Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

Atomwaffen, gemeinsame Sicherheit, einseitige Abrüstung

von Werner Koep-Kerstin

Die Fokussierung der Massenproteste der Friedensbewegung auf die mit dem NATO-Doppelbeschluss der NATO angedrohte Stationierung der amerikanischen Pershing-II-Raketen im Falle des Verbleibs der sowjetischen SS-20-Raketen war wesentlich für die Delegitimierung von Hochrüstung, Kriegsführungsstrategien und der Abschreckungsdoktrin.

US-Kriegführungsplanungen mit gezielten atomaren Schlägen gegen Militärzentren in der Sowjetunion wurden bekannt. In der seit 1982 gültigen US-Heeresdienstvorschrift "Field Manual 100-5" (AirLand-Battle-Doktrin der NATO) hieß es, im Kriegsfall gehe es um den "erkennbaren Sieg" der eigenen Truppen, nicht mehr nur um Defensive auf dem eigenen Territorium, wie Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Altenburg noch erklärt hatte. (1) Der Friedensbewegung war es gelungen, einen wirksamen Thematisierungs-, Rechtfertigungs- und Reaktionsdruck auf die etablierte Politik aufzubauen, vor allem in der SPD.

Die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, insbesondere die Bewegung gegen Atomkraftwerke, hatten bereits „Vorarbeit“ geleistet und für Engagement in zahllosen Basis- und Bürger-Initiativen gesorgt. Mit der Parteigründung der Grünen 1980 und dem Erfolg bei der Bundestagswahl 1983 war die Ökologie-Bewegung, die auch immer die Bedeutung des Friedens für den Erhalt der Schöpfung betonte, parlamentarisch vertreten. Starke Impulse erhielt die Friedensbewegung von den Kirchen. Ein weiter Friedensbegriff lag dem konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zugrunde, den die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Vancouver 1983 beschloss. Der Aufruf fand ökumeneweit, auch in der römisch-katholischen Kirche, große Zustimmung. (2)

Friedensbewegung und Friedensforschung beschäftigten sich in den 1980er Jahren intensiv mit vielfältigen alternativen Wegen zur Sicherung des Friedens. Friedensperspektiven, die sich auch auf innergesellschaftliche Zustände richteten, Feindbild- und Bedrohungswahrnehmungen bearbeiteten, sich auf eine gemeinsame europäische Friedensordnung richteten und zu dem führten, was dann unter gewaltfreier ziviler Konflikbearbeitung verstanden wurde, haben in den achtziger Jahren ihre wesentlichen Grundlagen erhalten. Es gehörte auch zum Kanon der Forderungen der Friedensbewegung, sich für eine bessere Finanzierung und Infrastruktur der Friedens- und Konfliktforschung und für die Friedensbildung durch unterschiedlichste Bildungsträger einzusetzen. Unmittelbare Begegnungen von deutschen und sowjetischen oder auch polnischen Friedensgruppen sollten zur Verständigung und zum Abbau von Feindbildern beitragen.

Die Forderungen der Friedensbewegung bezogen sich auf vier große Bereiche, in denen Konzeptionen von prinzipiellen Alternativen zur offiziellen Sicherheitspolitik vorlagen bzw. entwickelt wurden. Es ging um Konzeptionen einseitiger Abrüstung, Vorschläge und Modelle atomwaffenfreier Zonen, militärische Defensiv-Konzepte und viertens um Vorschläge für eine politische Neugestaltung Europas unter den Stichworten Gemeinsame Sicherheit, Neutralismus, Blocküberwindung, Kollektive Sicherheit.

