Ein Verbrechen, das nicht kleiner wird

Das Massaker der deutschen Wehrmacht in Kragujevac

von Christoph Baumgarten
Hintergrund
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Neuere Forschungen rücken das Massaker der Wehrmacht in der serbischen Stadt Kragujevac im Jahr 1941 zurecht. Dass die Zahl der Opfer deutlich kleiner ist als jahrzehntelang angenommen, ändert weder etwas an der Dimension noch an der Grausamkeit des Kriegsverbrechens.

Das Gymnasium im Zentrum von Kragujevac ist zum Symbol für die grausame Besatzungspolitik der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in Serbien geworden. Am 20. Oktober 1941 holten Soldaten der 717. Infanteriedivision und der 704. Reservedivision und ihre serbischen Kollaborateure vom Serbischen Freiwilligencorps der Marionettenregierung von Milan Nedić 300 Schüler und einige Lehrer aus ihren Klassen, und brachten sie zu einem Sammelplatz. Der Jüngste war elf Jahre alt. Einer der Entführten war Schuldirektor Lazar Pantelić. Gemeinsam mit insgesamt 10.000 Männern, praktisch der gesamten männlichen Bevölkerung der Stadt, und einigen Frauen mussten sie warten, was die deutschen Besatzer mit ihnen machen würden.

Bis zum nächsten Morgen selektieren deutsche Soldaten und örtliche Kollaborateure etwa 2.800 Männer und 16 Frauen zur Erschießung aus, und brachten sie auf Felder und in Obstgärten in der Umgebung. Schuldirektor Lazar Pantelić stand in der Gruppe, die verschont werden sollte.

Unter denen, die sie zur Erschießung brachten, erkannte er mehrere seiner Schüler. „Wohin bringt ihr sie?“ fragte er einen deutschen Offizier. „Ich bin ihr Schuldirektor. Lasst sie gehen, nehmt stattdessen mich.“ „Das geht nicht“, sagte der Wehrmachtsoffizier. Pantelić sei wegen seiner beruflichen Stellung unabkömmlich. „Dann ist mein Platz nicht hier“, entgegnete der Direktor, und meinte die Gruppe der Verschonten. „Mein Platz ist bei meinen Schülern.“ Pantelić wurde sein Wunsch erfüllt. Er ging mit seinen Schülern in den Tod. Der Massenmord dauerte an die sieben Stunden.

Jahrzehntelang ging man von 7.000 Opfern aus
Etwa 200 der Selektierten wurden verschont. Sie mussten die Ermordeten in den nächsten Tagen begraben. Allein in Kragujevac dürften etwa 2.800 Männer und 16 Frauen erschossen worden sein – deutlich mehr als die vorgesehenen 2.300. Ermordet wurden fast alle männlichen Juden der Stadt, bekannte Kommunistinnen und Kommunisten und Menschen, die mit dem Widerstand sympathisierten. Überproportional unter den Opfern vertreten waren Roma. Sie waren vorwiegend von den serbischen Kollaborateuren selektiert worden.

Die genaue Anzahl der Opfer ist nicht geklärt. Jahrzehntelang wurde sie mit 7.000 angegeben. Diese Zahl stammt aus einer Zeugenaussage aus einem der Nürnberger Folgeprozesse gegen General Franz Böhme. Der gebürtige Steirer war als Bevollmächtigter Kommandierender General hauptverantwortlich für die Massaker an der serbischen Zivilbevölkerung.

Nach jüngeren historischen Forschungen ist diese Zahl falsch. Seriösere Schätzungen gehen von 2.300 bis 2.800 Opfern aus. Parallel zum Massaker von Kragujevac ermordeten Soldaten der Wehrmacht in den Dörfern der Umgebung und in der Stadt Kraljevo mehr als 1.000 Zivilist*innen. Der so genannten Vergeltungsaktion fielen mehr als 4.400 Menschen zum Opfer.

Die zynische Logik der „Vergeltungsmaßnahmen“ scheiterte
Das Kriegsverbrechen war eine Terrormaßnahme, mit der Wehrmacht und NS-Führung den aufkeimenden Widerstand im ehemaligen Jugoslawien unterdrücken wollten. Zwei Wochen davor hatten Partisanen und Četniks in einer der sehr seltenen gemeinsamen Aktionen eine Wehrmachtspatrouille im nahegelegenen Gorni Milanovac überfallen. Sie töteten zehn deutsche Soldaten und verwundeten 16. Am 15. Oktober befahl Wilhelm Keitel mit ausdrücklicher Genehmigung Adolf Hitlers, zur Vergeltung Geiseln zu erschießen. In weiten Teilen des zerschlagenen Jugoslawiens tobte zu diesem Zeitpunkt ein Volksaufstand gegen die Besatzer, zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend koordiniert von Titos Partisanen. Auslöser war unter anderem der Völkermord der kroatischen Ustaša an den Serben in Kroatien und Bosnien.

Der Aufstand überraschte die Deutschen. In den besetzten Gebieten stand eine Handvoll von Wehrmachtseinheiten, meist Reserveeinheiten, bestehend aus älteren Deutschen und Österreichern. Keine der Einheiten war für Partisanenbekämpfung ausgebildet. Wehrmachts- und NS-Führung befürchteten, dass sich der Aufstand ausweiten würde. Es müsse „damit gerechnet werden, dass nationalistische und andere Kreise diese Gelegenheit ausnutzen, um durch Anschluss an den kommunistischen Aufruhr Schwierigkeiten für die deutsche Besatzungsmacht hervorrufen“. (Fehler im Original.) So heißt es wörtlich im Geiselerschießungsbefehl Keitels. Gemeint waren vor allem die Četniks von Draža Mihailović. Die freilich begannen kaum zwei Wochen später ihren eigenen Krieg gegen Titos Partisanen, den sie häufig genug gemeinsam mit den Deutschen führten.

Die Terrorstrategie der Wehrmacht ging nicht auf. Die Massaker trieben den Partisanen zehntausende Freiwillige zu – etwa zehn Prozent waren übrigens Frauen. Zudem vergrößerten sie den zivilen Widerstand, dem sich bis Kriegsende mehr als zwei Millionen Menschen anschlossen. Vor einer solchen Entwicklung war auch innerhalb der Wehrmacht gewarnt worden. Dennoch ermordeten deutsche Soldaten in den Jahren 1941 und 1942 mehr als 80.000 Serbinnen und Serben in so genannten Vergeltungsmaßnahmen. Erst danach ließ die Wehrmachtsführung das Morden einstellen, um den Widerstand nicht noch weiter anzufachen. Aus Sicht der zynischen und grausamen Politik zu spät. Jugoslawien wurde neben Griechenland das einzige Land, das sich weitgehend selbst von der NS-Tyrannei befreite.

Christoph Baumgarten ist Journalist betreibt den Blog balkanstories.net, den größten deutschsprachigen Blog über den Balkan.

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