Vereinigtes Königreich

Blick auf den Brexit mit der Brille des Friedens

von Milan Rai
Schwerpunkt
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Seit dem Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union im Juni 2016 ist die Mitgliedschaft in der EU für viele Menschen in Großbritannien zu einem übergeordneten Thema geworden, für das sie sich leidenschaftlich interessieren. Großbritannien hat derzeit die größte Pro-EU-Bewegung in der EU – gerade, als das Land im Begriff ist, zu gehen.

„Leaver“ und „Remainer“ sind zu starken politischen Identitäten geworden, die wichtiger sind als die Identifikation mit Parteien. In einer Umfrage vom April 2019 gaben 72% der Menschen in Großbritannien an, dass sie sich "sehr" oder "ziemlich" stark als "Remainer“ oder „Leaver“ einstufen würden. Nur 45% identifizierten sich "sehr" oder "ziemlich" stark mit einer der wichtigsten politischen Parteien.

Für gewaltfreie Revolutionäre ist diese politische Kluft ein Hindernis für einen radikalen sozialen Wandel. Der Leaver-Remainer-Kampf ist eine Ablenkung von der Lösung der grundlegenden Probleme der Gesellschaft. Insgesamt erschwert der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union („Brexit“) den sozialen Fortschritt, auch, was das Thema „Frieden“ angeht.

Folge dem Geld
Aus Sicht der Zeitschrift „Peace News“ scheint der Brexit keinen direkten Einfluss auf die Kernanliegen der britischen Friedensbewegung zu haben: Krieg, Atomwaffen und Waffenhandel.

Es ist möglich, dass die größten Auswirkungen auf Militär- und Sicherheitsfragen in Großbritannien auf die Schäden zurückzuführen sind, die der Brexit der britischen Wirtschaft voraussichtlich zufügen wird.

Wenn die britische Wirtschaft wie prognostiziert schrumpft, müssen die öffentlichen Ausgaben gesenkt werden. Dies wird das Militärbudget unter Druck setzen.

Die Militärausgaben wurden soeben das dritte Jahr in Folge real erhöht, wodurch ein für den Zeitraum 2018–2028 prognostizierter Fehlbetrag von 7 Mrd. Britischer Pfund ausgeglichen wurde.

Angesichts der Tatsache, dass sich sowohl die Konservativen als auch die Labour Party, die beiden Hauptparteien, gerade zu massiven Ausgaben für das nationale Gesundheitswesen und andere nichtmilitärische Budgets verpflichtet haben, wird die nächste Regierung vor schwierigen Entscheidungen stehen, wenn der Brexit die Staatseinnahmen reduziert.

Rassismus
Ein weiterer wichtiger indirekter Effekt ergibt sich aus der Art und Weise, in der die Leave-Kampagne vor dem Brexit-Referendum Argumente gegen die Einwanderung vorbrachte. Als die pro-Brexit-Seite das Referendum gewann, wurde dies von einigen Weißen als Bestätigung ihrer rassistischen Einstellungen und ihrer Islamfeindlichkeit empfunden.

Umfragen im Januar 2016 und Februar 2019 ergaben, dass Rassismus nach dem Brexit auf den britischen Straßen viel stärker zum Ausdruck kommt. Der Anteil der People of Colour, die angaben, von einem Unbekannten rassistisch angegriffen worden zu sein, stieg von 64% auf 76%.

Omar Khan, Vorstandsvorsitzender des Runnymede Trust, eines Think-Tanks für Rassengleichheit, sagte dem Guardian: "Das EU-Referendum hat die Erfahrungen von Rassismus unter ethnischen Minderheiten in Großbritannien sowohl enthüllt, als auch verstärkt."

Das für Polizei und Einwanderung zuständige Innenministerium berichtete 2018, dass sich Hassverbrechen (meist rassistisch, aber auch aufgrund von Religion und anderen Faktoren) innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt haben. Nach bestimmten Ereignissen wie dem EU-Referendum und den Terroranschlägen im Jahr 2017 habe es „einen Anstieg der Hasskriminalität gegeben“.

Rassismus und Islamfeindlichkeit unterstützen Militarismus und Kriegsführung. Sie erleichtern militärische Angriffe auf Menschen im globalen Süden, die als weniger menschlich gelten.

Es ist möglich, dass das nachhaltigste Erbe des Brexit in Bezug auf Militär- und Sicherheitspolitik die Art und Weise ist, wie es die weiße Vormachtstellung und den Hass gegen MuslimInnen in der etablierten britischen Kultur verstärkt hat.

Nordirland
Viele Monate lang schien es ein echtes Risiko zu geben, dass Großbritannien ohne einen ausgehandelten Trennungsvertrag aus der EU ausbricht. Dies hätte auf der Insel Irland eine harte Grenze zwischen der Republik Irland (einem EU-Mitglied) und Nordirland (einem Teil des Vereinigten Königreichs und daher außerhalb der EU) geschaffen.

Eine "harte Grenze" bedeutet eine physische Zollinfrastruktur zur Kontrolle von Waren und Personenverkehr. Diese Gebäude und / oder CCTV-Kameras müssten sich an oder in der Nähe der Grenze zwischen der Republik und dem Norden befinden.