Einseitige Abrüstung
Die Popularität einseitiger Abrüstung in großen Teilen der Friedensbewegung war auf die enttäuschenden Resultate der Rüstungskontrollpolitik zwischen Ost und West in den siebziger Jahren zurückzuführen. Bei unilateraler Abrüstung geht es um bewusst einseitig durchgeführte und selbstverpflichtende Abrüstungsschritte. Damit wird in der Regel auch die Erwartung verbunden, dass andere Staaten nachziehen, und damit ein multinationaler Abrüstungsprozess angestoßen werden kann. Anstelle der in Rüstungskontroll-Verhandlungen gescheiterten „Kommunikation durch Worte“ soll eine „Kommunikation durch Taten“ einseitiger Abrüstungsschritte treten. (3) Dabei wird zwischen radikalem Unilateralismus und einem gradualistischen Ansatz unterschieden, der abgestufte einseitige und erwiderte Abrüstungsmaßnahmen vorsieht. Nicht nur die Großmächte sind angesprochen: Die einseitigen Schritte kleinerer Staaten sollen durchaus zu multilateraler Abrüstungsdynamik führen. In der europäischen Friedensbewegung hatte damals der Interkirchliche Friedensrat der Niederlande bei der Propagierung gradualistischer Ansätze eine maßgebliche Rolle gespielt. Diese letztere Strategie lag dem Aufruf zur Demonstration und Kundgebung vom 10.10.1981 in Bonn zugrunde.

Atomwaffenfreie Zonen
Die Forderung nach Entnuklearisierung Europas und damit verbunden nach Einrichtung atomwaffenfreier Zonen war ein Eckpfeiler im Forderungskatalog der Friedensbewegung der achtziger Jahre. Bereits in den siebziger Jahren hatten die Vereinten Nationen Vorschläge für atomwaffenfreie Zonen entwickelt. Sie sollten ganze Ländergruppen umfassen. Vorbilder waren etwa der Rapacki-Plan von 1957, der vorsah, auf die Lagerung von Atomwaffen in den beiden deutschen Staaten und Polen zu verzichten. Vorbild waren auch bereits existierende Verträge wie der Antarktis-Vertrag (1959) oder der Vertrag von Tlatelolco (1967), der Lateinamerika zur atomwaffenfreien Zone erklärte. Aber auch Städte, Stadtviertel, Straßenzüge oder nur einzelne Gebäude wurden von Aktionsgruppen symbolisch zu atomwaffenfreien Zonen erklärt. In Umfragen sprach sich damals in Deutschland und anderen Ländern eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für ein „Einfrieren“ der atomaren Rüstung aus (in den USA seit 1979 die „Freeze“-Bewegung).

Die „Bertrand Russell Peace Foundation“ sah im April 1980 konzeptionell die Schaffung eines atomwaffenfreien Raumes von Polen bis Portugal vor. Langfristig ging es darum, „Europa aus der Konfrontation zu lösen, Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion durchzusetzen und schließlich die großen Blöcke aufzulösen“. (4) Die Forderung nach einseitiger Verwirklichung der Atomwaffenfreiheit bedeutete einen radikalen Abschied von den alten Vorstellungen militärischen Gleichgewichts. In der DDR forderte der „Berliner Appell“ von Rainer Eppelmann im Januar 1982 den Abzug aller Atomwaffen aus der DDR, der Bundesrepublik und Mitteleuropa. Stefan Heym und Robert Havemann unterstützten den Aufruf und forderten öffentlich eine autonome Friedensbewegung in der DDR.

Militärische Defensiv-Konzepte
Theodor Eberts Arbeiten zu gewaltfreier (Sozialer) Verteidigung und Horst Afheldts zu Defensiv-Konzepten haben großen Einfluss auf die Forderungen der Friedensbewegung gehabt. Militärische Defensiv-Konzepte werden von drei grundlegenden Prinzipien für Art und Umfang militärischer Potenziale getragen: Erstens dem der Nicht-Bedrohung, indem sie von Ausrüstung und Bewaffnung, von Struktur, Organisation, Logistik und Doktrin unfähig zu raumgreifenden offensiven Aktionen sind. Zweitens sollen sie zur Abhaltung bzw. Abwehr eines potenziellen Angreifers effektiv genug sein. Drittens soll im Falle des Versagens von Abhaltung oder Abwehr eines Angriffs das Prinzip der Schadensminderung gelten, wonach nicht zerstört werden darf, was verteidigt werden soll. In der Diskussion alternativer Überlegungen hat das Wort-Ungetüm „Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“, in deren Konzeption diese drei Prinzipien  unterschiedlich aufeinander bezogen wurden, eine zentrale Rolle gespielt. Von Dieter S. Lutz und anderen weiter ausgearbeitet, hat es auch innerhalb der SPD bei den Thinktanks um Egon Bahr Resonanz gefunden.

