. Schaut man sich aber auf Demonstrationen um, stechen manchmal schnell russenfeindliche Parolen ins Auge: Zu sehen gab es das Wort „Russensau“ (kyrillisch русня, ein extrem beleidigendes und ins Deutsche schwer übersetzbares Wort [4]). Am 06. April sang ein Mädchen auf einer Demonstration vor dem Bundestag anlässlich der Toten in der Ukraine ein Lied mit den Strophen „Die Ukrainer vereinigten die ganze Welt gegen Russensauen / Bald gibt es gar keine Russensauen mehr“. Tosender Applaus folgte [5]. Zwar handelt es sich eher um Randerscheinungen, doch muss man sie der Vollständigkeit halber auch erwähnen. Zumal die zusammengeschweißte ukrainische Nation nationalistischer und antirussischer sein wird.

Ob man es gut oder schlecht findet: Die russische Diaspora löst sich nicht in Luft auf, auch wenn manche ihrer Vertreter momentan lieber kurz untertauchen. Putin sorgt jetzt noch für ausreichend Nachschub. Auch in hundert Jahren hört man Russisch überall in Europa auf den Straßen, Tschechows „Kirschgarten“ wird aufgeführt und Schostakowitsch gespielt. Ein knapp 140 Millionen Menschen zählendes und auf allen Kontinenten verstreutes Volk kann man natürlich nicht über einen Kamm scheren. Zum Glück versucht es auch fast niemand. Die Russen soll man nicht unter Generalverdacht stellen, allemal die jungen. Egal, ob und wie stark man an die Kollektivschuld glaubt.

 

 

Alexander Zaslawski

 

 

Über diesen Blog:

Das ist der dritte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen", welche ich im Rahmen meines Praktikums beim Netwerk Friedenskooperative erstelle. Ich freue mich über Anregungen, Feedback und Kritik. Ich bin unter a [dot] zaslawski [at] friedenskooperative [dot] de zu erreichen.

 

Fußnoten:

[1]https://www.mk.ru/amp/politics/2014/10/23/volodin-est-putin-est-rossiya-net-putina-net-rossii.html

[2]https://truerussia.org/

[3]https://orf.at/stories/3262243/

[4]https://www.anews.com.tr/world/2022/02/27/more-than-100000-people-in-ber... (Links unten auf dem Bild: "Russensauen raus")

[5]https://www.youtube.com/watch?v=a-_Gw3kJVYA [ab 1:41:55]