Jegliche physischen Anzeichen einer Grenze, die die Insel Irland trennt, würden Angriffe bewaffneter republikanischer Gruppen einladen, die für ein vereinigtes Irland kämpfen. TechnikerInnen, die zur Reparatur beschädigter Ausrüstung geschickt würden, und PolizeibeamtInnen, die zum Schutz der TechnikerInnen geschickt wurden, könnten ebenfalls Ziele von Angriffen werden.

Es ist leicht einzuschätzen, wie schon CCTV-Kameras an der Grenze eine Spirale der Gewalt und Unterdrückung auslösen können, die den irischen Friedensprozess aufhebt und uns zurück in den Krieg treibt.

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint eine harte Grenze unwahrscheinlich, da die konservative Regierung einen komplizierten Trennungsvertrag mit der EU ausgehandelt hat, der die Notwendigkeit von Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland vermeidet.

Die Frage von Frieden und Krieg in Irland hat für die britische Friedensbewegung seit vielen Jahrzehnten keine Priorität mehr. Doch sie sollte sie in Zeiten wie diesen haben.

Krieg
Um zu anderen Themen zu kommen: Großbritannien wird weiterhin eine der kriegerischsten Industrienationen der Welt sein, egal ob innerhalb oder außerhalb der EU.

Der US-Analyst Noam Chomsky warnte im Mai 2016, dass der Brexit Großbritannien wahrscheinlich "in eine noch stärkere Abhängigkeit von den USA bringen wird".

Diese größere Abhängigkeit könnte bedeuten, dass Großbritannien noch eher bereit sein wird, sich an von den USA geführten Angriffen auf Länder im globalen Süden zu beteiligen.

Dreizack
In Bezug auf Massenvernichtungswaffen ist die Mitgliedschaft in der EU für den Besitz von Atomwaffen in Großbritannien und für die britische Nuklearpolitik unerheblich.

Es gibt einen Weg, auf dem der Brexit indirekt zur britischen nuklearen Abrüstung führen könnte - indem die Voraussetzungen für die Unabhängigkeit Schottlands geschaffen werden.

Als Nation stimmte Schottland im Juni 2016 mit 62% gegen 38% für einen Verbleib in der EU. Das Vereinigte Königreich stimmte insgesamt für einen Austritt aus der EU mit 52%; 48% waren dagegen. Der Brexit ist ein schlagkräftiges Argument für Schottland, seinen eigenen Weg zu gehen und der EU beizutreten (oder in ihr zu bleiben).

Die britischen Trident-U-Boote, die Großbritanniens einziges Atomwaffensystem, die ballistische Rakete Trident II D-5, tragen, haben nur eine Basis: Faslane, nordwestlich von Glasgow.

Die schottische Regierungspartei, die Scottish Nationalist Party (SNP), ist seit langem bestrebt, die Trident-Basis in Faslane zu aufzulösen, falls Schottland unabhängig wird.

In diesem Fall müsste die britische Regierung eine alternative Trident-Basis in England oder Wales einrichten (zusammen mit einem separaten Lager für nukleare Sprengköpfe). Dies würde mindestens 10 Jahre dauern und vielleicht 3 Mrd. GBP kosten.
Der schottische CND glaubt, dass die SNP ihre Versprechen einhalten würde. Ich bin skeptisch.

Faslane ist ein kritischer Punkt bei Verhandlungen, und ein unabhängiges Schottland müsste bei den Verhandlungen über seinen Abzug aus Großbritannien alle Hebel einsetzen, die es zur Verfügung hat.
In der schottischen Referendumskampagne 2014 kündigte die SNP an, dass die Trident nach der Unabhängigkeit vier Jahre lang in Faslane bleiben dürften. Diese Frist könnte leicht verlängert werden - vielleicht auf unbestimmte Zeit, vielleicht bis eine alternative Basis und ein weiteres Gefechtskopf-Lager in Wales oder England errichtet wurden.

Es ist möglich, dass der Brexit allein zur nuklearen Abrüstung in Großbritannien führen könnte, aber ich halte das für unwahrscheinlich.

Der Waffenhandel
Der Brexit wird den Handel mit der EU beeinträchtigen. Daher muss das Vereinigte Königreich seinen Nicht-EU-Handel ausweiten.

Die Kampagne gegen den Waffenhandel in Großbritannien schrieb vor einiger Zeit, dass die Regierung bei der Suche nach Handelsabkommen nach dem Brexit „einen unerwünschten Schwerpunkt auf den Verkauf von Waffen an einige der am stärksten repressiven Regime der Welt gelegt hat".

Dies ist jedoch eher eine Erweiterung der bereits bestehenden Politik,  Waffenkäufer zu beliefern und Waffenverkäufe zu nutzen, um Geld für den Kauf von Öl aus Ländern des Nahen Ostens zurückzugewinnen.
Der Brexit kann, was den Militarismus betrifft, eigentlich nur mehr vom Gleichen bedeuten.

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Milan Rai ist seit 2007 Herausgeber der Zeitschrift Peace News und Autor mehrerer Bücher, darunter Chomskys Politik (Verso, 1995). Übersetzung: Christine Schweitzer.