Es ist problematisch, die drei Prinzipien der militärischen Defensive widerspruchsfrei kompatibel zu machen. Für die Friedensbewegung war der Verzicht auf Nuklearwaffen bei Defensiv-Konzepten wegen der Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Nicht-Bedrohung jedenfalls essenziell. Abschreckung sollte durch Abhaltung als Kriegsverhütungsprinzip ersetzt werden.

Die Defensivkonzepte als Ansatz für Deeskalation und Abrüstung waren durchaus realpolitische Vorstellungen alternativer Sicherheit; daneben standen auch strikt pazifistische Vorschläge sogenannter Sozialer Verteidigung, aus denen der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) hervorgegangen ist. Er wurde 1989 unter Beteiligung von Persönlichkeiten der Friedensbewegung wie Petra Kelly und Theodor Ebert und Organisationen wie dem Versöhnungsbund, Pax Christi und „Ohne Rüstung Leben“ gegründet. Die Kampagne "Bundesrepublik ohne Armee" Ende der 80er Jahre kennzeichnet treffend den Ansatz des BSV. Das auf Abrüstung und Konversion zielende Motto der unabhängigen, vor allem von kirchlichen Gruppen getragenen DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde von der westdeutschen Friedensbewegung aufgegriffen, als im Mai 1983 Petra Kelly, Gert Bastian und weitere Bundestagsabgeordnete der Grünen in Berlin-Ost ein Transparent mit der Aufschrift „Die Grünen - Schwerter zu Pflugscharen“ entrollten.

Gewaltfreier Widerstand
Nach dem Beschluss des Bundestages über die Stationierung von US-Pershing-Raketen und Cruise Missiles im November 1983 hatte sich der Protest der Friedensbewegung stärker in Richtung gewaltfreien Widerstands, insbesondere durch Blockade-Aktionen vor US-Atomwaffenstützpunkten, entwickelt. Das Engagement bedeutender Intellektueller – als Ikonen festgehalten in den berühmten Fotos von Barbara Klemm, die Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer und andere bei Sitzblockaden vor US-Atomwaffenlagern zeigen – hat dazu beigetragen, einer breiten Öffentlichkeit mit der Kampagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“ die Aktionsform und Bedeutung zivilen Ungehorsams nahezubringen. Frieden kann nur mit angemessenen Mitteln erreicht werden – der Gewaltfreiheit. Das war die Botschaft.

Die Kriminalisierung dieses Widerstandes und der Versuch, das Strafrecht in Hunderten von Fällen in Stellung zu bringen, hat letztlich zur Popularisierung der Motive der Angeklagten und am Ende in den meisten Fällen zur Straffreiheit geführt. Die Tatsache, dass im Rahmen der Entspannungspolitik Gorbatschows 1987 der sog. INF-Vertrag den Abbau und die Vernichtung einer ganzen Gattung atomarer Raketen der Reichweite zwischen 500 und 5.500 km durchsetzte, hat den zivilen Ungehorsam der Blockierer zusätzlich legitimiert.

Gemeinsame Sicherheit
Es war die mit PolitikerInnen und Fachleuten aus Ost und West, Nord und Süd zusammengesetzte sog. Palme-Kommission, die 1980 die lebensbedrohliche Problematik der Abschreckungsdoktrin analysiert und ihre Schlussfolgerungen im Alternativ-Konzept „gemeinsamer Sicherheit“ vorgestellt hat (5). Sicherheit ist demnach nicht mehr vor dem potenziellen Gegener, sondern nur noch mit ihm – eben als gemeinsame Sicherheit – im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung zu erreichen. Die Friedensbewegung sah allerdings keine Notwendigkeit, das Konzept gemeinsamer Sicherheit nur im Rahmen des Blocksystems mit den großen Führungsmächten USA und Sowjetunion zu entwickeln. Teile der Friedensbewegung traten für die Überwindung der Blockkonfrontation mit Auflösung der Blöcke und einem „blockfreien“ Dritten Weg Europas unabhängig von den Supermächten USA und UDSSR ein.

Die mit dem Ende der Sowjetunion erfolgte Auflösung des Blocksystems hatte Hoffnungen auf die sog. Friedensdividende ausgelöst. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über Auslandseinsätze der Bundeswehr am 12. Juli 1994 war in dieser Hinsicht ernüchternd. Dabei spielte die „gemeinsame Sicherheit“ eine besondere Rolle. In Verkennung der fundamentalen Differenz zwischen einerseits einem Bündnis wie der NATO mit atomarer Abschreckung und andererseits einem kollektiven Sicherheitssystem, das vom Denken „gemeinsamer Sicherheit“ der potenziellen Konfliktparteien ausgeht, hat das Bundesverfassungsgericht eine verhängnisvolle Umdeutung des Art. 24 Abs. 2 GG in seinem Urteil zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr vorgenommen. Es hat die NATO zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG erklärt. (6) Dieses Urteil hat schließlich die Tür zu weltweiten Bundeswehreinsätzen geöffnet, und zu einer völligen Entgrenzung des Verteidigungsbegriffes des Grundgesetzes geführt.

Die Humanistische Union zeichnete mit der Verleihung ihres Fritz-Bauer-Preises die UnterstützerInnen des Aufrufs zur Verweigerung  beim Kosovo-Krieg 1999 aus; Mani Stenner zählte zu den PreisträgerInnen. Er hatte mit seinem Protest gegen den Kosovo-Krieg frühzeitig den Prozess des Abrückens Deutschlands von grundlegenden Prinzipien der Friedensstaatlichkeit erkannt. 

Unabhängig von der Frage, ob und ggf. wie erfolgreich die deutsche Friedensbewegung in den 80er Jahren war, bleibt festzuhalten: Sie hatte mit ihren Forderungen und Aktionsformen weitreichende Wirkungen auf die politische Kultur. (7) Mit dem Thema Frieden konnten sich weite Teile der Bevölkerung identifizieren, tiefe Skepsis gegenüber atomarer Bewaffnung und weitgehendes Verständnis für zivilen Ungehorsam in Fragen von Krieg und Frieden bestimmten fortan die mehrheitliche Haltung der deutschen Bevölkerung. In den 1980er Jahren waren zudem Strukturen geschaffen worden, die sich in den zahlreichen Protesten gegen die Kriege im Golf, Kosovo, Afghanistan und Irak als tragfähig erwiesen, wie beispielsweise die Kooperation für den Frieden oder auch der Friedensratschlag.

 

Anmerkungen
1 Der Spiegel 21/1985

2 Ulrich Frey: Von der „Komplementarität“ zum „gerechten Frieden“. Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik, in: Wissenschaft & Frieden, 4/ 2006

3 Völker Böge, Peter Wilke: Sicherheitspolitische Alternativen: Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Diskussion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 29/ 1984, S. 1485 ff.

4 a.a.O.

5 Der Palme-Bericht, Hrsg. von O. Palme/H. Rogge, Berlin 1982

6 Art. 24 Abs. 2 GG lautet: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen.“ Bei dieser Formulierung stand den Vätern und Müttern des Grundgestzes ein Konzept „gemeinsamer Sicherheit“ vor Augen, wie den Protokollen des Parlamentarischen Rates zu entnehmen ist. Vgl. Deiseroth, vorgänge 189, S. 112)

7 Christine Schweitzer u. Jörgen Johansen: Kriege verhindern oder stoppen. Der Beitrag von Friedensbewegungen. Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung,  Juli 2014, S. 48.

Ausgabe

Themen